Der Name des ostpreußischen Barocklyrikers Simon Dach (1605-1659) dürfte heute, mehr als 450 Jahre nach seinem Tod, nur noch wenigen Literaturkennern ein Begriff sein. Selbst das in niederpreußischer Mundart geschriebene Liebesgedicht „Anke von Tharaw“ (1636), das der im ostpreußischen Mohrungen geborene Johann Gottfried Herder (1744-1803) unter dem Titel „Ännchen von Tharau“ aus dem „treuherzigen, starken Volksdialekt“ ins Hochdeutsche übertrug, wird heute gelegentlich als „Volkslied“, dessen Verfasser also unbekannt ist, bezeichnet.
Simon Dach, in Memel geboren und mit knapp 54 Jahren, auf der Höhe seiner Schaffenskraft, an der Schwindsucht in Königsberg/Preußen gestorben, war der Sohn eines Gerichtsdolmetschers für Litauisch. Allein der Beruf des Vaters könnte dazu verleiten, in einem Exkurs auf die Geschichte der Litauer im 16. Jahrhundert im Herzogtum Preußen einzugehen. Der Deutschordensstaat Preußen war 1525 in ein weltliches Herzogtum umgewandelt geworden mit protestantischer Bevölkerung, nachdem Herzog Albrecht von Brandenburg-Ansbach (1490-1568) die Reformation eingeführt hatte. Seit 1618, dem Jahr, als der Dreißigjährige Krieg ausbrach, war das Herzogtum Preußen mit dem Kurfürstentum Brandenburg in Personalunion verbunden. Von 1640 bis zum Tod des Dichters 1659 war Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688), der seit der Schlacht von Fehrbellin 1675 der „Große Kurfürst“ genannt wurde, der Landesherr in Preußen.
Damals siedelten, besonders im Nordosten des Herzogtums, zu Zehntausenden eingewanderte Litauer, die aus dem Großfürstentum Litauen geflohen waren, um der Leibeigenschaft zu entgehen. In Preußen waren sie dann zum Protestantismus übergetreten, beherrschten aber noch unzulänglich die deutsche Sprache, weshalb sie vor Gericht Dolmetscher benötigten. Die Gegend, wo sie siedelten, wurde „Preußisch Litauen“ oder „Kleinlitauen“ genannt. Hier in Preußen entstand die erste Bibelübersetzung ins Litauische und damit auch die litauische Schriftsprache.
Simon Dach besuchte zuerst die Große Stadtschule in seinem Heimatort Memel und wechselte 1619, im Alter von 14 Jahren, auf die Domschule in Königsberg/Preußen über, wo er im Haus seines Onkels, des Diakons Johann Vogler, wohnte. Einige Jahre später floh er vor der Pest nach Wittenberg und Magdeburg, wo er das Gymnasium besuchte. Als auch dort die Pest ausbrach, ging er zurück nach Königsberg und nahm 1626 an der Universität, der 1544 gegründeten Albertina, ein Studium der Theologie und der griechisch-römischen Literatur auf.
Nach dem Studium war er zunächst Hauslehrer bei einem Ratsherrn auf dem Kneiphof in Königsberg, 1633 wurde er Lehrer an der Domschule und 1636 Konrektor. Von Kurfürst Georg Wilhelm von Brandenburg (1595-1640) wurde er 1639 zum Professor für Dichtkunst an der Albertina ernannt und 1640 zum Magister promoviert. Ein Jahr später, inzwischen 36 Jahre alt, heiratete er Regina Pohl, die Tochter des Hofgerichtsrats Christian Pohl, mit der er eine glückliche Ehe führte, aus der sieben Kinder hervorgingen.
Im Verlauf seines, aus heutiger Sicht, kurzen Lebens (er starb ein Vierteljahr vor seinem 54. Geburtstag) wurde Simon Dach zum bekanntesten Dichter im Herzogtum Preußen. Bis heute sind 1250 „Gelegenheitsgedichte“ nachweisbar, verfasst zu Hochzeiten, Beerdigungen, Kindstaufen, Amtseinführungen und gesammelt in vier Bänden (Halle 1936/38). Er war, neben Hofgerichtsrat Robert Roberthin (1600-1648) aus dem ostpreußischen Saalfeld bei Mohrungen, Mittelpunkt und treibende Kraft des 1636 gegründeten „Königsberger Dichterkreises“, der offiziell „Gesellschaft der Sterblichkeit Beflissener“ hieß und sich regelmäßig im Gartenhaus des Königsberger Domorganisten Heinrich Albert (1604-1651) traf, der aus Lobenstein in Thüringen stammte. Diese Gartenlaube, auf der Lomse am Pregel gelegen, war von Kürbispflanzen überrankt und wurde deshalb „Kürbishütte“ genannt.
Stammgäste waren Domkantor Johann Stobaeus (1580-1646) aus dem damals polnischen, später westpreußischen Graudenz an der Weichsel, Rhetorikprofessor Valentin Thilo (1607-1662), Georg Weißel (1590-1635), Pfarrer an der Altroßgärtner Kirche und Dichter des heute noch gesungenen Kirchenlieds „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ (1623), der Altphilologe Christoph Kaldenbach (1613-1698) und zehn bis zwölf weitere Königsberger Bürger. Leider wurde der Garten schon 1641 enteignet, weil die Stadt Königsberg den Weidendamm, wie das Gelände hieß, für die Bebauung vorgesehen hatte. Die Geschichte dieser Dichtergruppe ist aufgezeichnet in des geborenen Ostpreußen Alfred Kelletat (1916-1995) Buch „Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis“ (Stuttgart 1986).
Drei Jahre vor seinem frühen Tode wurde Simon Dach zum Rektor der Universität Königsberg ernannt, Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688), der „Große Kurfürst“, belohnte ihn 1658 für seine Verdienste und schenkte ihm das Landgut Kaukeim bei Königsberg. In seiner Erzählung „Das Treffen von Telgte“ (1979) hat der aus Danzig stammende Günter Grass dem Dichter Simon Dach ein literarisches Denkmal gesetzt.
Das vorliegende Buch über den Königsberger Barockdichter Simon Dach ist aus den Beiträgen zu einer Tagung (Wissenschaftliche Leitung: Klaus Garber/Universität Osnabrück) hervorgegangen, wozu die in Bonn ansässige „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen“ am 16./17. Oktober 2009 nach Königswinter ins „Arbeitnehmer-Zentrum“ eingeladen hatte; gedacht werden sollte des 350. Todestags des Dichters am 15. April. Die fünf in diesem Sammelband vereinigten Aufsätze bieten eine Fülle von Einblicken in die Kulturgeschichte Königsbergs im 17. Jahrhundert, wobei, streng genommen, der Beitrag Klaus Garbers über Geschichte und Untergang der Wallenrodtschen Bibliothek, so gut er auch geschrieben ist und so viel er auch an Erkenntnissen vermittelt, in dieser Aufsatzreihe eigentlich fehl am Platz ist.
Martin von Wallenrodt (1570-1632) war Kanzler des Herzogs von Preußen und sammelte Bücher wie Handschriften verschiedenster Wissenszweige. Da seine erste Büchersammlung mit 3000 Bänden 1623 durch einen Brand vollständig zerstört worden war. begann der Königsberger Bibliomane mit dem Aufbau einer zweiten Sammlung, die bei seinem Tod 2000 Bände umfasste und von seinem Sohn Johann Ernst von Wallenrodt (1615-1697) übernommen und fortgeführt wurde. Diese Büchersammlung, die die Bestände der Universitätsbibliothek übertraf, wurde 1650 im Südturm des Königsberger Doms untergebracht und 1675 der Universitätsbibliothek angegliedert. Die 3500 Bände, die damals im Dom verblieben waren, wurden bei einem Bombenangriff im Sommer 1944 vernichtet, die 7000 Bände in der Universitätsbibliothek wurden nach Einnahme der Stadt durch die „Rote Armee“ am 9. April 1945 über ganz Osteuropa verstreut. Als Simon Dach 1659 verstarb, war Martin von Wallenrodt noch nicht einmal geboren.
Die Verfasser der vier anderen Aufsätze und Klaus Garber, der das Vorwort geschrieben hat, versuchen, dem heutigen Leser im 21. Jahrhundert, der Ostpreußen nicht mehr kennt, das literarische werk Simon Dachs zu erklären und auszudeuten. Er steht ziemlich am Anfang der neuhochdeutschen Literatur im Herzogtum Preußen und war für deren Entwicklung offensichtlich von ähnlicher Bedeutung wie Martin Opitz (1597-1639) in Schlesien. Der 1955 in Kaliningrad geborene Germanistikprofessor Wladimir Gilmanov war wie kein zweiter Referent in Königswinter berufen, über seinen engeren, wenn auch durch Jahrhunderte getrennten Landsmann zu sprechen. Er kennt sich aus im alten, 1945 untergegangenen Königsberg, sitzt sozusagen an der Quelle“ und kennt auch die erste Biografie, die Gottlieb Siegfried Bayer (1694-1738) im Jahr 1723 veröffentlicht hat. Er weiß auch, dass Simon Dach wegen der Pest 1626, mitten im Dreißigjährigen Krieg, von Magdeburg aus auf dem Seeweg nach Königsberg zurückgekehrt ist. Dieser Aufsatz, worin auch immer wieder Bezüge zur Königsberger Theologie im Jahrhunderts vor Immanuel Kants (1724-1804) Auftreten aufgezeigt werden, vermittelt einen ersten Eindruck vom literarischen Wirken Simon Dachs.
Die 1980 geborene Juniorprofessorin an der Universität Düsseldorf Misia Sophia Doms (heute lehrt sie in Saarbrücken) setzt sich mit „Simon Dachs dichterischem Umgang mit dem Leiden“ auseinander und greift damit einen häufig gebrauchten Topos in der Literatur des 17. Jahrhunderts auf. Hier interpretiert sie einen dreiteiligen Gedichtzyklus, der dem „gnädigen Herren und Beförderer“ Konrad von Burgsdorff (1595-1652) gewidmet war. Er war als kurbrandenburgischer Oberkämmerer und Geheimrat einer der staatlich-herzoglichen Förderer Simon Dachs gewesen. Was hier geboten wird, ist eine genaue und überzeugende, durch Fußnoten gestützte Textanalyse. Das gilt auch für die Interpretation des Hochzeitsgedichts von 1641. Die Referentin, die offensichtlich, wie die Widmung zeigt, von Hans-Henrik Krummacher in die Barocklyrik eingeführt wurde, ist tief vertraut mit den theologischen Diskursen des 17. Jahrhunderts.
Der 1946 geborene Germanistikprofessor Wilhelm Kühlmann lehrt an der Universität Heidelberg. In seinem Aufsatz versucht er, das Freundschaftsverhältnis zwischen Simon Dach und Valentin Thilo (1607-1662) zu klären. Beide waren als Professoren Kollegen an der Albertina und nahmen an den Treffen in der „Kürbishütte“ Heinrich Alberts teil. Während Simon Dach seit 1639 die Dichtkunst lehrte, vertrat Valentin Thilo, der in Königsberg und 1632/34 auch in Leiden Theologie uns Geschichte studiert hatte, in Königsberg 1634 den Magistertitel erworben und ein Lehrbuch „Pathologia oratoria“ (1647) verfasst hatte, seit 1634 das Fach Rhetorik. Simon Dach schrieb Hunderte von Kasualgedichten („anlassbezogene Poesie“), veröffentlichte aber nie eine eigene Lyriksammlung, Valentin Thilo begleitete höfisch-politische Veranstaltungen und akademische Feiern mit geschliffenen Reden. Zum Geburtstag des Kurfürsten am 16. Februar 1649 traten sie in einem „oratorischen Akt“ gemeinsam auf: Der eine lieferte die Laudatio in Versen, der andere in Prosa.
Wilhelm Kühlmann untersucht in genauer Interpretation die Kasualdichtung Simon Dachs, soweit sie auf Valentin Thilo bezogen war, wobei er sich reichhaltigen Materials bedienen kann. So gibt es ein langes Glückwunschgedicht zur Magisterpromotion am 20. April 1634 und ein Beileidsgedicht zum Tod dreier Kinder, insbesondere des 18jährigen Sohnes Albrecht 1657, die hier interpretiert werden. Wilhelm Kühlmann kommt es darauf an, den Spannungsbogen zu erfassen zwischen den vorgegebenen Stereotypen solcher Dichtung und der individuellen Ausgestaltung.
Der Aufsatz „Simon Dachs Durchbruch als Dichter 1637/38“ des offensichtlich an der Universität Riga in Lettland lehrenden Germanistikprofessors Axel E. Walter, dessen biografische Daten nicht zu ermitteln waren, ist mit fast 90 Seiten der längste in diesem Buch. Obwohl nur das Doppeljahr 1638/39 angesprochen ist, als die „Kürbishütte“ in voller Blüte stand, gewinnt der Leser den Eindruck, eineb Literaturgeschichte Königsbergs im 17. Jahrhundert geboten zu bekommen.
Der Verfasser hat seine Ausführungen in fünf Kapitel gegliedert, in deren erstem er auf die literarische Produktion Simon Dachs vor 1638 eingeht, von dem bis zum Jahresende 1637 „nur“ 90 Gedichte erschienen waren. Im Gegensatz zu den schlesischen Barockdichtern Martin Opitz (1597-1639), Andreas Gryphius (1616-1664) und Paul Fleming (1609-1640) setzte sein öffentliches Wirken als Dichter verspätet ein. Im zweiten Kapitel wird das „Epithalamium auf die Hochzeit Heinrich Alberts“ interpretiert, im dritten das „Lobgedicht auf Martin Opitz“, der Königsberg besucht hatte. Der Verfasser des Aufsatzes ist nicht nur ein ausgezeichneter Kenner der Kultur des barocken Königsbergs, sondern hat sich auch mit Helmut Motekats „Ostpreußischer Literaturgeschichte“ (1977) und Jürgen Mantheys Buch „Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik“ (2005) befasst. Das vierte Kapitel ist unter dem Titel „Das Bündnis zwischen Dichter und Hof“ der Übernahme des Herzogtums Preußen durch die Kurfürsten von Brandenburg gewidmet, die nun zunehmend zu Adressaten von Huldigungsgedichten Simon Dachs werden. Im fünften Kapitel wird die neulateinische Dichtung des Königsberger Autors gewürdigt.
Wenn man dieses Buch gelesen hat und aus dem 17. Jahrhundert wieder auftaucht, dann stellt man verwundert fest, dass sich in der Hauptstadt der politischen Insel Preußen, außerhalb der Grenzen des Habsburger Reichs, eine eigenständige Literatur entwickelt hatte, während überall sonst in Deutschland der Dreißigjährige Krieg tobte.
Klaus Garber/Hans-Günther Parplies (Herausgeber) „Simon Dach im Kontext preußischer Kulturgeschichte der frühen Neuzeit“, Verlad Duncker & Humblot, Berlin 2012, 196 Seiten, Euro 32.90
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