Im „Erinnerungskeller“ oder: „Die Verwandlung des Alltäglichen in seine impressionistische Variante“

Träume begleiten unsere Nächte und erscheinen uns zuweilen so deutlich wie die Realität. Sie können ein Bild in einem leuchtenden, strahlenden Gold malen oder nur schemenhafte Schleier in tiefem Grau bis dunklem Schwarz ziehen. Nach dem Erwachen verflüchtigen sich diese Impressionen der Nacht, die vielfach unsere Befindlichkeiten und Gefühle widerspiegeln, allerdings schnell wieder im Nirwana des schwer Greifbaren. Zurück bleibt vielleicht noch ein diffuser Schatten oder ein sich auflösendes Bild „tanzender, farbiger Punkte, die jeden Augenblick davonfliegen könnten, um sich an anderer Stelle wieder zusammenzusetzen.“ Mit wenigen, lockeren, groben und eher kurzen Pinselstrichen sowie größtenteils bis zur Skizzenhaftigkeit verschwommen dargestellten Objekten in hellen und kräftigen Farben, fing gerade die künstlerische Stilrichtung des Impressionismus diese flüchtigen Augenblicke am eindrucksvollsten ein. Nicht mehr das erzählende Thema, sein Wesen oder gar das abstrakte Ding an sich standen im Vordergrund, sondern die leuchtenden Farben und deren subjektive Wahrnehmung: eine neue Art des Malens sensueller „Eindrücke“, des Festhaltens von Sinneseindrücken auf der Leinwand. Einer der bedeutendsten Vertreter des Impressionismus und gleichzeitiger Namensgeber war Claude Monet mit seinem Landschaftsbild „Impression, soleil levant“ (1872).
Monet ist es auch, dessen „Im Park Monceau“ (Au Parc Monceau, 1878) für das Umschlagbild von Monika Marons neuem Roman „Zwischenspiel“ gewählt wurde. So generiert bereits der Einband einen wirkungsvollen und absolut stimmigen Einstieg in den Text der Autorin, der vielerlei Anleihen bei den „Künstlern des flüchtigen Augenblicks“, wie die Impressionisten zu Beginn eher verächtlich genannt wurden, enthält. Auch Marons sechzigjährige Protagonistin Ruth erwacht eines Morgens aus einem schemenhaft-körperlosen Traum: „Für einen kurzen Augenblick war er plötzlich zum Greifen nah, nur ein Gefühl, kein Bild, und dann wieder nichts. Vielleicht hatte ich vom Tod geträumt, dachte ich, so ein dunkles Nichts kann nur der Tod sein.“ Es ist der Tag der Beerdigung von Olga, der Mutter Bernhards, des Vaters ihrer Tochter, mit der sie trotz des frühen Beziehungsbruchs, eine lange Freundschaft verband. Der Traum sollte allerdings nur der Anfang einer Kette irrealer Ereignisse dieses Tages sein. Zuerst blendet sie beim Betrachten des Morgenhimmels ein dem allgemeinen Strom entgegen fliegender Wolkenfetzen. Hinzu gesellt sich eine temporäre Störung ihrer Sehfunktion. Plötzlich sieht Ruth ihre Umgebung nur noch verpixelt und verschwommen, beinahe wie hingetupft. Trotzdem setzt sie sich ins Auto, um zum Friedhof zu fahren. Völlig orientierungslos landet sie in einem Park, in welchem die Vergangenheit auf einmal zum Leben erwacht. „Verbannte Erinnerungen“ tauchen ungebeten auf und stehen ihr in Form diverser „Erinnerungsleichen“ klar und deutlich gegenüber: „…plötzlich erschienen mir Tote, und ich sprach zu ihnen wie zu Lebenden.“ Olga, die vermeintlich Bestattete, erscheint höchstpersönlich und diskutiert mit ihr über Schuld und Unschuld. Ein verstorbener Freund ihres ehemaligen Ehemannes sitzt quietschvergnügt auf einer Parkbank und sogar politische „Relikte“ ihrer DDR-Vergangenheit werfen munter ihrer abgehalfterten Parolen in den Raum, bevor zu guter Letzt sogar Francisco de Goyas um 1816 gemaltes „Das Begräbnis der Sardine“ zum schaurig-grotesken Leben erweckt.
Monika Maron hat ganz im Stil der Impressionisten ihre ganz persönliche, illusionistische Wiedergabe der Realität literarisch umgesetzt. Nicht das Objekt an sich scheint ihr von Bedeutung, sondern die Nuancen und Übergänge und der dadurch entstehende Eindruck. Sie löst Konturen auf und lässt der Fantasie einen großen Raum. Ganz nach dem Motto: „Ein Roman sei schließlich kein Lexikon, in dem alles vorkommen müsse, was es gibt. Die Literatur lebe von Metaphern und Gleichnissen und nicht von der plumpen Benennung der Wirklichkeit.“ Der Leser nimmt dabei aktiv an der Entstehung und Wirkung ihres Bildes teil. Fragen und Gedanken ihrer Protagonistin geraten somit auch zu einem ganz persönlichen Disput: „Was ist so ein Ich eigentlich? (…) Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt? (…) ob nicht vielleicht das Kind, das ich einmal war, mir von allen bisherigen Ichs am vertrautesten geblieben war?“ Maron lässt Ruth über das Unverständnis des „Wegseins“ von Personen philosophieren, über Schuld und Unschuld, über verpasste Lieben, Lebensentwürfe und deren Haltbarkeit und über das Älterwerden. Auch politische Gedanken werden nicht ausgespart, zum Beispiel der Irrsinn der Bespitzelung durch das MfS.
Gehalten ist das sehr gut und flüssig zu lesende „Zwischenspiel“ in einem wunderbar reflektierenden Duktus. Auch wenn der Text etwas „schwer Benennbares, dass allen Gewissheiten gleich wieder den Boden entzog, das im Tragischen das Lächerliche durchscheinen ließ und umgekehrt, das glauben ließ, der Autor verfüge über ein geheimes Wissen, das ihn Menschen und Räume deutlicher erkennen ließ als andere…“ enthält, gestaltet sich der geschilderte „wundersame Irrsinn eines Tages“ zu einem unglaublich intensiven und bereichernden Leseerlebnis der besonderen Art, bei dem letztendlich sogar in der Darstellung des Schatten- oder Totenreiches eine logische Quintessenz gefunden wird. Denn das “ Leben ist reiner Zufall. (…) erst im Dunkel des Todes erscheint unser Leben im rechten Licht.“ Oder eben beim Hinabsteigen in unseren eigenen „Erinnerungskeller“.

Monika Maron
Zwischenspiel
S. Fischer Verlag (2013)
192 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100488210
ISBN-13: 978-3100488213
Preis: 18,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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