Am Wochenende vom 19. bis 21. November 2021 fand in Heidelberg eine gemeinsame Studentenhistorikertagung des Arbeitskreises der Studentenhistoriker (AKSt) und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) statt. Das Thema war „Jüdische Korporierte, jüdische Korporationen“. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren von der HfJS in deren Räumlichkeiten eingeladen worden, zur Hälfte waren es Studierende der HfJS, die andere Hälfte der Zuhörer waren Verbindungsstudenten aus mancherlei Dachverbänden.
Von Seiten der Hochschule wurden die Tagungsteilnehmer mit einem langen und überaus warmherzigen Grußwort von Seiner Magnifizenz Prof. Dr. Werner Arnold begrüßt, als Veranstalter fungierte der Hochschulrabbiner Shaul Friberg. Vor Beginn der Tagung wurde ein Grußwort des Heidelberger Oberbürgermeisters Eckart Würzner verlesen.
Dann sprach Hochschulrabbiner Shaul Friberg zu den großenteils buntbemützt angetretenen Zuhörern, denn in der Hochschule wurde Couleur getragen. Er selbst trug natürlich seine Kippa, sagte dann aber plötzlich: „Ich bin auch einer von Ihnen!“ – und setzte sich seine eigene Verbindungsmütze auf den Kopf, noch über die Kippa. Denn Shaul Friberg gehört der Kalmar Nation Uppsala an, einer schwedischen Studentenverbindung. Schelmisch sagte er: „Wer einmal Student gewesen ist, bleibt es ein Leben lang!“ Sein so symbolisiertes Anliegen war identisch mit dem der Studentenhistoriker: zu betonen, dass Studentenverbindungen, jüdische zumal, ein wichtiger Kristallisationspunkt für die Identität vieler jüdischer Korporierter seien. Denn es gab eben nicht nur die großbürgerlichen Corps und dazu Burschenschaften, Landmannschaften, Turnerschaften – auch christliche und jüdische Verbindungen gehörten bis 1933 ganz selbstverständlich zum Bild an den Universitäten, beide gleichermaßen.
Den Gedanken der religiös gebundenen Verbindungen griff zunächst Prof. Dr. Dr. Harald Lönnecker von der TU Chemnitz auf. Er sprach über „Demut und Stolz, Glaube und Kampfessinn – konfessionell gebundene Verbindungen: protestantische, katholische, jüdische“. Damit ordnete er die jüdischen Verbindungen, die uns Heutigen so exotisch erscheinen, als kongeniale Brüder heutiger Korporierter ein. Wie das am Beispiel Heidelbergs konkret aussah, erklärte danach Dr. Gerhard Berger. Er referierte über Heidelberger jüdische Verbindungen, deren weltanschauliche Bandbreite von zionistisch bis deutschnational reichte.
Für den Abend waren die Tagungsteilnehmer beim Corps Suevia Heidelberg eingeladen, das einen bestens organisierten Empfang für sie ausrichtete. Höhepunkt des Abends war ein Vortrag von Dr. Jürgen Herrlein, dessen Muttercorps die aus Prag stammende Frankfurter Austria ist, über die Familie Přibram – übertitelt waren seine Worte mit „Prager jüdische Corpsstudenten und ihr Umfeld“. Über 70 Gäste, gut die Hälfte davon aus der jüdischen Gemeinde, waren von der Gastfreundschaft der Schwaben geradezu überwältigt.
Den ersten Vortrag am Sonnabend hielt Lukas Stadler, ein Heidelberger Armine, über das Wirken des bedeutenden Zionisten Theodor Herzl. Er fragte, ob die Baseler Zionistenkongresse – sie bildeten die geistige Grundlage der Gründung Israels – als studentenhistorische Ereignisse aufzufassen sind, und er belegte überzeugend, dass exakt davon auszugehen ist. Dr. Norbert Giovannini, in Heidelberg und darüber hinaus als Dozent, Pädagoge und Historiker bekannt, sprach über jüdische Studenten in Heidelberg nach 1933 – ein ernster Befund, gerade auch für die Ohren von Studentenhistorikern. Die Tonart wechselte sodann. Prof. Dr. Roland Girtler aus Wien rundete in der unnachahmlich humorvollen Art, für die er bekannt ist, den Vormittag mit einem Vortrag über den bedeutenden Anthropologen Franz Boas ab, und zwar „als Burschenschafter, Wissenschaftler und Weltbürger“. Der eigentlich Weltbürger aber war hier der Referent selbst – Girtler, der das Band des Corps Symposion trägt, ist nicht zuletzt durch seine legendären, weltweiten „Erkundungen“ eine Berühmtheit auf dem Gebiet der Soziologie.
Nachmittags wurden die Teilnehmer durch das jüdisch-akademische Heidelberg geführt. Bei dem anschließenden Kaffee im Hause des Corps Thuringia Heidelberg hielt Dr. Gerd Mohnfeld von der vertagten Burschenbunds-Verbindung Alsatia-Thuriniga Marburg einen berührenden Vortrag über paritätischen Verbindungen und das bisherige – und wohl endgültige – Ende ihres Aktivenbetriebs. BC-Verbindungen wie diese sind dabei Vorbilder: Sie behielten das Toleranzprinzip, insbesondere auf religiöser Ebene, auch dann noch unverändert und vorbildlich bei, als alle anderen Dachverbände – außer den jüdischen – bereits ihre „Arierparagraphen“ hatten.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurde von Rabbi Shaul Friberg die Hawdala, das Ende des Schabbat, mit Kerzenschein und einem kleinen Schluck Wein gefeiert. Rabbi Friberg reichte die Besamimbüchse mit den Gewürzen herum, und die Anwesenden konnten die aromatischen Gewürze einatmen. Mit erfrischten Sinnen lauschten die Zuhörer, die teils über eine parallel geschaltete Zoom-Konferenz teilhatten, dem Salzburger Professor Raimund Lang. Der sprach über den Schöpfer des Liedes „Ich habe mein Herz in Heidelberg verloren“, Fritz Löhner-Beda, der ebenso wie seine Familie grausamst ermordet wurde. Löhner-Beda, zugleich der begnadete Librettist von Operetten wie „Das Land des Lächelns“, wurde von KZ-Wächtern in Auschwitz buchstäblich zu Tode getreten. Dieser Vortrag war derart fordernd, dass eine Pause nötig wurde. Dr. Gregor Gatscher-Riedl folgte mit seinem Vortrag über jüdische Farbstudenten und Politik am Beispiel der Universität Czernowitz und ihrer jüdischen Verbindungen. Dort, im östlichsten Winkel des Habsburgerreiches, gab es zwölf jüdische Studentenverbindungen. In Prag gab es sogar 20 jüdische Studentenverbindungen, die allesamt gleichzeitig in Blüte standen.
Es folgte das Referat von PD Dr. Axel Bernd Kunze über den Bamberger Widerstandskämpfer Willy Aron und seinen Weg von Würzburg, wo er bei der BC-Verbindung Wirceburgia aktiv war, nach Dachau, wo er ermordet wurde. Den Abend beschloss Dr. Herwig Hofbauer mit seinen Erinnerungen an den österreichischen Ingenieur und Studentenhistoriker Fritz Roubicek, der neben der J.A.V Unitas Wien auch dem liberalen Corps Marchia Wien angehörte und der zur NS-Zeit als Kämpfer der Résistance den deutschen Behörden ausgeliefert und nach Auschwitz deportiert wurde. Roubicek überlebte als einziger seiner Familie die Shoa und blieb trotz seines Schicksals zeitlebens ein begeisterter Korporierter.
El male rachamim
Am Sonntag um 12 Uhr versammelten sich die Tagungsteilnehmer unter starkem Polizeischutz an der Großen Mantelgasse auf dem Platz, auf dem die Heidelberger Synagoge stand, bis sie in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von Nationalsozialisten und deren willigen Mitläufern zerstört wurde. Viele weitere junge und alte Verbindungsstudenten und -studentinnen jeglicher Couleur hatten ebenfalls sich eingefunden, um der Opfer der unbegreiflichen Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten der Nazi-Zeit zu gedenken.
Verlesen wurden Briefe von jüdischen Verbindungsstudenten, die der Shoa durch Flucht und Glück entkommen waren und in diesen Briefen einen Blick zurück auf ihr Heidelberger Studentenleben warfen. Es berührte die Anwesenden, dass diese Briefe nicht von Hass und Abscheu kündeten. Sie waren vielmehr wie ein liebevoller Gruß an die zurückgebliebenen Freunde verfasst. Darin kam nicht zuletzt der enorm große Wert zum Ausdruck, den die Briefschreiber, auch nach dem entsetzlichen Geschehen, ihren Studentenverbindungen immer noch zumaßen.
Ein Trauersilentium folgte. – In die Stille hinein begann dann Rabbi Shaul Friberg, das jüdische Totengebet El male rachamim zu singen. Die Worte sind ist hebräisch, sie bedeuten „Gott voller Erbarmen“. In Europa sind verschiedene Versionen dieses Gebetes überliefert, das Juden seit dem Mittelalter zum Andenken an die Opfer von Pogromen und Kriegen und zur Anrufung Gottes nutzen. Der jüdische Kantor Shlomo Katz trug 1950 auf dem 22. Zionistenkongress in Basel eine neue Version vor. In den traditionellen Text hatte er die Namen der Vernichtungslager Auschwitz, Majdanek und Treblinka aufgenommen. An dieser Version orientierte sich Rabbiner Shaul Friberg, und er nannte auch große deutsche Konzentrationslager. Als er dann die Worte sang, dass der Herr der Barmherzigkeit sie, die Toten also, hinter dem Geheimnis Seiner Flügel in aller Ewigkeit verberge, war allen Anwesenden der heilige Ernst dieses Momentes überdeutlich bewusst.
Dieses El male rachamim wurde von allen Teilnehmenden als Höhepunkt und Markstein erlebt. Nachdem der letzte Ton verklungen war, dauerte es lange, bis die Teilnehmenden ihre Fassung wiedererlangten, bis der Alltag zurückkehren konnte. Und dennoch gab es auch die leisen Töne der Hoffnung: Sie sei froh und glücklich, dass trotz der schrecklichen Vergangenheit wieder Menschen jüdischen Glaubens in Heidelberg lebten und auch studierten, sagte eine Verbindungsstudentin. Der freudige Abglanz der umstehenden Gesichter gab ihrer Ansicht Recht.
Basierend auf einem Text von Markus Wilson-Zwillin