Im ehemaligen Ostberlin, der einstigen DDR-Hauptstadt, gibt es seit Mauerfall und Wiedervereinigung ein rundes Dutzend DDR-Nostalgie-Verlage, in deren Buchveröffentlichungen der 1989/90 untergegangene SED-Staat ausgiebig gefeiert und verklärt wird. Das jüngste Beispiel ist eine reich bebilderte Ideologiefibel von 144 Seiten, die unter dem Titel „Da war ein Land, das du nicht kennst“ im Eulenspiegel-Verlag erschienen ist.
Der Titel soll den unbedarften Leser, der die Grausamkeit deutscher Zweistaatlichkeit nicht mehr erlebt hat, darauf aufmerksam machen, dass er etwas versäumt hat, was für sein Leben wichtig gewesen wäre: den zweiten deutschen Staat 1949/89, der so ganz anders gewesen wäre als der westdeutsche und der vom „Kapitalismus“ ausgelöscht wurde! Da wird in 79 Kapiteln ein „Kaleidoskop der DDR“ (Untertitel) angeboten, die es in dieser Form nie gegeben hat. Wir erfahren von „50 Dingen, die anders hießen“ als „im Westen“; So wurden das Brathähnchen „Broiler“ genannt, die Jeans „Nietenhosen“, der DDR-Spion „Kundschafter“. Das war, man weiß es, wenn man Verwandte besuchte, gewöhnungsbedürftig, zu Verständigungsschwierigkeiten der Deutschen untereinander hat es freilich nie geführt!
Weiterhin erfährt man, dass die erste Jugendweihe am 27. März 1955 in Berlin stattgefunden hat, der erste Intershop ist schon am 1. August 1955 in Rostock eröffnet worden, der erste „Trabant“ ist in Zwickau am 7. November 1957 vom Band gelaufen, die Kindersendung „Sandmännchen“ mit „Pittiplatsch“ und „Schnatterinchen“ hat am 22. November 1959 ihren ersten Auftritt im Adlershofer Fernsehen gehabt. Und schließlich liest man, erstaunt darüber, das Ereignis, das dem SED-Staat am 9. November 1989 ein schmähliches Ende bereitet hat, in diesem Buch verzeichnet zu finden, dass die erste Montagsdemonstration in Leipzig am 4. September 1989 stattgefunden hat!
Wie das?, denkt man kopfschüttelnd. Wieso wird in diesem so überaus DDR-freundlichen Buch eines Ereignisses gedacht, das diesen Staat vernichtet hat? Es sind hier nämlich nicht nur die von Engstirnigkeit triefenden „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ abgedruckt, die Oberkommunist Moses UIbricht auf dem V.SED-Parteitag im Sommer 1958 verkündet hat, sondern es werden auch zehn gelungene DDR-Fluchten aufgezählt: unmittelbar nach dem Mauerbau 1961 mit der Eisenbahn, mit dem Heißluftballon im Sommer 1979, im selbstgebauten Unterseeboot 1968 nach Dänemark, in selbstgeschneiderter Sowjetuniform 1962 durchs Brandenburger Tor, durch den von Westberliner Studenten gegrabenen Fluchttunnel im Herbst 1964. Spätestens hier spürt der Leser einen Schauder über seinen Rücken laufen: Über eine gelungene Flucht konnte sich allenfalls der DDR-Flüchtling freuen, der unverletzt, erschöpft und glücklich im Westen ankam, aber doch nicht die DDR-Verklärer von heute. Die Buchmacher des Verlags, verantwortlich sind Karoline Grunske und Verlagsleiter Frank Schumann, schrecken nicht davor zurück, die mit Lebensgefahr verbundenen Fluchten aus dem SED-Staat, die unter Strafe standen und als Delikt „Republikflucht“ verfolgt wurden, für sich zu reklamieren und auf der Haben-Seite ihres DDR-Buchs zu verbuchen.
Dieser Zynismus wird aber noch eine Stufe höher getrieben, denn man findet auch jeweils eine Liste von zehn verbotenen DDR-Filmen und zehn verbotenen DDR-Büchern. Darf man erfahren, wer und warum Franz Vogels Film, „Denk bloß nicht, ich heule“ verboten hat und wer 1966 Frank Beyers Film „Spur der Steine“ nach Erik Neutschs Roman von 1964, der unverboten blieb? Darf man heute nachfragen, warum Manfred Bielers (1934-2002) Roman „Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich“ (1969) nur in München erscheinen durfte und der schon 1965 nach dem Manuskript von Kurt Maetzig gedrehte DEFA-Film nie gezeigt wurde? Der Autor ist daraufhin nach Prag emigriert und von dort im Sommer 1968, als die Truppen des „Warschauer Pakts“ die Stadt besetzten, nach München. Uwe Johnsons Roman „Mutmaßungen über Jakob“ (1959) erschien nur in Frankfurt/Main, Stefan Heyms Roman über den Volksaufstand von 1953 „Fünf Tage im Juni“ (1974) nur in München, Reiner Kunzes die grausame DDR-Alltagswirklichkeit beschreibenden Prosatexte „Die wunderbaren Jahre“ (1976) nur in Frankfurt/Main, wie auch Monika Marons Roman über die Umweltverschmutzung in Bitterfeld „Flugasche“ (1981).
Hinter diesen und weiteren verbotenen Büchern, an denen Jahre hindurch gearbeitet wurde, immer mit der Angst im Kopf, das Manuskript könnte doch noch von der unerbittlichen Zensur abgelehnt werden, stehen unglaubliche Schriftstellerschicksale wie das des Thüringers Wolfgang Hilbig (1941-2007), eines Arbeiterdichters ohne Bildung, eines Autodidakten, 1978 auch vorübergehend verhaftet, dessen die westdeutsche Literaturkritik begeisternder Lyrikband „Abwesenheit“(1979) in keinem DDR-Verlag erscheinen durfte. Und dieses weite Feld gnadenloser Intellektuellenverfolgungen, was bei Erich Loest (1926-2013) zu sieben Jahren Zuchthaus führte und bei Reiner Kunze zur Vertreibung außer Landes, in diesem Buch als Positivum aufgeführt zu sehen, ist eine glatte Unverschämtheit!
Und doch erfährt diese Perversion noch eine Steigerung: Auf Seite 110 werden 13 „seltene Tierarten im Grenzgebiet“ genannt, in genau diesem gefährlichen Grenzgebiet, wo zwischen 1961 und 1989 Hunderte verzweifelter DDR-Bürger auf der Flucht ihr Leben verloren oder zu Krüppeln geschossen wurden. Die aber werden mit keinem Wort erwähnt, wohl aber der Moorfrosch, die Wildkatze, der Schwarzstorch, als ob diese tödliche Grenze („idealer Lebensraum für Tiere“) ein Naturschutzprojekt des Politbüros gewesen wäre!
„Da war das Land, das du nicht kennst. Ein Kaleidoskop der DDR“, Eulenspiegel-Verlag, Berlin 2013, 144 Seiten, 15.99 Euro
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