Gandhi (1869–1948) gilt als geistiger und praktischer Vater des modernen Indien, der bislang einzigen Milliardendemokratie der Welt. Doch denken viele der mit Multifunktionstelefon und eigenem Auto ausgerüsteten Mittelstandsinder der Gegenwart mit gemischten Gefühlen an ihn zurück. Denn er leistete nicht nur den britischen Kolonialherren Widerstand: Der magere Mann mit dem Spinnrad rief auch zum Widerstand gegen eine Vereinnahmung spiritueller menschlicher Belange durch westliche Technik auf. So sprach er sich 1940 nicht nur gegen Methoden künstlicher Befruchtung aus – der aus seiner damaligen Sicht nur Idioten oder Monster entspringen könnten–, sondern insgesamt gegen ein Zeitalter, das er heraufziehen sah, „in dem Menschen nur noch zum Vergnügen zu Fuß gehen, sofern sie es überhaupt tun, und mit dem Wagen oder Flugzeug zur Arbeit gelangen.“ (Gandhis Werke, Bd. 78: 23 FEBRUARY, 1940–JULY, 1940, S. 341f) Und tatsächlich wurde in London bereits seit den 1940er Jahren eine Fruchtbarkeitsklinik betrieben (siehe: http://www.welt.de/vermischtes/article106164248/Oesterreicher-zeugte-offenbar-600-Kinder.html), deren Methoden und Ergebnisse ihm nicht zusagen konnten, da ihm die Fortpflanzung – wenn sie schon stattfinden musste – allein in ehelichem Rahmen zulässig schien.
Wie wäre Gandhi im heutigen Indien – und in der Welt – angesehen, wenn man sein bevölkerungsethisches Ideal zur Kenntnis nähme? Anders als man leicht vermuten könnte, läuft dieses Ideal nicht auf eine Ein-Kind-Politik nach chinesischem Vorbild hinaus. Auch lautet es nicht auf „So viele Menschen, wie das Land ernähren kann.“ Der Vater des modernen Indien hatte keine sich nach Millionen bemessende Obergrenze im Sinn. Die ihm vorschwebende Menschenzahl entspricht der Nirwana-Ziffer, mit der man offenbar erstmals in Indien rechnete und die über die arabische Kaufmanns- und Geisteswelt ihren Weg nach Europa fand. Es ist die Zahl Null. Gandhis Bevölkerungsideal waren nicht wenige Menschen, sondern: gar keine Menschen, eine Null-Kind-Politik. In Indien und überall sonst auf der Welt.
Dass Gandhi, der Friedensikone, das Ideal einer menschenlosen Welt vorgeschwebt haben soll, liest sich wie eine Kriegserklärung gegen den gesunden Menschenverstand, wenn nicht gegen die Menschheit überhaupt. Tatsächlich aber äußerte sich Gandhi in seinen Schriften über Jahrzehnte hinweg immer wieder zum Ideal einer Welt ohne Menschen und begründete es derart plausibel mit urindischer Leidensverneinung, dass die Beibringung von Belegen ganz unproblematisch ist und die Frage aufgeworfen werden muss, weshalb Gandhi nicht als Null-Kind-Politiker und -Ethiker wahrgenommen wird.
Ironischerweise ist Gandhi nicht nur der Demiurg einer unabhängigen Nation, sondern auch Vater von vier Kindern. An seinen zweitältesten Sohn, Manilal (1892–1956), richtet er am 17. März 1922 Worte, wonach er, Manilal, besser nicht gezeugt worden wäre und dass es keinen Verlust bedeutet hätte (für wen auch!), wenn Sohn oder Vater oder die unzähligen mit ihnen verketteten Menschen niemals existiert hätten. Da es ein Vater ist, der hier an den Sohn schreibt, macht Gandhi macht mit folgenden Zeilen die Zeugung seines Sohnes symbolisch rückgängig: „Ich meine ganz und gar nicht, dass die Fortpflanzung eine Pflicht ist oder dass die Welt ohne sie einen Verlust erleiden würde. Stell dir vor, jegliche Fortpflanzung würde eingestellt, diese würde nur bedeuten, dass es keinerlei Zerstörung mehr gibt.“ (Bd. 26: 24 JANUARY, 1922–12 NOVEMBER, 1923, S. 369) Im Übrigen ist Gandhi zufolge nicht ein Kind unter einer Million ein Wunschkind, sondern, wie er – notwendigerweise auch selbstkritisch – bemängelt, eher das beiläufige Produkt einer naturgegebenen Verhaltensweise, durch die sich der Mensch nicht sonderlich vor den Tieren auszeichne: „Es mag sein, dass vielleicht einer in einer Million den Geschlechtsverkehr zum Zwecke der Fortpflanzung ausübt. Mir ist eine solche Person noch nicht über den Weg gelaufen.“ (Bd.85: 2 OCTOBER, 1944–3 MARCH, 1945, S. 418)
Gandhis Version des „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!“ lautet somit: Stell dir vor, es sind Krieg und Zerstörung auf der Welt, aber es werden keine Menschen mehr hineingeboren! Auf die Zeit der britischen Kolonialherrschaft gemünzt bedeutet dies, was Gandhi am 25. April 1921in einem Brief an den christlichen Missionar, Sozialreformer und Freund Charles Freer Andrews (1871–1940) schreibt: „Gelänge es mir, die Fortpflanzung auf zivilisierte Weise und freiwilliger Basis zu stoppen, während sich Indien noch im derzeitigen miserablen Zustand befindet, so würde ich es heute noch tun. Aber ich weiß, dass dies unmöglich ist.“ (Bd. 23: 6 APRIL, 1921–21 JULY, 1921, S. 89) Möglich wäre es nur, wenn die Gesellschaft aus vollkommenen Brahmachari bestünde, aus Menschen, die Brahmas Weg der Entsagung gehen. Einem vollkommenen Brahmachari ist nichts unmöglich, erläutert Gandhi, nachdem er viele Zuschriften bekommen hat, die ihn zu seiner Haltung zum Zölibat befragen. Doch sei ein vollkommener Brahmachari ein fast unerreichbares Ideal und beinahe so schwer zu verwirklichen, wie eine ins Unendliche zielende Euklidische Gerade zu zeichnen. (Vgl.: Bd. 21: 1 JULY, 1920–21 NOVEMBER, 1920, S. 356) Als er in Briefen mit Nachfragen zur Bedeutung von Brahmachari überschwemmt wird, äußert sich Gandhi am 29. April 1926 in der Wochenzeitung Young India erneut zur Wortbedeutung und führt aus: Der wahre Brahmachari kenne keinen Wunsch nach Fortpflanzung. „Die ganze Welt ist ihm eine große Familie. Sein ganzes Anliegen zielt darauf ab, das Leid der Menschen zu lindern, und der Wunsch nach Fortpflanzung ist ihm Galle und Wermut.“ (Bd. 35: 2 APRIL 1926–7 JULY, 1926, S. 17f [Young India, 29.4.1926])
Mit Blick auf die Kolonialherrschaft der Briten bedeutet dies für ihn, dass es geradezu unmoralisch ist, einen Menschen zu zeugen, weswegen Gandhi 1920 formuliert: „Wenn wir uns vermehren, erhöhen wir nur die Anzahl der Sklaven und Schwächlinge und bleiben bei alledem hilflos, von Krankheiten heimgesucht und vom Hunger geplagt. Erst nachdem Indien ein freies Land geworden, vermeidbares Verhungern abwenden kann… und der Malaria, Cholera, Grippe und anderen Epidemien gewachsen ist, haben wir ein Recht auf Nachkommen. Ich will dem Leser nicht verhehlen, dass ich Berichte über Geburten in diesem Land mit großem Kummer zur Kenntnis nehme.“ (Bd. 21: 1 JULY, 1920–21 NOVEMBER, 1920, S. 357)
Wie jetzt näher auszuführen ist, schlägt Gandhi indes nicht nur als Politiker vor, die britische Herrschaft damit zu bekämpfen, dass man ihr mittels Zeugungsstreik die Beherrschten entzieht – als Ethiker denkt er tiefer, aufs Seinsganze gerichtet: Die Engländer kamen und sie werden gehen, Defizite, Krankheiten und Sterbenmüssen aber bleiben als ebenso basale wie nichthintergehbare Daseinsdimension. Krieg und Gewalt werden nur in dem Maße überwunden, indem wir keine Menschen mehr in ein Dasein treten lassen, das bereits strukturell gewaltgeprägt und ruinös ist, insofern nämlich jeder Gezeugte von seinen Eltern verurteilt wurde, zugrunde zu gehen. Mit seinen von antizipierendem Mitgefühl und wahrhafter Verantwortung geprägten Reflexionen schwört Gandhi einem verbreiteten pronatalen Argument ab, das da lautet: Wenn ICH ein Kind in die Welt setze, so besteht die Chance, dass es diese Welt ein klein wenig besser machen wird. Gandhis Prinzip Verantwortung lautet: Bevor daran gedacht werden dürfte, Kinder in die Welt zu setzen, müssten die aktuell Lebenden die Welt für die Ankunft der Kinder aufbereitet haben. Hiervon war aber nicht nur das koloniale Indien der 1920er Jahre Jahrzehnte entfernt. Der von der Vision eines ewigen Friedens bewegte Freiheitskämpfer Gandhi weiß, dass nicht allein Indien an einem kolonialen Defekt leidet, sondern menschliches Dasein schlechthin von dem angedeuteten strukturellen Defizit durchzogen ist, welches nur Hand in Hand mit der Existenz von Menschen auf der Erde aufgehoben werden kann. Dieses strukturelle Defizit ist die Koextensivität von Zeugung, Dasein und Gewalt. Daher lautet Gandhis Grundsatz:
„Wenn Zerstörung Gewalt ist, dann ist auch die Schaffung von etwas Gewalt. Deshalb beinhaltet die Zeugung Gewalt. Die Schaffung von etwas, was dazu verurteilt ist, zugrunde zu gehen, beinhaltet in der Tat Gewalt.“ (Bd. 37: 11 NOVEMBER, 1926–1 JANUARY, 1927, S. 337f)
„Als konsequenter Verfechter des Prinzips der Gewaltlosigkeit (Ahimsa) kann Gandhi die Hervorbringung zum Sterben verurteilter neuer Menschen – sei es im Indien der Kolonialzeit oder irgendwo anders oder irgendwann sonst in der Welt an Hunger, Krankheiten, Gewalt, Unfällen oder infolge der Kolonisierung ihrer Lebenswelt – nicht gutheißen.“
Vielleicht ist Gandhi die einzige Friedensikone, die mit vollständigem Recht als eine solche angesehen wird: Frieden herrscht nicht bereits dann, wenn es keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr gibt, sondern erst dann, wenn Menschen Menschen nicht länger in ein gewaltpräformiertes Dasein treten lassen: Wer einen Menschen zu zeugen gedenkt, spielt mit dem Gedanken, einen Menschen dazu zu verurteilen, zugrunde gehen zu müssen – ein Akt der Gewalt, den wir mit Gandhi verurteilen sollten.
Nicht eigene Nachkommen sind für Gandhi das Ziel eines menschlichen Lebens, sondern das den Buddhismus ebenso wie den Hinduismus prägende Prinzip des Moksha: die Beendigung kettenbildender Zeugungen, Geburten, Tode und wieder Geburten. In einer Diskussion mit dem Sozialreformer G. Ramachandran (1904–1995) antwortet Gandhi im Oktober 1924 auf die Frage, ob denn die von ihm gepredigte Aufhebung der Menschheit mittels Geburtenlosigkeit nicht auch Gewalt und sogar die Zerstörung der Menschheit bedeute: „Du fürchtest also, es würde damit zum Ende der Schöpfung kommen? Nein. Das extreme logische Ergebnis wäre nicht die Auslöschung der menschlichen Spezies, sondern ihre Aufhebung auf eine höhere Ebene.“ (Bd. 29: 16 AUGUST, 1924–26 DECEMBER, 1924, S. 267f) – Die Erde jedenfalls wäre menschenleer.
Literatur:
The Collected Works of Mahatma Gandhi (Electronic Book), New Delhi, Publications Division Government of India, 1999, 98 Bände
Übersetzungen aus dem Englischen vom Autor.
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