Er gilt als „Mozart der Theologie“. Und er war immer auch ein scharfsinniger Analytiker des Zeitgeschehens. Mit geradezu prophetischer Weitsicht hat Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft vorhergesehen. Texte, die vor Jahrzehnten erschienen sind, lesen sich, als seien sie heute verfasst. Vieles, was Ratzinger damals schrieb, ist inzwischen Wirklichkeit oder zeichnet sich gerade ab.
Ein Beispiel für die prophetische Kraft seines Denkens ist der Beitrag, den wir aus Anlass des 95. Geburtstages von Benedikt XVI. zum Download anbieten. Der Text aus dem Jahr 1969 geht auf einen Vortrag im „Hessischen Rundfunk“ zurück. Wir veröffentlichen ihn in leicht gekürzter Fassung. „Wie sieht Kirche im Jahr 2000 aus?“, lautete das Thema damals. Ratzingers Antworten bestechen durch ihre Aktualität.
Nach seiner Wahl zum Papst kommentierte die Zeitung „Die Tagespost“: Benedikt XVI. verkörpere jene intellektuelle Tiefenschärfe, die in der Oberflächlichkeit unserer Tage dringend gebraucht werde. Der folgende Beitrag belegt genau dies. Er zeigt einen Theologen, der seiner Zeit voraus ist, weil er dem Zeitgeist nicht hinterherläuft. Mehr noch: Er dokumentiert, dass Ratzinger inmitten all der dramatischen Verwerfungen und Zusammenbrüche, die er kommen sah, bereits das Neue und Tragende im Blick hat. Wer wissen will, wo das zu finden ist, kann es bei Ratzinger/Benedikt XVI. nachlesen, der heute seinen 95. Geburtstag hat und dem Sie HIER persönlich gratulieren können.
Joseph Ratzinger: „Wie sieht Kirche im Jahr 2000 aus?“
Der Theologe ist kein Wahrsager. Er ist auch kein Futurologe, der aus den berechenbaren Faktoren der Gegenwart ein Kalkül auf die Zukunft anstellt. Sein Metier entzieht sich weitgehend der Berechnung; nur zum geringsten Teil könnte es daher Gegenstand der Futuologie werden, die eben auch keine Wahrsagerei ist, sondern das Berechenbare feststellt und das Unberechenbare offenlassen muss. Da Glaube und Kirche in jene Tiefen des Menschen hinabreichen, aus denen immer wieder das Schöpferisch-Neue, Unerwartete und Ungeplante hervortritt, bleibt ihre Zukunft uns auch im Zeitalter der Futurologie verborgen. Wer hätte beim Tod Pius‘ XII. das Zweite Vaticanum oder gar die nachkonziliaren Entwicklungen vorhersagen mögen? Oder wer hätte das Erste Vaticanum vorherzusagen gewagt, als Pius VI., von den Truppen der jungen französischen Republik verschleppt, 1799 als Gefangener in Valence starb? Leichenreden auf das Papsttum wurden gehalten, das man für endgültig ausgelöscht halten musste.
„Vorsicht mit Prognosen. Noch immer gilt das Wort Augustins, der Mensch sei ein Abgrund“
Seien wir also vorsichtig mit Prognosen. Noch immer gilt das Wort Augustins, der Mensch sei ein Abgrund; was daraus aufsteigt, vermag niemand im Voraus zu überblicken. Und wer daran glaubt, dass die Kirche nicht nur durch den Abgrund Mensch bestimmt wird, sondern in den größeren, unendlichen Abgrund Gott hinabreicht, wird erst recht Grund haben, sich mit Vorankündigungen zurückzuhalten, deren naives Bescheidwissen-Wollen doch nur Kundgabe geschichtlicher Ahnungslosigkeit sein könnte. Aber hat dann unser Thema überhaupt einen Sinn? Es kann ihn haben, wenn man sich seiner Begrenzung bewusst bleibt. Gerade in Zeiten vehementer geschichtlicher Erschütterungen, in denen alles Bisherige zu zerrinnen und völlig Neues sich zu öffnen scheint, braucht der Mensch die Besinnung auf die Geschichte, die ihm den unwirklich vergrößerten Augenblick wieder auf die rechten Maße zurückführt, ihn wieder einordnet in ein Geschehen, das sich nie wiederholt, aber auch nie seine Einheit und seinen Zusammenhang verliert.
Warum es Besinnung auf die Geschichte braucht
Besinnung auf Geschichte, recht verstanden, umschließt beides: das Rückschauen ins Bisherige und von da aus die Besinnung auf die Möglichkeiten und auf die Aufgaben des Kommenden, die nur deutlich werden können, wenn man ein größeres Stück Weges überblickt und sich nicht naiv ins Heute verschließt. Auch der Rückblick gestattet keine Vorhersage der Zukunft, aber er beschränkt die Illusion des völlig Einmaligen und zeigt, dass es zwar nicht das Gleiche, wohl aber Vergleichbares auch früher gegeben hat. In dem, was ungleich ist zwischen damals und heute, gründet die Ungewissheit unserer Aussagen und das Neue unserer Aufgaben, in dem was gleich ist, die Möglichkeit der Orientierung und der Korrektur.
Was die Aufklärer von damals und heute verbindet
Unserer heutigen kirchlichen Situation am meisten vergleichbar ist zunächst die Periode des so genannten Modernismus um die Jahrhundertwende und dann das Ende des Rokoko, der definitive Aufbruch der Neuzeit mit Aufklärung und Französischer Revolution. Die Krise des Modernismus wurde nicht völlig ausgetragen, eher unterbrochen durch die Maßnahmen Pius‘ X. und durch die veränderte geistige Situation nach dem Ersten Weltkrieg; die Krise der Gegenwart ist nur die lang verschobene Wiederaufnahme des damals Begonnenen. So bleibt als Analogie die Kirchen- und Theologiegeschichte der Aufklärung. Wer näher zusieht, wird erstaunt sein über das Maß der Ähnlichkeit zwischen damals und heute. »Aufklärung« als geschichtliche Epoche hat zwar heute keinen guten Ruf; selbst wer sich entschieden auf die Spuren der Damaligen begibt, will doch nicht als Aufklärer gelten, sondern distanziert sich von dem, wie er meint, zu einfachen Rationalismus jener Zeit, sofern er sich überhaupt die Mühe nimmt, geschehene Geschichte zu erwähnen. Nun läge hier schon eine erste Analogie: die entschlossene Abwendung von der Geschichte, die nur noch als Rumpelkammer des Gestrigen gilt, das für ein völlig neues Heute nichts mehr nützen könne; die siegessichere Gewissheit, dass jetzt nicht mehr nach Tradition, sondern nur noch rational gehandelt werde, überhaupt die Rolle von Worten wie rational, durchschaubar und Ähnlichem, das alles ist damals und heute erstaunlich gleich. Aber vielleicht sollte man doch vor solchen in meinen Augen negativen Tatbeständen auf jene eigentümliche Mischung aus Einseitigkeiten und positiven Anläufen hinblicken, welche die Aufklärer von damals und heute verbindet und das Heute nicht mehr gar so sehr als das gänzlich Neue erscheinen lässt, das außerhalb aller geschichtlichen Vergleiche steht.
Wenn die Gartenschere der konstruierenden Vernunft am Werk ist
Die Aufklärung hatte ihre liturgische Bewegung, in der man sich um die Vereinfachung der Liturgie auf ihre ursprünglichen Grundstrukturen mühte, Exzesse des Reliquien- und Heiligenkults beseitigt werden sollten und vor allem die Muttersprache, besonders auch der Volksgesang und die Gemeindebeteiligung, in die Liturgie eingeführt wurden. Die Aufklärung hatte ihre episkopale Bewegung, die einem einseitigen Zentralismus Roms entgegen die Bedeutung der Bischöfe herausstellen wollte; sie hatte ihre demokratische Komponente, etwa wenn der Konstanzer Generalvikar Wessenberg demokratische Diözesan- und Provinzialsynoden forderte. Wer seine Werke liest, glaubt einem Progressisten des Jahres 1969 zu begegnen: Die Aufhebung des Zölibats wird verlangt, nur deutsche Sakramentenformeln geduldet, Mischehen unabhängig von der Kindererziehung eingesegnet usf. Dass Wessenberg sich um regelmäßige Predigt und um Hebung des Niveaus im Religionsunterricht gemüht hat, die Bibelbewegung förderte und vieles dergleichen mehr, zeigt nur noch einmal, dass bei jenen Männern keineswegs nur kümmerlicher Ra- tionalismus am Werk war. Dennoch bleibt der Eindruck seiner Gestalt zwiespältig, weil zu guter Letzt doch nur die Gartenschere der konstruierenden Vernunft am Werk ist, die manches Gute vermag, aber als einziges Gartengerät nicht ausreicht. Einen ähnlich zwie- spältigen Eindruck hinterlässt die Lektüre der Synode von Pistoia, ein von 234 Bischöfen besuchtes Konzil der Aufklärung, das 1786 in Oberitalien tagte und die Reformideen jener Zeit in kirchliche Wirklichkeit zu übersetzen versuchte, aber nicht zuletzt an der Vermi- schung von echter Reform und naivem Rationalismus scheiterte. Wieder glaubt man ein nachkonziliares Buch zu lesen, wenn man die These vorfindet, ein geistliches Amt sei nicht direkt von Christus gestiftet, sondern lediglich von der Kirche aus ihrem Schoß herausgesetzt, sie selbst sei als ganze unterschiedslos priesterlich, oder wenn man hört, eine Messfeier ohne Kommunion sei sinnlos, oder wenn der päpstliche Primat als rein funktional bezeichnet oder umgekehrt das göttliche Recht des Bischofsamts mit Nachdruck herausgestellt wird. Freilich schon 1794 wurde ein Großteil der Sätze von Pistoia durch Pius VI. verurteilt; die Einseitigkeit dieser Synode hatte auch ihre guten Ansätze diskreditiert.
Mit dem Fortschritt Schritt halten. Wohin führt das?
Für die Frage, wo Zukunftsträchtiges liegt und wo nicht, scheint mir am aufschlussreichs- ten eine Betrachtung der Personen und der darin sich darstellenden Konstellationen jener Epoche zu sein. Wir können selbstverständlich nur ein paar charakteristische Typen herausgreifen, in denen sich die Breite der damaligen Möglichkeiten und zugleich noch einmal die verblüffende Analogie zum Heutigen darstellt. Da gibt es den extremen Progressisten, dargestellt etwa an der traurigen Figur des Pariser Erzbischofs Gobel, der alle Schritte des Fortschritts seiner Zeit wacker mitging: zuerst zur konstitutionellen Nationalkirche; dann, als auch dies nicht mehr genügte, legte er feierlich den Priesterstand nieder mit der Erklärung, seit dem glücklichen Ausgang der Revolution bestehe für einen anderen Nationalkult als den der Freiheit und Gleichheit kein Bedürfnis mehr. Er beteiligte sich an der Verehrung der Göttin Vernunft in Notre-Dame, doch zuletzt ging der Fortschritt auch über ihn hinweg: Unter Robespierre galt Atheismus plötzlich wieder als Verbrechen, und so wurde der einstige Erzbischof als Atheist auf die Guillotine geführt und hingerichtet.
Wo die gängigen Kategorien von progresssiv und konservativ versagen
In Deutschland stellten sich die Dinge ruhiger dar: Hier wäre etwa der Direktor des Mün- chener Georgianums, Matthias Fingerlos, als klassischer Progressist zu erwähnen. In sei- nem Werk »Wozu sind Geistliche da?« erklärt er, der Priester solle vor allem Volkslehrer sein, das Volk über Ackerbau, Viehzucht, Obstbaumzucht, über Blitzableiter, aber auch über Musik und Kunst belehren – man würde heute sagen: der Priester solle vor allem Sozialhelfer sein. In der Mitte, gleichsam als gemäßigten Progressisten, könnte man die Figur des vorhin erwähnten Konstanzer Generalvikars Wessenberg ansiedeln, der eine simple Reduktion von Glaube auf Sozialarbeit keineswegs mitgemacht hätte, andererseits freilich doch allzu wenig Sinn für das Organische, für das Lebendige zeigte, das sich den bloßen Konstruktionen der Vernunft entzieht. Eine ganz andere Größenordnung wird sichtbar, wenn wir auf die Gestalt des nachmaligen Regensburger Bischofs Johann Michael Sailer stoßen. Es fällt schwer, ihn einzuordnen. Die gängigen Kategorien von Pro- gressismus und Konservatismus versagen vor ihm, wie schon sein äußerer Lebensweg zeigt: 1794 wurde ihm seine Dillinger Professur auf den Vorwurf der Aufklärerei hin ent- zogen; noch 1819 scheiterte seine Ernennung zum Augsburger Bischof unter anderem am Widerstand des später heiliggesprochenen Clemens Maria Hofbauer, der immer noch einen Aufklärer in Sailer sah. Auf der anderen Seite war schon 1806 sein Schüler Zimmer mit dem Vorwurf der Reaktion von der Universität Landshut entfernt worden, in der man Sailer und seinen Kreis als die eigentlichen Gegner der Aufklärung anfeindete: Derselbe Mann, den Hofbauer noch immer für einen Aufklärer hielt, wurde von deren wahren Trägern als ihr gefährlichster Gegenspieler durchschaut.
Auf der Suche nach einer Theologie des Herzens
Sie hatten recht. Von diesem Mann und von dem großen Kreis seiner Freunde und Schüler ging eine Bewegung aus, die weit mehr Zukunft in sich trug als die siegreich auftrumpfen- de Großspurigkeit der bloßen Aufklärer. Sailer war ein Mann, der sich offen allen Fragen seiner Zeit stellte; die verstaubte Jesuitenscholastik von Dillingen, in deren Systemgefüge längst die Wirklichkeit nicht mehr eindringen konnte, musste ihm daher ungenügend er- scheinen. Kant, Jacobi, Schelling, Pestalozzi sind seine Gesprächspartner: Glaube ist für ihn nicht an ein System von Sätzen gebunden und nicht durch Flucht ins Irrationale zu halten, sondern in offener Auseinandersetzung mit dem Heute zu bestehen. Aber der gleiche Sailer kannte die große theologische und mystische Tradition des Mittelalters in einer für seine Zeit ungewöhnlichen Tiefe, weil er den Menschen nicht auf den gerade jetzigen Augenblick beschränkte, sondern wusste, dass er selbst seiner nur innewird, wenn er sich ehrfürchtig und wach dem ganzen Reichtum seiner Geschichte öffnet. Und vor allem: die- ser Mann dachte nicht nur, er lebte. Wenn er auf der Suche war nach einer Theologie des Herzens, dann nicht einer billigen Sentimentalität wegen, sondern weil er um den ganzen Menschen wusste, der sich in der Durchdringung von Geist und Leib, von verborgenen Gründen des Gemüts und von schauender Helligkeit des Verstandes zur Einheit seines Wesens erfüllt. »Nur mit dem Herzen sieht man gut«, hat Antoine de Saint-Exupéry einmal gesagt: Wenn man die leblose Fortschrittlichkeit von Matthias Fingerlos mit dem Reich- tum und der Tiefe Sailers vergleicht, kann man mit Händen greifen, wie wahr das ist. Nur mit dem Herzen sieht man gut – Sailer war ein Sehender, weil er ein Herz hatte. Von ihm konnte etwas Neues, Zukunftsträchtiges ausgehen, weil er aus dem Immerwährenden lebte und weil er sein Leben, sich selbst, dafür zur Verfügung stellte. Und damit sind wir erst beim Eigentlichen: Nur wer sich selber gibt, schafft Zukunft. Wer bloß belehren will, wer nur andere verändern möchte, bleibt unfruchtbar.
Kleiner, weniger Glanz, aber mit neuer Kraft
So sind wir nun aber auch bei dem anderen Mann angelangt, der sowohl Sailers wie Wes- senbergs Gegenspieler war: bei Clemens Maria Hofbauer, dem böhmischen Bäckerjungen, der zum Heiligen wurde. Gewiss, dieser Mann war in mancher Hinsicht engherzig, ein wenig reaktionär sogar. Aber er war ein Liebender, der sich mit seiner ganzen unverbrauchten Leidenschaft für die Menschen zur Verfügung stellte. Auf der einen Seite gehörten Männer wie Schlegel, Brentano, Eichendorff zu seinem Kreis, auf der anderen Seite stand er für die Ärmsten und Verlassensten bedingungslos zur Verfügung. Und so vermochten die Menschen durch ihn hindurch wieder Gott zu entdecken, wie er von Gott her die Menschen entdeckt hatte und wusste, dass sie mehr brauchen als Unterricht in Obstbau und Tierzucht. Zu guter Letzt erwies sich der Glaube dieses armen Bäckerjungen als humanistischer und als vernünftiger gegenüber der akademischen Rationalität der bloßen Aufklärer. So war denn, was überlebte und was sich nach den Zusammenbrüchen des ausgehenden 18. Jahrhunderts als Zukunft neu gebar, ganz anders, als Gobel oder Fingerlos vermutet hatten: es war eine Kirche, die kleiner geworden war, die an gesell- schaftlichem Glanz verloren hatte, aber es war zugleich eine Kirche, die aus einer neuen Kraft der Innerlichkeit fruchtbar wurde und sowohl in den großen Laienbewegungen wie in den zahlreichen neuen Ordensgründungen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten, neue Kräfte für Bildung und Sozialwesen entband.
„Die Zukunft der Kirche kann und wird auch heute nur aus der Kraft derer kommen, die tiefe Wurzeln haben und aus der Fülle ihres Glaubens leben.“
Damit sind wir bei unserem Heute und bei dem Blick auf morgen angelangt. Die Zukunft der Kirche kann und wird auch heute nur aus der Kraft derer kommen, die tiefe Wurzeln haben und aus der reinen Fülle ihres Glaubens leben. Sie wird nicht von denen kommen, die nur Rezepte machen. Sie wird nicht von denen kommen, die nur dem jeweiligen Augenblick sich anpassen. Sie wird nicht von denen kommen, die nur andere kritisieren, aber sich selbst als unfehlbaren Maßstab annehmen. Sie wird also auch nicht von denen kommen, die nur den bequemeren Weg wählen. Die der Passion des Glaubens ausweichen und alles das für falsch und überholt, für Tyrannis und Gesetzlichkeit erklären, was den Menschen fordert, ihm wehe tut, ihn nötigt, sich selbst preiszugeben. Sagen wir es positiv: Die Zukunft der Kirche wird auch dieses Mal, wie immer, von den Heiligen neu geprägt werden. Von Menschen also, die mehr wahrnehmen als die Phrasen, die gerade modern sind. Von Menschen, die deshalb mehr sehen können als andere, weil ihr Leben weitere Räume umfasst. Selbstlosigkeit, die den Menschen frei macht, wird nur erreicht in der Geduld der täglichen kleinen Verzichte auf sich selbst. In dieser täglichen Passion, die den Menschen erst erfahren lässt, wie vielfach sein eigenes Ich ihn bindet, in dieser täglichen Passion und nur in ihr wird der Mensch Stück um Stück geöffnet. Er sieht nur so viel, so viel er gelebt und gelitten hat. Wenn wir heute Gott kaum noch wahrnehmen können, dann deshalb, weil es uns so leicht gemacht wird, vor uns selbst auszuweichen, vor der Tiefe unserer Existenz zu fliehen in die Betäubung irgendeiner Bequemlichkeit. So bleibt unser Tiefstes unerschlossen. Wenn es wahr ist, dass man nur mit dem Herzen gut sieht, wie blind sind wir dann doch alle!
„Eine Kirche, die in politischen »Gebeten« den Kult der Aktion feiert, brauchen wir nicht. Sie ist ganz überflüssig. Und sie wird ganz von selbst untergehen.“
Was heißt das für unsere Frage? Es besagt, dass die großen Worte derer, die uns eine Kirche ohne Gott und ohne Glauben prophezeien, leeres Gerede sind. Eine Kirche, die in politischen »Gebeten« den Kult der Aktion feiert, brauchen wir nicht. Sie ist ganz überflüs- sig. Und sie wird daher ganz von selbst untergehen. Bleiben wird die Kirche Jesu Christi. Die Kirche, die an den Gott glaubt, der Mensch geworden ist und uns Leben verheißt über den Tod hinaus. Desgleichen kann der Priester, der nur noch Sozialfunktionär ist, durch Psychotherapeuten und durch andere Spezialisten ersetzt werden. Aber der Priester, der kein Spezialist ist, der nicht sich selber aus dem Spiele hält, während er amtliche Beratungen gewährt, sondern von Gott her sich den Menschen zur Verfügung gibt, für sie da ist in ihrer Trauer, in ihrer Freude, in ihrem Hoffen und in ihrer Angst, er wird auch weiterhin nötig sein.
„Aus der Krise von heute wird eine Kirche von morgen hervorgehen.“
Gehen wir einen Schritt weiter. Aus der Krise von heute wird auch dieses Mal eine Kirche von morgen hervorgehen, die viel verloren hat. Sie wird klein werden, weithin ganz von vorne anfangen müssen. Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der Anhänger viele ihrer Privilegien in der Gesellschaft verlieren. Sie wird sich sehr viel stärker gegenüber bisher als Freiwilligkeitsgemeinschaft darstellen, die nur durch Entscheidung zugänglich wird. Sie wird als kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen. Aber bei allen diesen Veränderungen, die man vermuten kann, wird die Kirche ihr Wesentliches von Neuem und mit aller Entschiedenheit in dem finden, was immer ihre Mitte war: Im Glauben an den dreieinigen Gott, an Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes, an den Beistand des Geistes, der bis zum Ende reicht. Sie wird in Glaube und Gebet wieder ihre eigentliche Mitte erkennen und die Sakramente wieder als Gottesdienst, nicht als Problem liturgischer Gestaltung, erfahren.
„Dies alles wird Zeit brauchen. Der Prozess wird lang und mühsam sein.“
Es wird eine verinnerlichte Kirche sein, die nicht auf ihr politisches Mandat pocht und mit der Linken so wenig flirtet wie mit der Rechten. Sie wird es mühsam haben. Denn der Vorgang der Kristallisation und der Klärung wird ihr auch manche gute Kräfte kosten. Er wird sie arm machen, zu einer Kirche der Kleinen sie werden lassen. Der Vorgang wird umso schwerer sein, als sektiererische Engstirnigkeit genauso wird abgeschieden werden müssen wie großsprecherische Eigenwilligkeit. Man kann vorhersagen, dass dies alles Zeit brauchen wird. Der Prozess wird lang und mühsam sein, so wie ja der Weg von den falschen Progressismen am Vorabend der Französischen Revolution, bei denen es auch für Bischöfe als schick galt, über Dogmen zu spotten und vielleicht sogar durchblicken zu lassen, dass man auch die Existenz Gottes keineswegs für sicher halte, bis zur Erneuerung des 19. Jahrhunderts sehr weit war. Aber nach der Prüfung dieser Trennungen wird aus einer verinnerlichten und vereinfachten Kirche eine große Kraft strömen. Denn die Menschen einer ganz und gar geplanten Welt werden unsagbar einsam sein. Sie werden, wenn ihnen Gott ganz entschwunden ist, ihre volle, schreckliche Armut erfahren. Und sie werden dann die kleine Gemeinschaft der Glaubenden als etwas ganz Neues entdecken. Als eine Hoffnung, die sie angeht, als eine Antwort, nach der sie im Verborgenen immer gefragt haben. So scheint mir gewiss zu sein, dass für die Kirche sehr schwere Zeiten bevorstehen.
„Ich bin ganz sicher darüber, was am Ende bleiben wird: Nicht die Kirche des politischen Kultes, sondern die Kirche des Glaubens.“
Ihre eigentliche Krise hat noch kaum begonnen. Man muss mit erheblichen Erschütterungen rechnen. Aber ich bin auch ganz sicher darüber, was am Ende bleiben wird: Nicht die Kirche des politischen Kultes, die schon in Gobel gescheitert ist, sondern die Kirche des Glaubens. Sie wird wohl nie mehr in dem Maß die gesellschaftsbeherrschende Kraft sein, wie sie es bis vor Kurzem war. Aber sie wird von Neuem blühen und den Menschen als Heimat sichtbar werden, die ihnen Leben gibt und Hoffnung über den Tod hinaus.
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Leicht gekürzte Fassung eines Vortrags Joseph Ratzingers im Hessischen Rundfunk, ausgestrahlt am 25. Dezember 1969, unter dem Titel: „Was heißt katholisch? oder Die Kirche im Jahr 2000“. Die erste Drucklegung erfolgte im Büchlein: Joseph Ratzinger, Glaube und Zukunft, München 1970, 3. Auflage 2007. Der Beitrag ist erschienen in: Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften (JRGS) 8, 1159-1168.
Zwischentitel und Zwischenzitate sind redaktionelle Einfügungen.