„Liebe Leser, es wird Zeit, dass wir uns mit dem Eingemachten beschäftigen. Schnallen Sie Ihre Hosenträger enger, geben Sie der Brille den letzten Stups hoch auf die Nase, und trinken Sie einen gewagten Schluck Tee! Mit sicherem Abstand nähern wir uns einem mysteriösen Häufchen.“ So leitet Giulia Enders ein besonders „anrüchiges“ Kapitel über das Endprodukt einer der drei Schläuche in unserem Körper ein. Zwei davon (Gehirn und Blutkreislauf) stehen im allseits anerkannten Ruf, „Meisterwerke“ zu sein. Nummer 3 dagegen winkt ganz zag- und schamhaft aus dem Inneren. Die nötige Anerkennung wird ihm zumeist verweigert. Denn von diesem „Mann ohne Eigenschaften“ glauben die meisten, dass er höchstens mal aufs Klo geht, ansonsten offensichtlich nur „lässig im Bauch rumhängt“ und nur ab und an durch eher unsittliche Töne sowie müffelnde Ein-… äh… Auswürfe auf sich aufmerksam macht. Die Rede ist von unserem wohl größtenteils stark unterschätzten Darm.
„Stimmt es, dass wir alle falsch auf dem Klo sitzen? Wie kann man leichter rülpsen? Wieso können wir aus Steak, Apfel oder Bratkartoffeln Energie machen, während ein Auto nur bestimmte Sorten Benzin verträgt? Wozu gibt es den Blinddarm, und warum hat Kot immer die gleiche Farbe?“, sind nur einige Fragen, die Giulia Enders mit wahrhaft viel Charme, immer einer Prise Humor, fundiert und höchst anschaulich beantwortet. Die junge Wissenschaftlerin, die ihr erstes Staatsexamen in Medizin bestanden hat und derzeit für ihre Doktorarbeit am Institut für Mikrobiologie in Frankfurt am Main forscht, beginnt ihre Exkursion durch den dunklen Verdauungsschlauch zunächst an seiner Pforte, der Eingangshalle „zu einer Welt, in der Fremdes zu Eigenem wird“. Vom Mund aus schlittert sie speichelumhüllt in die Speiseröhre, tastet sich über Magen, den sich „orientierungslos herumschlängelnden Dünnen“ und seinem gemütlichen „Kumpel“ namens Dickdarm, langsam bis ganz nach unten und flutsch wieder heraus. Zuweilen zoomt sie dabei ganz nah ans mikrobisch-bakterielle Geschehen heran und vermittelt somit eine unglaublich immense Fülle an Hochinteressantem und mitunter schier Erstaunlichem. So begegnen dem Leser diverse Süßigkeitsverstecke, hochgehandelte Lebensversicherungspolicen in Form von Bauchspeck oder ein filigranes Rülps- und Pupsballett. Giulia Enders veranstaltet eine ölige Rutschpartie auf der „glatten Muskulatur“, lädt zu einer Tortenverfolgungsjagd ein, setzt sich mit der Entstehung von Allergien, Unverträglichkeiten und Intoleranzen, dem Nutzer oder Schaden von Antibiotika auseinander und erklärt Blutgruppenunverträglichkeit. Zudem räumt die Autorin mit „Angsthygiene“ auf und zeigt, dass das menschliche Besiedlungsprogramm der Mikroben auch ganz ohne EU-Fördermittel unkompliziert und erfolgreich einsetzt.
Entstanden ist ein herrlich unkompliziertes und äußerst verständliches Werk, das dem interessierten Leser eine Fülle wissenschaftliche Erkenntnisse und Hypothesen lebendig darlegt. Giulia Enders gelingt es auf geradezu faszinierend simple Art, hochkomplexe Vorgänge wie die Arbeit der Enzyme sowie viele weitere Thematiken von der Nahrungsaufnahme bis zur Verdauung geradezu spielerisch darzulegen. Eine besondere Aufwertung erfährt der Text obendrein durch die witzigen und außerordentlich aussagekräftigen Illustrationen der Schwester der Autorin. Jill Enders Abbildungen beleben das Buch enorm und ziehen dessen Thematik zusätzlich aus der „Schmuddel-Ecke“. Ihre Bakterien fliegen gelegentlich als Batmans durch die Darmflora oder tappern als zottlige Greise durch „das bakterielle Woodstock“ unseres Körpers. Die Designstudentin lässt Immunzellen als mittelalterliche Recken gegen fiese Eindringlinge kämpfen, verpflichtet ihre Mikroben flugs zum Tragen von Basecaps oder setzt diverse lustige Gesellen als Türsteher vor unterschiedlichste Öffnungen, damit sie für sichere „Personenkontrollen“ sorgen.
Letztendlich schlägt man dieses überaus lesenswerte, charmante und hochinteressante Buch mit einem ganz und gar „umgestülpten“ Bauchgefühl sowie einer keineswegs mehr schamhaft belasteten Feststellung zu, dass unserem Darm wohl eine immens wichtige Rolle bei der Gestaltung des persönlichen Wohlbefindens zukommt und deren Bedeutung dem unseres „edlen“ Gehirns keineswegs nachsteht. Denn jener „befindet sich mitten im Getümmel. Er kennt alle Moleküle aus unserem letzten Essen, fängt herumschwirrende Hormone neugierig im Blut ab, fragt die Immunzellen nach ihrem Tag oder lauscht andächtig dem Surren der Darmbakterien. Er kann dem Gehirn Dinge über uns erzählen, von denen es sonst niemals eine Ahnung hätte.“ Unser Darm „ist eine riesige Matrix – er empfindet unser Innenleben und arbeitet im Unterbewusstsein.“ Vielleicht, so hinterfragt man nicht zu Unrecht, vielleicht liegt unser Ich viel tiefer als wir vermuten.
Fazit: „Wir haben riesige Maschinen gebaut und sind zum Mond geflogen. Wer heute neue Kontinente und Völker entdecken will, muss die kleine Welt erkunden, die sich in uns selbst befindet. Unser Darm ist dabei der faszinierendste Kontinent. Nirgendwo leben so viele Spezies und Familien wie hier.“, schreibt die Autorin. Danke Giulia Enders, für diese charmant-erhellende „Darmspiegelung“ und die bestätigt gefundene Anschauung, dass der „ruhige Buchleser (…) in Sachen Verdauung erfolgreicher als ein angespannter Topmanager“ ist.
Giulia Enders
Darm mit Charme
Ullstein Verlag (März 2014)
288 Seiten, Broschiert
ISBN-10: 3550080417
ISBN-13: 978-3550080418
Preis: 16,99 EUR
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