Es ist zwei Jahre her, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Titel „Außen- und Sicherheitspolitik in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“ ihre Position zu Russland skizzierte. Es gebe zahlreiche wichtige Gründe, gute Beziehungen mit Russland anzustreben, betonte die Kanzlerin. Und weiter: Sie setze sich seit Beginn ihrer Kanzlerschaft für einen kritisch-konstruktiven Dialog und ein friedliches Miteinander ein. Nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts seien Grundlage der internationalen Beziehungen. Die Schlussakte von Helsinki und die Europäische Menschenrechtskonvention gehörten laut Merkel zum Selbstverständlichen der auswärtigen Beziehungen Deutschlands. Russland habe diese Werte und Regeln wiederholt verletzt und in seiner unmittelbaren Nachbarschaft „einen Gürtel ungelöster Konflikte“ geschaffen sowie die ukrainische Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektiert.
Merkel skizziert weiter, dass es auch bereits hybride Angriffe auf die westlichen Demokratien, darunter Deutschland, gegeben habe. Warum Merkel trotz dieser ambivalenten Analyse der Beziehungen zu Russland die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Rohstoffen bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft weiter vorangetrieben hat, dafür bleibt sie bis heute jede Erklärung schuldig. Ihre Analyse vor der Konrad-Adenauer-Stiftung entlarvt die Widersprüchlichkeit ihrer Politik: Einerseits das Eingeständnis von Angriffen auf Deutschland, andererseits der Wille, den kritisch-konstruktiven Dialog fortzusetzen zu wollen. Das steht im Gegensatz zu den Werten, zu denen sich Merkel in ihren Ausführungen selbst bekannt hat.
Die Folgen dieser Ambivalenz: Ihre Politik gegenüber Russland war durch falsche Rücksichtnahme, fehlenden Druck und mangelnde Konsequenz geprägt. Ja, Nachsicht trifft es vielleicht am besten. Merkels Politik hat dazu beigetragen, dass Russland Gas als Waffe einsetzen konnte, so wie bereits 2006 in der Ukraine, als Russland die Gaslieferungen an das Land stoppte. Was waren denn eigentlich die roten Linien der Politik Merkels gegenüber Russland? Die Werte, zu denen sich Merkel bekennt, hat sie durch ihre Politik geschwächt.
Der Kriegsforscher Lawrence Freedman, emeritierter Professor des King’s College in London, hat nach einer Analyse von Wladimir Putins Rede zum 9. Mai eine Theorie zum Fortgang des Kriegs in der Ukraine vorgestellt. Er hält es für wahrscheinlich, dass die zweite russische Offensive in der Ostukraine genauso endet, wie die erste. Schon bald könnte ersichtlich werden, dass Russland den Krieg nicht gewinnen kann. Dann werde darüber diskutiert, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir sind also an einem Punkt angekommen, an dem es dringend notwendig wäre, die Kommunikation mit Russland wieder aufzunehmen. Und es wäre naheliegend, dass Angela Merkel ihre Gesprächskanäle nach Russland nutzt – auch um Verantwortung für die Ambivalenz ihres politischen Handelns und für den gescheiterten moralischen Imperialismus der vergangenen Jahre zu übernehmen. Merkel hatte einen guten Draht zu Putin. Sie spricht fließend Russisch. Als Altkanzlerin hätte sie die Pflicht, sich als Vermittlerin zu engagieren. Die Idee ist nicht neu – in den USA hat die Entsendung von Ex-Präsidenten in schwierige internationale Verhandlungen eine lange Tradition. Möglicherweise könnte Merkel entscheidend dazu beitragen, Brücken zu bauen.
Es wäre für Merkel die große Chance, Fehler aus der Vergangenheit wieder geradezurücken. Durch den schleppenden Ausbau der erneuerbaren Energien und den hastigen Ausstieg aus der Atomenergie hat Merkel die Abhängigkeit von Russland vorangetrieben. Höchste Zeit, dass sie als Lobbyistin für Deutschland aus der Versenkung kommt. Es geht dabei auch um ihr politisches Erbe.
Prof. Dr. Thomas Bippes, Professor für Medien- und Kommunikationsmanagement an der SRH Fernhochschule – The Mobile Universität