Sie lesen einen Artikel über Intelligenz. Als Intelligenzforscher mit meinem in Bälde erscheinenden Buch «The Quest for a Universal Theory of Intelligence» (2022, De Gruyter) zu einer philosophischen, also begriffliche Klarheit verfolgenden Untersuchung von Intelligenz in Menschen, (anderen) Tieren, und (möglicherweise) Maschinen finde ich das natürlich grossartig; denn Intelligenz spielt in allen Situationen unseres Lebens eine zentrale Rolle.
Kaum einer von uns würde es sich wohl nicht zutrauen zu beurteilen, welche Fähigkeiten als intelligent einzustufen sind oder was intelligentes Handeln ausmacht. Gleichwohl hätten aber vermutlich nur wenige eine passende Antwort auf die Frage, was Intelligenz denn eigentlich wirklich sei. Wir betrachten es als selbstverständlich, dass etwa die Antwort «vier» auf die Frage «Was ist zwei mal zwei?» eine intelligentere Antwort ist als beispielsweise «zwei» oder «Zürich». Dennoch würden wir zögern, Intelligenz als die Fähigkeit festzuschreiben, richtige Antworten auf mathematische Rätsel oder Wissensfragen geben zu können. Faktenwissen und kognitive Leistungen wie Rechnen haben allem Anschein nach mit Intelligenz zu tun. Letztere lässt sich allerdings nicht auf logisch-mathematisches Denken oder blosses Reproduzieren von Gelerntem reduzieren.
Die akademischen Zünfte müssen sich das Gleiche eingestehen, es gibt noch immer keine einheitlich anerkannte Definition von Intelligenz. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch vor allem, dass sich vieles, was über Intelligenz geschrieben wird, als womöglich wenig intelligent bei näherem Hinsehen erweist. Drei Beispiele, womit wir Einblick ins Kabinett der Intelligenz-Mythen nehmen.
Exempel eins: Die wissenschaftliche Disziplin, die vermutlich zuvorderst Anspruch auf den Intelligenzbegriff erhebt, ist die Psychologie und Psychometrik, wo scheinbar erstaunlich hohes Einverständnis darüber herrscht, welche Eigenschaften auf das Konzept der Intelligenz zutreffen und welche nicht – man vergleiche zum Beispiel das kürzlich von Jakob Pietschnig erschiene und einem breiten Leserkreis offenstehende Buch «Intelligenz: Wie klug sind wir wirklich» (2021, Ecowin). Angesichts dessen, dass sich nahezu alle konkurrierenden Definitionen von Intelligenz in diesem Umfeld in einem Punkt einig sind, nämlich dass Intelligenz in erster Linie die Fähigkeit beinhaltet, sich an die Umwelt anzupassen, muss es doch verwundern, dass die Mehrheit von Psychologen und Psychometrikern «Intelligenz» schlicht als das begreifen, was Intelligenztests messen. Nicht nur ist unklar, wie letzteres mit adaptiver Intelligenz (mit Intelligenz im Sinne der Anpassung an die Umwelt) zusammengehen soll, sondern man kann darüber hinaus festhalten: Philosophen würden bei der Klärung von Begriffen klassischerweise den umgekehrten Weg gehen: erst einen Begriff definieren, dann operationalisieren. Der Grund, warum ein Philosoph jenen Ansatz der Mainstream-Psychologie (Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen) für seltsam halten muss, liegt auf der Hand: Man entwickelt Tests, um Intelligenz zu messen, wie auch immer sie definiert ist, und definiert dann «Intelligenz» zirkulär durch das, was die Tests messen. Vielleicht mögen Nicht-Philosophen über diese Spitzfindigkeit hinwegsehen, aber selbst dann wäre noch kritisch zu fragen: Warum ist die Fähigkeit, eine Aufgabe des kleinen Einmaleins zu lösen, ein besserer Indikator für «Intelligenz» als die Fähigkeit im Sinne adaptiver Intelligenz, Wege zu finden, eine weltweite Katastrophe (wie etwa durch nukleare Bedrohungen oder den Klimawandel) zu verhindern? IQ-Tests messen eine Reihe von miteinander verbundenen kognitiven und anderen Fähigkeiten. Die Verdinglichung dieser Fähigkeiten zu «Intelligenz» ist lediglich eine Behauptung, nicht mehr.
Exempel zwei: Anspruch auf «Intelligenz» wird jedoch nicht nur von Psychologen, sondern heutzutage auch selbstbewusst von der vergleichenden Kognitionsforschung und Tierforschern gestellt. Grundlage für diesen Anspruch stiften die mittlerweile zahlreichen und reichhaltigen Forschungsergebnisse zu den beeindruckenden Fähigkeiten von in ausgeklügelten Versuchsaufbauten getesteten sowie in freier Wildbahn beobachteten Tieren. Während in den frühen Tagen von Iwan Petrowitsch Pawlow oder Burrhus Frederic Skinner der Schwerpunkt auf Hunden oder Ratten lag und Teile des 20. Jahrhunderts von einem Schimpansenzentrismus geprägt waren, ist das Feld oder die Champions League der untersuchten intelligenten Tiere heute viel breiter und umfasst Wale, Kraken oder auch Rabenvögel. Dem interessierten Leser verleiht «Das rationale Tier: Eine kognitionsbiologische Spurensuche» von Ludwig Huber (2021, Suhrkamp) einen sehr guten Überblick. Was ist also auszusetzen? Wiewohl das Plädoyer für die Überwindung des Anthropozentrismus und für die Öffnung des Blickfelds zur Würdigung von sich graduell, aber nicht kategorial von uns auch hinsichtlich der Intelligenz unterscheidenden Tieren ein wichtiges ist, bleibt weiterhin eine begriffliche Konfusion zu konstatieren, die sich auch schon an Hubers Buchtitel festmachen lässt: Geht es in seinem Buch um den metaphysisch aufgeladenen Begriff der Rationalität oder wie in der Schwesterdisziplin der Psychologie um Intelligenz oder doch nur um eine Teilmenge davon mit Kognition?
Exempel drei: Apropos Rationalität respektive der Mangel davon, es existieren heute modische akademische Bewegungen wie Postmoderne oder Kritische Theorie (nicht zu verwechseln mit kritischem Denken), die behaupten, Vernunft, Wahrheit und Objektivität seien gesellschaftliche Konstruktionen, welche dazu dienen, die Privilegien dominanter Gruppen zu rechtfertigen. Diese Bewegungen umgibt eine gewisse Aura von Kultiviertheit, die suggeriert, dass westliche Philosophie und Wissenschaft provinziell, obsolet und naiv gegenüber den diversen Arten des Wissens seien, denen man in den verschiedenen Epochen und Kulturen begegnet. In diese Rubrik fällt für mich das dritte Beispiel mit Melanie Challengers «Wir Tiere: Eine neue Geschichte der Menschheit» (2021, btb, aus dem Englischen von Jürgen Neubauer). Im Unterschied zu den beiden Beispielen zuvor ist hier kein Naturwissenschaftler, sondern eine Geisteswissenschaftlerin am Werk, wofür sich auch ein renommierter britischer Philosoph, John Gray, mit dem Prädikat «lesenswert» ausgesprochen hat, sodass unsere noch unerfüllte Hoffnung auf begriffliche Klärung vielleicht durch Challenger bedient werden könnte. Leider platzt diese Hoffnung nach wenigen Seiten schon. Statt Klarheit zu stiften, paaren sich eher Unkenntnis mit einem Widerwille zum Erkenntnisgewinn in ihrem Buch. Eine Kostprobe für ersteres: «[d]er Mensch wiederum hat etwa doppelt so viele Hirnzellen wie sein nächster Verwandter, der Gorilla» (Seite 135); hören wir nicht der Literaturwissenschaftlerin Challenger, sondern den naturwissenschaftlichen Experten zu, so lernen wir, dass nicht der Gorilla, sondern der Gemeine Schimpanse (Pan troglodytes) unser nächster Verwandte ist und dass die Differenz bei Hirnzellen zwischen Mensch und Gorilla nicht bei Faktor zwei, sondern bei Faktor vier liegt. Eine Kostprobe für letzteres: «Wir können uns jedoch nicht darauf einigen, was ‘Denken’, ‘Intelligenz’ oder ‘Bewusstsein’ ist, und wir wissen es auch gar nicht so genau.» (Seite 93). Das kann man als Befund vielleicht schon geben, aber sich sicher nicht darauf auf 320 Seiten ausruhen, zumal eine Vielzahl von Büchern zu diesen Themen mit positiven Ergebnissen und gestützten Hypothesen geschrieben wurden und ganze Bibliotheken füllen.
Die Lehren aus diesen drei Beispielen sind zumindest zweierlei: Erstens darf bei dem wichtigen, oft den Geisteswissenschaften oder speziell der Philosophie zugeschriebenen Unterfangen, mehr konzeptionelle Klarheit zu schaffen, die Kenntnis vom Untersuchungsgenstand nicht verloren gehen: «Intelligenz» ist kein Spielball für ambitionierte, schreibwillige, aber ignorante Unkundige, sondern wurde seit mehr als 100 Jahren auf naturwissenschaftlichem Terrain geprägt, was zumindest zu würdigen ist. Und zweitens wäre Hubers Appell für Pluralismus folgend eine neue umfassende, tiefgründige und allgemeine Theorie der Intelligenz wünschenswert, die es ermöglichen könnte, all die Forschungen in einem gemeinsamen begrifflichen Rahmen zusammenzuführen und füreinander fruchtbar zu machen. Vielleicht könnte man in diesem Kontext nicht bloss den Anthropozentrismus, sondern ebenso den Biozentrismus überwinden, sodass nicht nur Psychologie, Kognitionsforschung, Tierforschung, sondern ebenso Computerwissenschaft (wofür steht eigentlich das «I» in «KI»?) und andere in den Blick kämen und ihnen die verdiente Aufmerksamkeit zuteil würde.
Über den Autor
Dr. Christian Hugo Hoffmann ist Unternehmer, Forscher am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und wohnhaft am Zürichsee. Mehr Informationen unter: https://www.christian-hugo-hoffmann.com/