„Warum sind wir hier?“, fragt der fünfjährige David den 45-jährigen Simon. „Wir haben die Chance bekommen zu leben und wir haben diese Chance ergriffen. Zu leben ist großartig. Das Größte, was man sich vorstellen kann.“ Ein bedeutungsschwangerer, aber auch ungemein widersprüchlicher Satz. Leben, egal unter welchen Bedingungen und ohne die Frage eines Davor und Danach? Ist Leben absolut oder was gehört unabdingbar dazu? Wie soll man leben und was ist die menschliche Natur? Keinen geringeren Fragen stellt sich der J. M. Coetzee in seinem neuen, sehr philosophisch angehauchten Roman, der zudem jede Menge biblische Bezüge aufweist und diese mit literarischen Anleihen verwebt und zwar mit Miguel de Cervantes „Don Quijote“, diesem ungewöhnlichen Buch, das uns die Welt durch zwei Augenpaare zeigt.
Jeder von uns strebt nach einem erfüllten und befriedigenden Leben, von dem man letzten Endes sagen kann: Ich bereue nichts. Doch bleibt dies für die meisten unter dem Strich ein Wunschtraum. Zu spät kommt die Einsicht, dass Energie in viel zu viel Unwichtiges gesteckt wurde und Dinge, denen man keine Bedeutung beimaß, vielleicht das sogenannte Zünglein an der Waage gewesen wären, um sein persönliches Lebensziel zu erreichen. Daher sollte man sich immer wieder die Frage zu stellen: Was will ich? Was ist mir wichtig? Wer bin ich? Fragen, die anregen, sich mit der eigenen Vergangenheit, seinen Wünschen und Bedürfnissen und seiner Zukunft zu beschäftigen. Durch Fragen begeben wir uns auf eine Reise zu uns und unserer Zukunft, die unser Leben positiv verändern kann. Unsere Antworten beinhalten einen Fahrplan, einen Entwurf für ein neues Leben.
In J. M. Coetzees konstruiertem Neu- und Niemandsland, namens Novilla, scheinen die Bewohner am Ende ihrer ganz persönlichen Reise angekommen zu sein. Alle wurden auf eine nicht näher erwähnte Art von ihren Erinnerungen und ihrer Vergangenheit „reingewaschen“: „Wir fangen hier neu an. Wir fangen als unbeschriebenes Blatt an, als jungfräuliches Blatt.“ Sie verrichten schwerste Arbeiten ohne Murren, sind freundlich, hilfsbereit, besuchen in ihrer Freizeit philosophische Seminare und Diskurse und üben sich in Bescheidenheit. Sie sind allem Anschein nach mit sich und ihrem Leben klaglos zufrieden. Niemand stellt mehr Fragen. Doch etwas fehlt. Liebe und Leidenschaft für das jeweils andere Geschlecht ist ihnen völlig abträglich. Ist ein derart emotionsloses und nahezu verstörend ereignisarmes Leben wirklich das, was der Mensch braucht?
Neuankömmling Simon steht dem Ganzen zwiespältig und äußerst skeptisch gegenüber. Hinzu gesellen sich die permanenten Fragen des kleinen David, mit dem er auf demselben Schiff am selben Tag ankam, um gemeinsam in ein neues Leben einzutreten. Als dessen Begleiter, Beschützer und Ersatzvater kommt Simon die Aufgabe zu, das Kind seiner Mutter zuzuführen, die es auf unerklärliche Weise verlor oder nie hatte. Eine geeignete Kandidatin scheint die jungfräuliche, von der Außenwelt bis dato behütete und abgeschirmte, tennisspielende Inés zu sein. Doch ist sie wirklich die richtige Wahl oder hat ihn dabei vielleicht sein Bauchgefühl verlassen? Sehr viele Sympathiepunkte hat ihr der Autor jedenfalls nicht mit auf den Weg gegeben. Hinzu kommt der hochintelligente, nervtötend altkluge David, der sich weder dem staatlichen Schulsystem, noch seinen erwachsenen Betreuern beugen will. Drapiert mit schwarzem Umhang und cooler Sonnenbrille spricht er lieber eine Geheimsprache und glaubt, dass Zahlen mehr sind als Eins-plus-Eins, ja, dass zwischen ihnen dunkle Abgründe und Spalten aufwarten. Einzig ein Bilderbuch aus der Bibliothek – eben jener „Don Quijote“ – generiert sich für ihn als das Maß aller Dinge. Doch auch wenn der kleine Knilch sich immer mehr zum Despoten entwickelt, so hat er einen entscheidenden Vorteil seiner emotionslosen Umwelt gegenüber: er ist kein Geschöpf der Erinnerung. „Was, wenn dieser Junge der Einzige unter uns ist, der Augen hat zu sehen? (…) Kinder leben in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit. Warum sie nicht zum Vorbild nehmen? Anstatt darauf zu warten, verklärt zu werden, warum nicht versuchen, wieder wie ein Kind zu sein?“
Zwischen Fakten und Fiktionen changiert das neue Buch des Literaturnobelpreisträgers, das Elemente des Don Quijote und des Neuen Evangeliums auf raffinierte Art und Weise verknüpft. Seine literarisch erschaffene, sterile Welt strotzt zwar vor Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, bleibt aber völlig distanziert und nahezu emotionslos. Dieser auf den ersten Blick wünschenswerten, „dieser besten aller möglichen Welten“, fehlt etwas ganz Entscheidendes: Emotionen und Leidenschaft. „Wir werden regelrecht auf einer Wolke des Wohlwollens getragen. Aber es bleibt alles ein wenig abstrakt und die Leere verströmt eher Trostlosigkeit als Frieden.“ Kann Wohlwollen allein unsere Bedürfnisse befriedigen? Ist ein Leben ohne Sehnsüchte und Verlangen tatsächlich erstrebenswert? Sollte man die Schatten der eigenen Erinnerungen „reinwaschen“ und auf das Eingreifen des vorherbestimmten Schicksals warten? Fragen, die der Autor mit gewohnt nüchternen Sätzen, verwobenen mit feinen Humor, zwar nicht beantwortet, aber deren möglichen Lösungsweg er als Gespinst in die Gedanken des Lesers setzt, wo er dann weitere Verästelungen und Verdrahtungen erhält. „Die Kindheit Jesu“ erweist sich als intellektuelles Abenteuer, das fasziniert und gleichzeitig verstört, dessen agierenden Personen man größtenteils alles andere als Sympathie entgegenbringt und dessen Ende den Leser keinesfalls erlöst zurücklässt. Ein Text, der sich wahrscheinlich erst beim zweiten Lesen in voller Größe zu erschließen beginnt.
J. M. Coetzee
Die Kindheit Jesu
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Titel der Originalausgabe: „The Childhood of Jesus“
S. Fischer Verlag (Oktober 2013)
352 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100108256
ISBN-13: 978- 3100108258
Preis: 21,99 EUR
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.