Wer sich auf Putin einschießt, vereitelt ein baldiges Kriegsende. – Was bewirkt welche Kommunikation?

Vladimir Putin. Bild von klimkin auf Pixabay. Freie kommerzielle Nutzung.

Da stürzt ein Mann aus einer Bankfiliale auf eine belebte Straße. Er hat eine Geisel in seiner Gewalt. Die schussbereite Waffe ist gegen ihren Kopf gerichtet. Die Passanten geraten in Angst und Erstarrung. Die Polizei trifft ein. Und in dieser hochbrisanten Situation richten die Sicherheitskräfte folgende Botschaft per Megafon an den Akteur: ‚Nun ist klar, sie sind ein Gewalt-Verbrecher. Wir verurteilen ihr Handeln auf’s schärfste. Daher fordern wir sie auf, ihre grausame Geiselnahme sofort zu beenden’. – Stopp! – Das war eine Ausbildungs-Übung zur Veranschaulichung, wie eine naive De-Eskalations-Strategie als Konflikt-Verstärker wirken kann. Zeitgleich versuchen ’in echt’ Polizei-Psychologen sich in die möglichen  Motive hineinzufühlen um so herauszufinden, was oder welche Beziehungs-Person diesen Geiselnehmer am ehesten stoppen könnte? Alles dient dem Ziel, einen Kontakt herzustellen, um eine Kurzschluss-Handlung zu vermeiden.

Nun zur politischen Realität: Da äußert sich beispielsweise die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock recht markig mit: „Putin wollte diesen Krieg“, wirft ihm „dreiste Lügen“ vor und richtet unterschiedlichste Forderungen an ihn. Friedrich Merz twittert: Aus Wladimir Putin „ist nun endgültig und für alle Welt sichtbar ein Kriegsverbrecher geworden.“ Fußballtrainer Jürgen Klopp bezeichnet Putin schlicht „als wirklich bösen Mann“ und Bundeskanzler Olaf Scholz will „… Kriegstreibern wie Putin Grenzen setzen“. Aber: Reden im Tacheles-Modus dienen – bewusst oder unbewusst – vorrangig der eigenen Spannungs-Reduktion oder/und einer persönlichen Profilierung. Gleichzeitig wird nicht nur die Problem-Lösung be- oder verhindert, sondern ein solches Agieren befeuert die Gewalt-Eskalation kräftig. Und in Abgrenzung zu einem realen Polizei-Einsatz werden beim ‚Fall Putin’ all jene Menschen, welche Anhaltspunkte für seine Beweggründe äußern, um so möglichst wirksame Deeskalations-Schritte entwickeln zu können, als Putin-Versteher diskreditiert oder gar als Sympathisanten angegriffen. Ergänzend sollen sie sich von Putin umgehend distanzieren.

Eine dämonisierende Sprache hat das Zeug zum Brandbeschleuniger

Eine kritische Analyse der täglichen Aussagen zur Verurteilung der militärischen Invasion Russlands gegen die Ukraine offenbart, dass viele Politiker durch ihre Wortwahl den offensichtlichen Konflikt personifizieren und auf Putin konzentrieren. So werden die Kriegshandlungen effektiv angeheizt. Dabei scheint ein Überbietungs-Wettbewerb zu existieren, wer wohl die drastischsten oder aggressivsten Unterstellungen, Mutmaßen oder Vorwürfe zum Handelnd des Präsidenten der Russischen Förderation von sich gibt.

Als ich mit Studierenden innerhalb meiner FOM-Vorlesung zum Thema ‚Verhandlungsführung’ unter Einbeziehung solcher tagespolitischen Beispiele zur Wirkung personifizierter Vorwürfe in eine Kurz-Analyse einstieg, stellte ich die Frage, wie sie persönlich auf solche Sprachmuster reagieren würden. Ganz spontan kam: ‚Ich würde mich nicht ernst genommen fühlen, würde noch wütender werden und vielleicht noch etwas zulegen.’ So hielten wir resümierend fest, dass eine de-eskalierende Sprache – hier wird besonders auf die Regeln zur gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg Bezug genommen – sich an ganz anderen Umgangs-Stilen orientiert.

Je gefährlicher eine Situation, je vorsichtiger und abwägender sollten – schon aus Eigennutz – die Interventionen sein. Jede Personalisierung von Konflikten verschärft diese, weil dann der/die Betroffene sofort auf – meist archaische – Verteidigungs- bzw. Gegenangriffs-Muster schaltet. Schnell kommt dann die Steinzeit-Axt zum

Einsatz. Die Resilienz-Forschung hat dazu heraus gearbeitet: Je schwächer bzw. instabiler und isolierter ein personales Selbst ist, je schneller, harscher und unkontrollierte setzt die Gegenwehr ein.

Jede ‚Schwarz-Weiß-Weltsicht’ steht im Widerspruch zur Wirklichkeit

Besonders wenn sich Politiker zu inakzeptablen Vorgängen in anderen Staaten äußern, sollten sie im Hinblick auf eigene Handlungen gegen die Menschlichkeit, Rechtsbrüche, Verfassungs-Verstöße bis hin zu eklatanten militärischen Maßnahmen unter Missachtungen des Völkerechtes, eine kräftige Portion Demut zum Ausdruck bringen. Ergänzend lösen selbst angemessene Äußerungen ein starkes Eskalations-Potential aus, wenn sie im Anspruch einer moralischen Überlegenheit geäußert werden. Denn einem Denk-Muster: ‚Wir die Guten müssen den Bösen abstrafen’, fehlt einerseits die Wahrhaftigkeits-Bais und bietet andererseits keine nachhaltige Befriedung. Jede ‚Schwarz-Weiß-Weltsicht’ steht in klarem Widerspruch zur Wirklichkeit, ob beim einzelnen Menschen oder bei Volksgemeinschaften.

Oft werden zu extremen bzw. brutalen Handlungen neigende Politiker als ‚irgendwie krank’ bezeichnet. Wird eine solche Einschätzung nicht als herabwürdigende Etikettierung genutzt, sondern gezielt als ernst zu nehmende Diagnose aufgegriffen, sollten wir diese im Umgang mit diesen Menschen auch sorgfältig beachten. Einerseits im Hinblick auf eine mögliche reduzierte Schuldfähigkeit. Aber erst recht deshalb, um diese Akteure andererseits nicht noch so zu provozieren, dass sie ganz ausrasten. Dieser Grundsatz gehört selbstverständlich zum verinnerlichten Handlungsmuster von Ordnungskräften bei ihren täglichen Einsätzen sowie den Mitarbeitenden in psychiatrischen Einrichtungen. Aber er ist auch eine taugliche Blaupause für eskalierende politische Situationen.

Zur Wichtigkeit der Differenzierung zwischen Tat und Täter

Ein uralter Grundsatz der christlichen Ethik sowie der aktuellen Konflikt-Vermeindungs-Forschung ist die Differenzierung zwischen Tat und Täter. So kann eine unakzeptable Handlung als verwerflich, kriminell, menschenverachtet oder bestialisch bezeichnet werden, aber der Handelnde sollte nicht gleichzeitig diffamiert werden. Statt dessen ist die Entscheidung für einen würdevollen Umgang eine essentielle Frage der politischen oder lebens-praktischen Klugheit. Denn mit wem soll über die Beendigung eines inszenierten kriegerischen Wahnsinns gesprochen werden, wenn der/die Hauptakteure vorher auf übelste Weise mit Schmäh-Attacken überschüttet wurden? Wichtig: Wer einen Menschen erst einmal diffamierte, sollte anschließend von diesem nicht die Größe zu Einsicht oder Umkehr erwarten.

Selbst Massenmörder oder anderen Gewalttätern steht in einem Rechtsstaat vor der Verurteilung ein selbst gewählter bzw. Pflicht-Verteidiger als Rechtsbeistand zu. Durch das Gerichts-Verfahren soll geklärt werden, welche Motive oder Umstände die Tat auslösten, um so das Handeln besser verstehen und beurteilen zu können. Und innerhalb von Gerichts-Prozessen wird strikt auf einen höflichen bzw. menschlichen Umgangsstil und eine Ausgrenzung von Vor-Verurteilungs-Aktionen geachtet. Aber bei Politikern oder anderen in der Öffentlichkeit stehenden Menschen scheint ein Konglomerat aus Unterstellungen und Diffamierungen für eine ‚klare Verurteilung’ zu genügen. Und da ein Verurteilter kein Gesprächspartner sein kann, fehlt auch hier das Gegenüber zur Konfliktlösung.

Zur Analyse von Ursache und Wirkung bei Konflikt-Handlungen

„Die Hölle, das sind die anderen!“, schrieb Jean-Paul Sartre in „Geschlossene Gesellschaft“. Diese Aussage bringt auf den Punkt, dass sozialen Konflikten ohne das jeweilige Gegenüber die Basis fehlt. Daraus ergibt sich, dass alle Beteiligten

ihren Anteil haben, auch wenn dieser unterschiedlich groß sein kann. Oft liegt dieser in der Vergangenheit. War es hier eine subtile Herabwürdigung oder Schmähung, wurden dort evtl. wichtige Bedürfnisse ignoriert, Versprechen nicht eingehalten oder Verträge gebrochenen. Selbst kleine – aber ungeklärt gebliebene – Missverständnisse bergen ein von Tag zu Tag sich vergrößerndes Konfliktpotential. Besonders die Bedürfnis-Pyramide von Abraham Maslow verdeutlicht, dass nach den physischen Grundbedürfnissen wie Atmung, Wasser, Nahrung und Schlaf sofort das Sicherheits-Bedürfnis kommt. Das gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für Personen-Gemeinschaften und Staaten.

Paul Watzlawick hat innerhalb seiner Axiome heraus gearbeitet, dass Kommunikation sich immer im Wechsel von ‚Ursache und Wirkung’ vollzieht. Und Konflikt-Forscher stellen fest, dass die Konflikt-Beteiligten meist dort mit der Begründung für ihr aktuelles Handeln ansetzen, wo es für sie günstig ist. Das gilt für den Streit im Freundeskreis, Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz, bei Scheidungs-Kriegen oder für militärisch ausgetragene Macht-Attacken zwischen Völkern oder Staaten. Das Muster: Ich habe jetzt so gehandelt, weil du gestern … Nein, das greift zu kurz, denn du hast ja vorgestern … So können Zeiträume von Jahrhunderten im Schnellverfahren übersprungen werden.

Diskreditierung und Diffamierung lösen schnell Katastrophen aus

Der Psychologe Fritz Glasl hat neun Stufen der Konflikteskalation ausgemacht. Zunächst beginnt der Dissens mit Verstimmung, dann folgen Verärgerungen, aus welcher sich schnell eine Verhärtung entwickelt. Wird hier nicht schnellstens und konsequent auf de-eskalierende Maßnahmen gesetzt, gelangen die Beteiligten ganz schnell an den Punkt: ‚Gemeinsam in den Abgrund.’

Auch das Mentalisierungs-Konzept verdeutlicht die Wichtigkeit der Fähigkeit, besonders in schwierigen oder kaum vorstellbaren Situationen, das Verhalten anderer Menschen auf dem Hintergrund von mentalen Zuständen zu deuten. Dabei steht also nicht das relativ Offenkundige des Gegenübers, sondern die dem Verhalten zugrunde liegen Überzeugungen, Wünsche, Gefühle, Absichten und Einstellungen im Zentrum. Ein durch Mentalisierung geprägter Umgangsstil, der einen Dialog zwischen innerer und äußerer Realität ermöglicht, führt dazu, am Verhalten ablesen zu können, was in den Köpfen anderer vorgeht. Damit wird gleichzeitig die Möglichkeit geschaffen, auch das eigene Erleben und Handeln zu reflektieren, um so angemessener mit schwierigen Situationen umgehen zu können. Dieser Handlungs-Ansatz ist hier nicht nur auf die Hauptakteure für den Krieg in der Ukraine innerhalb der russischen Regierung zu richten, sondern auch auf das russische Volk.

Wer den Teufel mit Beelzebub austreiben will, setzt auf den Misserfolg

Der alltägliche Erfahrung lehrt dass Sanktionen und Strafen meist zur Problem-Verhärtung beitragen. Auch in Gefängnissen sagt die Höhe eine Strafe wenig über den Resozialisierungs-Erfolg aus. Wieso wird also innerhalb des Ukraine-Konfliktes vorrangig in breiter Weise auf Sanktionen gesetzt?  Dies mag ja auf den ersten Blick nachvollziehbar sein. So jedoch ein schnelles Ende des Krieges zu erwarten, erscheint fatal. Denn die Machthaber totalitärer Staaten haben zu oft bewiesen, dass selbst ihr seit Jahrzehnten dahin darbendes Volk diese kaum zu Einlenk-Verhandlungen führten. Wenn Sanktionen jedoch direkt auf die Finanz-Elite zielten, würde das Volk nicht die Folgen der politischen Kriegs-Entscheidung auslöffeln müssen. Treffen die drastischen Sanktionen jedoch vorrangig das russische Volk, wird sich dieses schnell als Geisel des ungeliebten oder gar verhassten Westens empfinden.

Das durch Stephen Karpman bekannt gewordene Drama-Dreieck verdeutlicht

eindruckvoll, wie schnell aus – meist Gutes wollenden – Rettern Täter werden. Das kann schon durch eine vom Retter ausgelöste Intervention geschehen, welche vom Gegenüber als sehr bedrohlich empfunden wird. Dies kann dann bei kriegerischen Konflikten schnell Panik-Reaktionen – als letzte Abwehr – mit globalen Vernichtungs-Folgen auslösen. Genau in diese Richtung weist die Ankündigung von Finanzminister Christian Lindner: Wir wollen „Russland mit aller Härte isolieren.“ Das heißt: Weil eine politische Führung einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, sollen ca. 146 Millionen russische Bürger darunter leiden? Dies ist nicht nur ungerecht sondern auch kontraproduktiv. Spätesten dann wird der ‚Gute Retter’ zum neuen Täter.

Nicht Putin attackieren sondern das russische Volk umfassend informieren.

Der in Berlin lebende und aus Russland stammende Autor Wladimir Kaminer äußerte  in einem Interview: „Putin hat tatsächlich damit gerechnet, dass das urkrainische Volk seine Armee mit Blumen begrüßen wird. Jetzt kann er seinem eigenen Volk nach dem Überfall keine Niederlage präsentieren. Deswegen wird er bis zum bitteren Ende den Krieg weiterführen.“ Übrigens sieht Putin – so Kaminer – nur jene Bilder des Krieges, welche im von seinen Getreuen zusammengestellt werden. „Er lebt in einer absoluten Informationsblase, die von ausgewählten Menschen zusammen gestellt wird.“

Statt ständig neue Sprach-Attacken gegen den mit dem Rücken zur Wand stehenden Putin zu richten, sollte sich alle Energie darauf konzentrieren, dass russische Volk über das blutige und zerstörerische Ausmaß des von der russischen Staatsführung zu verantwortenden Angriffskrieges zu informieren. Nach dem 2. Weltkrieg erschallte im Angesicht von Millionen Toten der Ruf „Nie wieder Krieg“ auch in Russland. Und die Konkretisierung lautete: „Nie wieder Stalingrad“. Dies sind geeignete Ansatzpunkte, um die Seele des russischen Volkes für das Leid der Menschen in der Ukraine anzurühren. Dazu sollten alle kreativen und technischen Möglichkeiten zum Einsatz gelangen.

Tacheles-Reden drücken kraftvoll Ohnmacht aus und schüren des Feuer

Das Schwingen moralischer Keulen mag ein angenehmes Gefühl der Art:‚Dem hab ich’s nun aber deutlich gesagt’ verströmen, aber das Problem wird dabei verstärkt. Wenn also wirklich ein schnelles Beenden dieser unsere ganze Welt bedrohende Kämpfe in der Ukraine erreicht werden soll, dann ist jeder gegen Personen gerichtete ‚Klartext’ zu stoppen. Die eigentliche Herausforderung in ausweglos scheinen Situationen besteht nicht in einer oft martialischen Verdeutlichung einer Leid und Tod auslösenden Situation, sondern in der Entwicklung von Handlungsschritten, welche für ein Gegenüber – möglichst ohne Gesichtsverlust – gehbar sind. Die damit verbundene Mühe ist erst recht zu investieren, wenn ein menschenverachtender brutaler Krieg das Leben und die Zukunft des urkrainischen Volkes auszulöschen droht.

Albert Wunsch ist promovierte Erziehungswissenschafter und Psychologe, Supervisor (DGSv), Konfliktcoach, Erziehungs- und Paarberater (DGSF). Seit über 10 Jahren ist er an der Hochschule für Oeconomie und Management (FOM) in Neuss und Düsseldorf tätig. Vorher leitete er ca. 25 Jahr das Katholische Jugendamt in Neuss und lehrte anschließend für 8 Jahr hauptamtlich an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen (KatHo) in Köln. Daneben hatte er über 30 Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni sowie der FH Düsseldorf und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter Die Verwöhnungsfalle, Mit mehr Selbst zum stabilen ICH! Resilienz als Basis der Persönlichkeitsentwicklung oder Boxenstopp für Paare.

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Albert Wunsch ist promovierte Erziehungswissenschafter und Psychologe, Supervisor (DGSv), Konfliktcoach, Erziehungs- und Paarberater (DGSF). Seit über 10 Jahren ist er an der Hochschule für Oeconomie und Management (FOM) in Neuss und Düsseldorf tätig. Vorher leitete er ca. 25 Jahr das Katholische Jugendamt in Neuss und lehrte anschließend für 8 Jahr hauptamtlich an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen (KatHo) in Köln. Daneben hatte er über 30 Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni sowie der FH Düsseldorf und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter Die Verwöhnungsfalle, Mit mehr Selbst zum stabilen ICH! Resilienz als Basis der Persönlichkeitsentwicklung oder Boxenstopp für Paare.