„Versuch‘s, die verstümmelte Welt zu besingen“ Erinnerungen an das berühmte Gedicht von Adam Zagajewski zum Anlass von 9/11

feuerwehrmann schutt und asche 9 11 katastrophe, Quelle: 12019, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Wenn in diesen Tagen an die furchtbaren Terroranschläge vom 11. September 2001 in Manhattan erinnert wird, dann sollte die lyrische Antwort des berühmten polnischen Dichters Adam Zagajewski zu diesem Schreckensereignis nicht fehlen. Der polnische Lyriker zählt zu den bedeutendsten Dichtern seines Landes im 20. Jahrhundert und ist am 21. März 2021 in Krakau im Alter von 75 Jahren gestorben. Wegen regimekritischer Äußerungen hatte er in seinem Heimatland Polen 13 Jahre lang Publikationsverbot und ging deshalb ins Exil nach Paris und in die USA.

„Versuch‘s, die verstümmelte Welt zu besingen“

Nachdem die Twin Towers in Schutt und Asche versunken waren, raffte sich Adam Zagajewski angesichts dieser fulminanten Zerstörung zu einem tragischen Trostgedicht auf. Dieses erschien im Magazin „New Yorker“ und wurde weltbekannt. Ein paar Jahre nach den Terroranschlägen erschien der deutschsprachige Gedichtband „Die Wiesen von Burgund“ von Adam Zagajewski im Carl-Hanser-Verlag, in den das Gedicht zu der Übersetzung von Karl Dedecius aufgenommen wurde.

Es lautet:

Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen:

Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen.

Denke an die langen Junitage,

und an die Erdbeeren, die Tropfen des Weins rosé

An die Brennesseln, die methodisch verlassene

Gehöfte der Vertriebenen überwucherten.

Du mußt die verstümmelte Welt besingen.

Du hattest die eleganten Jachten und Schiffe betrachtet;

Eins davon hatte eine lange Reise vor sich,

ein anderes erwartete nur das salzige Nichts.

Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen.

Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen.

Du solltest die verstümmelte Welt besingen.

Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen wart

in dem weißen Zimmer und die Gardine sich bewegte.

Erinnere dich an das Konzert, als die Musik explodierte.

Im Herbst sammeltest du Eicheln im Park

und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde.

Besinge die verstümmelte Welt

und die graue Feder, die die Drossel verlor,

und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet

und wiederkehrt.

            (Adam Zagajewski, Die Wiesen in Burgund, 2013)

Zur Entstehungsgeschichte des Gedichts

Adam Zagajewski hat sein Gedicht „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“ nicht nach den Terroranschlägen von 9/11 geschrieben, sondern fast zwei Jahre vorher. Die erste Version dieses Gedichtes entstand, als er mit seinem Vater eine Wanderung durch verlassene ukrainische Dörfer unternommen hat, deren Bewohner zwangsumgesiedelt worden waren. Diese verlassenen Dörfer haben ihn stark beeindruckt. Sie wirkten wie verlassene Geisterstädte. Zagajewski verdeutlichte seine Erlebnisse mit den Worten: „Diese leeren Dörfer, das habe ich nie vergessen. Die Häuser waren leer, die Obstbäume völlig verwildert und gleichzeitig lag darin eine wilde Schönheit.“

Zagajewski hatte eine besondere Beziehung zu seinem Vater. Er hat mit ihm wiederholt die Orte seiner Kindheit besucht. In Interview sprach Zagajewski mehrmals davon, dass er zwei Vaterländer verloren habe – zuerst verlor er Lemberg, wo er geboren wurde. Bereits nach vier Monaten mussten seine Eltern umgesiedelt werden. Das ehemals polnische Lemberg wurde jetzt sowjetisch-ukrainisch. Es erfolgte die Zwangsumsiedlung der Familie nach Gleiwitz, einer ehemals preußischen Stadt, in der auch der Feldzug gegen Polen und damit der Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 organisiert wurde. Für Zagajewski entstand dieses Gedicht „Versuch‘s, diese verstümmelte Welt zu besingen“ aus dem Erleben des biographisch verwurzelten mehrfachen Weltverlustes. Er hat die Welt seiner Kindheit verloren und das wurde ihm bei der Wanderung mit seinem Vater durch die verlassenen ukrainischen Dörfer im Jahr 1999 nachdrücklich bewusst. Im September 2001 sah Zagajewski die Bilder der zerstörten Twin Towers in Manhattan, die in Schutt und Asche lagen. Für ihn war hier eine unmittelbare Verbindung hinsichtlich Zerstörung und Weltverlust. Zagajewski überarbeitete sein Gedicht und bot es für die Sonderausgabe 9/11 der Zeitschrift „New Yorker“ an. Die Resonanz auf dieses Gedicht war weltweit überwältigend!

„9/11 – ein Wendepunkt?“

Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 hat sich die Welt grundlegend verändert. Ein Rückblick auf die inzwischen vergangenen 20 Jahre macht gravierende globale Veränderungen deutlich. Da das Hauptquartier des geflohenen Osama Bin Laden – dem Drahtzieher dieser furchtbaren Terrorattacken – sich in Afghanistan befand, begann hier der Kampf gegen den islamistischen Terror und gegen die Taliban. Zahlreiche Staaten der westlichen Welt unter der Führung der USA schickten Soldaten nach Afghanistan. Der von den USA ausgerufene „Krieg gegen den Terror“ trug die Bezeichnung „Operation Enduring Freedom“. Zwei Jahrzehnte lang dauerte dieser Krieg gegen den Terror und erst 2021 begann der Rückzug der Truppen. Die Kosten für diesen Militäreinsatz betrugen für die USA etwa 820 Milliarden US-Dollar und für Deutschland mehr als 12 Milliarden Euro. Nach dem Terror von 9/11 folgten weitere globale Krisen: im Jahr 2003 der Irakkrieg und im Jahr 2008/2009 die globale Finanzkrise. Seit Ende 2019 wird die ganze Welt durch die Corona-Pandemie in Atem gehalten und zunehmend wird die Welt durch Naturkatastrophen im Rahmen des Klimawandels erschüttert. Was ist also aus der „verstümmelten Welt“ des Lyrikers Adam Zagajewski geworden?

Adam Zagajewski – „ein Europäer der besten Art“

Adam Zagajewski hat ja am eigenen Leib erfahren, dass er wegen politischer Verfolgung ins Exil ging. Als amerikanischer Literaturprofessor und Schriftsteller pendelte er zwischen den USA und Paris hin und her. Dabei hat er die Entwicklung seines Landes Polen sorgsam verfolgt und sich wiederholt kritisch und besorgt zu den aktuell bedrohlichen populistischen Tendenzen und den Einschränkungen des Rechtsstaats geäußert. Zagajewski war schon immer ein Kosmopolit und war beseelt vom „europäischen Traum“. Neben seiner Muttersprache Polnisch sprach er auch fließend Russisch, Englisch, Deutsch und Französisch. Die meisten seiner Bücher wurden in die deutsche Sprache übersetzt. In der deutschen Literaturszene fand er besonders große Beachtung und Anerkennung. Die meisten Literaturpreise hat er sicherlich nicht zufällig in Deutschland erhalten. Seine Rückkehr nach Polen im Jahr 2002 eröffnete ihm die Möglichkeit, Deutschland häufig zu Lesungen und Literaturveranstaltungen zu besuchen. Er erhielt im Jahr 2002 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und den Horst-Bienek-Preis für Lyrik. Im Jahr 2003 folgten der Würth-Literaturpreis und die Thüringer Poetikdozentur, im Jahr 2014 der Eichendorff-Literaturpreis, im Jahr 2015 der Heinrich-Mann-Preis und 2016 der Jean-Améry-Preis. Im Jahr 2017 wurde ihm der renommierte Prinzessin-von-Asturien-Preis verliehen.

Der Kosmopolit Adam Zagajewski war in den fast zwei Jahrzehnten nach seiner Rückkehr nach Polen der deutschen Literaturszene sehr präsent. Dabei zeigte er sich immer als der weltoffene Europäer, der auf Demokratie und Freiheit in der Zukunft Europas hoffte. Mit dem Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“, Sebastian Kleinschmidt, war er jahrzehntelang befreundet. Dieser widmete ihm ein Porträt mit dem Titel „Ein Europäer der besten Art“. Darin beschreibt er Adam Zagajewski sehr treffend wie folgt:

„Denn wenn einer ein Homme de Lettres genannt werden darf – und davon spreche ich – , dann er, dann dieser geistvolle, warmherzige, diskrete, ironische und selbstironische Dichter aus Krakau. Er ist ein Europäer der besten Art, gentle, taktvoll, welterfahren, vielsprachig, tolerant, geschichts- und traditionsgewusst. In seinem Denken und Schreiben verbinden sich Dinge, die selten verbunden sind, nämlich Romantik und Intellektualität, Mystik und Aufklärung Wehmut und Zuversicht.“

(Sebastian Kleinschmidt, 2020, S. 197)

Der europäische Traum von Adam Zagajewski ist aktuell durch populistische und rechtsautoritäre Tendenzen in den meisten europäischen Staaten bedroht. Um jedoch mit dem berühmten Philosophen Karl Popper zu sprechen:

„Die Zukunft ist offen.“ Und so bleibt die Hoffnung, dass die demokratischen Gegenkräfte endlich stärker werden.

Der Titel des Gedichts als Leitmotiv zahlreicher Nachrufe und Beiträge

Das Gedicht „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“ machte Zagajewski weltbekannt. In den polnischen, deutschen und amerikanischen Literaturkreisen war er bereits vorher als einer der großen polnischen Lyriker bekannt. Das Gedicht fand jedoch weltweit so viel Anerkennung und Beachtung, dass es schließlich zu einem „poetischen Markenzeichen“ oder „lyrischen Label“ von Adam Zagajewski wurde. Bereits vor seinem Tod erschienen verschiedene Beiträge, in denen der Titel des Gedichts zur Überschrift des Beitrags wurde. Im Jahr 2013 besuchte der Redakteur Burkhard Reinartz Adam Zagajewski in Krakau und gestaltete im Anschluss eine Rundfunksendung mit dem Titel „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“, die am 7. Februar 2014 im Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde. In der FAZ erschien am 19.4.2020 ein Wiederabdruck des Gedichts „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“ mit einem Beitrag von Jan Wilm. Das Gedicht wurde in die sehr renommierte „Frankfurter Anthologie“ aufgenommen.

Nach dem Tod von Adam Zagajewski am 21. März 2021 erschienen weltweit in zahlreichen renommierten Zeitungen Nachrufe auf ihn. Es ist sicherlich kein Zufall, dass einige Nachrufe den Titel des Gedichts „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“ für ihren Nachruf wählten.

Michael Braun (2021) schrieb unter diesem Titel für seinen Nachruf für die Wochenzeitschrift „Die Zeit“, Artur Becker wählte dieselbe Überschrift für die „Frankfurter Rundschau“ und Gerrit Bartels für den Berliner „Tagesspiegel“. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Überschrift für Beiträge von Adam Zagajewski so häufig auftaucht. Er hat damit einen Nerv getroffen. Sein Gedicht ist gespeist durch die leidvolle Erfahrung, die er selbst erlitten hat: Wie die Twin Towers in Manhattan als Symbol amerikanischer Macht zerstört wurden, so erlebte auch Adam Zagajewski in seiner Kindheit den Weltverlust in seiner Geburtsstadt Lemberg. Der Weltverlust wurde für Zagajewski in den achtziger Jahren „wiederbelebt“, als er ins Exil nach Paris ging. Er verließ seine geliebte Stadt Krakau und erlebte wieder einen Weltverlust oder wie er es nannte –  ein „verlorenes Vaterland“.

Wie verstümmelt ist die Welt heute?

Das furchtbare terroristische Zerstörungswerk von 9/11 war – rein topologisch – ein regionales Ereignis in Manhattan, an das durch ein entsprechendes Mahnmal erinnert wird. Gleichwohl ist das terroristische Netzwerk auch heute noch weltweit verzweigt. Nach dem Abzug der Nato-Truppen Mitte 2021 flackern die Kämpfe der Taliban in Afghanistan wieder auf. Neue globale Krisen sind hinzugekommen: Seit fast zwei Jahren erschüttert die Corona-Pandemie die ganze Welt. Mittlerweile sind 4,2 Millionen Todesopfer zu beklagen. Überlagert wird diese Pandemie durch häufige weltweit auftretende Naturkatastrophen, die eindeutig mit dem Klimawandel in Verbindung zu bringen sind: Dürre-Katastrophen, Waldbrände, Überschwemmungen, Hochwasser und Orkane verdeutlichen diese Klimakrise. Im Gegensatz zu den plötzlichen, aber zeitlich begrenzten Terroranschlägen in New York haben die jetzigen Krisen, Katastrophen und Bedrohungen eine andere zeitliche Dynamik. Es geht jetzt um jahrelang andauernde globale Krisen, in denen das Überleben der Menschheit und der Erde bedroht erscheint. Zwei Jahrzehnte nachdem Zagajewski sein Gedicht geschrieben hat, ist die Welt offensichtlich „verstümmelt“ – nur anders als vor 20 Jahren.

Literatur:

Bartels, Gerrit (2021) Die verstümmelte Welt besingen.Tagesspiegel vom 22.3.2021

Becker, Artur (2021) Nachruf: Die verstümmelte Welt besingen. Frankfurter Rundschau vom 22.3.2021

Braun, Michael (2002) Adam Zagajewski – Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung. Laudatio zur Preisverleihung.

Braun, Michael (2021) Die verstümmelte Welt besingen. Die Zeit vom 22. März

Csef, Herbert (2021) Der Jahrhundert-Dichter. Ein Nachruf auf Adam Zagajewski. Tabularasa Magazin vom 1. Mai 2021

Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (2015) Adam Zagajewski. Lyriker und Essayist. Vorstellungsrede von 2015

Hueck, Carsten (2018) „Poesie existiert ontologisch. Es gibt sie irgendwo“. Adam Zagajewski. Neue Zürcher Zeitung vom 2.1.2018

Hueck, Carsten (2018) Der Dichter des Sichtbaren. Mit Adam Zagajewski durch Krakau. Deutschlandfunk Kultur – Zeitfragen vom 24.8.2018

Kleinschmidt, Sebastian (2019) Ein Europäer der besten Art. Der Dichter Adam Zagajewski. In: Matthias Bormuth (Hrsg.): Offener Horizont. Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft 6/2019, S. 197-203

Reinartz, Burkhard (2013) Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen. Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski. Deutschlandfunk vom 7. Februar 2014

Trahms, Gisela (2020) Adam Zagajewski. Mein Land kennt jetzt neue Probleme. Die Welt vom 21.2.2020

Wilm, Jan (2020) Adam Zagajewski: „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.4.2020

Zagajewski, Adam (2000) Ich schwebe über Krakau: Erinnerungsbilder. Carl Hanser-Verlag München

Zagajewski, Adam (2003) Die Wiesen von Burgund. Ausgewählte Gedichte. Carl Hanser-Verlag München

Zagajewski, Adam (2008) Die Verteidigung der Leidenschaft. Carl Hanser-Verlag München

Zagajewski, Adam (2012) Unsichtbare Hand. Carl Hanser-Verlag München

Zagajewski, Adam (2014) Die kleine Ewigkeit der Kunst: Tagebuch ohne Datum. Carl Hanser-Verlag München

Zagajewski, Adam (2017) Asymmetrie. Carl Hanser-Verlag München

Zagajewski, Adam (2021) Poesie für Anfänger. Carl Hanser-Verlag München

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef    

Oberdürrbacher Straße 6

97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

Über Herbert Csef 150 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.