Karnistisches Manifest

Ich bin Karnist*. Dieser Ausdruck kommt von dem lateinischen Wort für Fleisch: caro, carnis. Karnist zu sein bedeutet, dass ich eine Entscheidung getroffen habe: Obwohl ich weiß, dass Menschen auch ohne Fisch und Fleisch sehr gut leben können, habe ich mich dazu entschlossen, weiterhin Tiere zu essen.
Es gibt da neuerdings einen vornehmen Ton unter Vegetariern: Man dürfe uns Fleischessern nicht bildhaft vor Augen führen, was wir bewirken, wenn wir Fleisch kaufen und essen. Die in Vereinen organisierten Vegetarier wollen uns mit Lammfellhandschuhen anfassen und uns vor allem keine grausamen Bilder aus den Schlachthöfen zeigen. Damit unsere ach so empfindlichen Seelen keinen Schaden nehmen. Hat man denn vergessen, dass wir alle gemeinsam im Informationszeitalter leben? Wir Karnisten sind nicht dümmer oder schlechter informiert als Vegetarier und wissen recht genau, was wir in Kauf nehmen.
Von überall her wird es mir zugetragen: Fleischessen sei schlecht. Aber Fleisch schmeckt mir nun einmal gut. Dieses Gute kompensiert alles Schlechte, weshalb ich es weiter essen werde.

Ich erkläre mich:
Zwar versucht die Fleischindustrie, die Grausamkeit des Schlachtens vor den Konsumenten zu verbergen. Aber wir wissen doch längst Bescheid: Es steht alles in den Zeitungen und sogar in den Fernsehnachrichten zeigt man uns, was im Innern von Schlachthöfen vor sich geht. Bei vier bis neun Prozent aller Rinder ist die Betäubung vor dem Schlachtvorgang nur mangelhaft oder gar nicht vorhanden. Von den 58 Millionen getöteten Schweinen sind 10-12 Prozent mangelhaft oder nicht betäubt. Da ich die entsetzlichen Schmerzen eines lebendig gekochten Schweins oder eines lebendig zerteilten Rindes nicht fühle, bin ich nicht betroffen, weshalb eine vegetarische Ernährung für mich nicht in Frage kommt.
Deutschland hat sich im Segment der Schweineschlachtung mit knapp 60 Millionen getöteten Tieren pro Jahr seinen europäischen Spitzenplatz mühsam erkämpft. Und nur in Frankreich werden mehr Rinder getötet. Ich jedenfalls sorge dafür, dass wir spitze bleiben!
Da ich auch in Zukunft Rindfleisch kaufen werde, bin ich damit einverstanden, dass für die Herstellung von einem Kilo Rindfleisch durchschnittlich 15.000 Liter Wasser verbraucht werden. So viel Wasser muss nun einmal für die Bewässerung der Futterpflanzen aufgewendet werden. Mit jedem Fleischkauf begünstige ich irgendwo „Wasserstress“. Aber leiden wir nicht alle unter Stress? Warum sollte das Grundwasser hierzulande oder ein Bauer in Fernweg keinen gesunden Stress bekommen?
Solange ich mir Flaschenwasser leisten kann, ist es mir relativ egal, dass das Grundwasser mit Nitraten und Phosphaten belastet wird, die aus Gülle und Düngemitteln stammen, die in der Massentierhaltung anfallen.
Als Fleischesser diene ich anderen Menschen sogar als ein gutes Vorbild. Derzeit sind immer noch ein Drittel oder ein Viertel aller Inder Vegetarier. Aber es werden weniger, denn sie orientieren sich an den Essgewohnheiten von Personen wie mir. Gemeinsam werden wir es schaffen, die weltweite jährliche Fleischproduktion von momentan erst 300 Millionen Tonnen auf 470 Millionen Tonnen im Jahr 2050 zu erhöhen. Not macht erfinderisch: Auch wenn momentan niemand sagen kann, womit all die zu schlachtenden und zu verspeisenden Tiere gemästet werden sollen – im Jahr 2050 werden wir eine Lösung haben. Klar ist schon jetzt: Die Anbauflächen und das Getreide, das die Milliarden Tiere beanspruchen, fehlen den Menschen. Selber schuld! Sollen sie sich doch Fleisch kaufen.
Dass es richtig ist, Fleisch zu essen, sieht man übrigens allein schon daran, dass es in den meisten Schulen und Kantinen täglich Fleischgerichte gibt und nur selten oder wenige vegetarische Gerichte. Und als Mensch bin ich nun einmal ein sehr soziales Wesen: Ich tue das, was die meisten anderen machen, ohne groß zu fragen, ob es richtig oder falsch ist.
In den Tiermagen gehören Mais, Hafer, Hirse, Roggen und Gerste. 57% der Welternte dieser Getreidesorten gelangen momentan in Tiermägen, statt Menschen zu ernähren. Mit jedem Fleischkauf entziehe ich weniger wohlhabenden Menschen dringend benötigte Ackerflächen und Ernteerträge. Aber es schmeckt mir nun einmal, und ich lebe in einer Demokratie, in der ich essen kann, was ich will, solange ich anderen damit keinen Schaden zufüge.
Weil ich, meine Kinder, Verwandten und Freunde auch künftig Fleisch essen wollen, ist es außerdem nur gerecht, dass 70% der Äcker und Weiden weltweit zum Zweck der Tierfütterung bewirtschaftet werden.
Aus diesem Grund beteilige ich mich auch künftig aktiv an der Zerstörung des Amazonas-Regenwalds, damit auf den entwaldeten Flächen Rinder weiden können und möglichst viel Soja als Kraftfutter angebaut und nach Europa verschifft werden kann. Indem ich brasilianisches Rindfleisch kaufe oder das Fleisch von Tieren verzehre, die mit dort angebautem Soja gemästet wurden, helfe ich den dortigen Menschen. Denn der brasilianische Großbauer, der den Urwald rodet, kann die Erlöse aus dem Holzverkauf in die Viehzucht stecken, sodass es am Ende nur Gewinner gibt: ihn und mich.
Meine Entscheidung für den Fleischverzehr ist zugleich eine Entscheidung für den Klimawandel, hin zur allgemeinen Erderwärmung: Um ein Kilo Rindfleisch zu erzeugen, werden circa 25 kg des Treibhausgases Kohlendioxid in die Luft gepustet; Fleisch aus Südamerika bringt es auf 59 kg. Berücksichtigt man das verlorengegangene CO2-Speicherpotential gerodeten Regenwaldes, sind es sogar 330 kg Kohlendioxid pro Kilogramm Rindfleisch. Mein Fernziel ist es, Grönland vollständig zu enteisen, damit die Insel endlich ihren Namen verdient: Grünland. Einmal abgetaut, hat die Insel das Potential für vielleicht eine Milliarde Nutztiere!
Zwar grasen „meine“ Herden den Boden ab und trampeln ihn fest, sodass er unbrauchbar wird und sie sorgen für Bodenerosion. Aber Mutter Erde denkt mit: Sie erwärmt sich, damit wir zur Fleischproduktion mittelfristig nach Grönland und langfristig auf den Mars ausweichen können, um den Roten Planeten zu begrünen.

Wer auch nur einen einzigen Punkt dieses karnistischen Manifests nicht unterschreiben und zu Hause bleiben möchte, der soll doch zu den Vegetariern gehen!

*(Der Begriff „Karnismus“ ist ein von der Psychologin Melanie Joy geprägter Neologismus.)

Literatur
Fleischatlas 2013 und 2014, ein Kooperationsprojekt von Heinrich Böll Stiftung, BUND und LE MONDE diplomatique.

[Der Autor dieses Manifests lebt vegan]

Finanzen

Über Karim Akerma 76 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).

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