In Camus´ Roman „Die Pest“ kommt dieser seltsame Typ vor, Grand, der ein Buch schreiben möchte. Aber eins, das vollkommen ist. Er erklärt dem Doktor Rieux:
„«Sehen Sie, Herr Doktor, was ich will ist folgendes: am Tag, da das Manuskript zum Verleger kommt, soll der nach dem Lesen aufstehen und zu seinen Mitarbeitern sagen: » Diese unverhoffte Erklärung überraschte Rieux. Es war ihm, als mache sein Begleiter die Gebärde des Hutabnehmens: er hob die Hand zum Kopf und streckte dann den Arm waagrecht aus. […]
«Jawohl», sagte Grand, «vollkommen muss es sein.»“
Was Grand hier will, ist das, was insgeheim oder offen jeder Autor will. Man sollte die Menschen wahrlich nicht mit unvollkommenem Zeug belästigen. Und dieser Wunsch kostet „viel Mühe und Schmerzen“. Ist er wohlgemeint oder zeugt er von Größenwahn?
„Grand sprach indessen immer weiter, doch erfasste Rieux nicht alles, was er sagte. Er verstand bloß, dass das betreffende Werk schon zahlreiche Seiten umfasste, daß es aber seinem Autor viel Mühe und Schmerzen bereite, es zur Vollkommenheit zu erheben. «Ganze Abende, ganze Wochen für ein einziges Wort . . . und manchmal ein einfaches Bindewort.» An dieser Stelle hielt Grand inne und packte den Arzt bei einem Mantelknopf. Die Worte holperten aus seinem beinahe zahnlosen Mund. «Verstehen Sie mich wohl, Herr Doktor. Zur Not ist es ziemlich leicht, zwischen und zu wählen. Schwieriger wird es schon bei und . Und noch schlimmer ist es mit und . Aber das allerschwerste ist ganz sicher, zu entscheiden, ob man setzen darf oder nicht.»
«Aha», sagte Rieux, «ich verstehe.»
Und er ging weiter. Der andere schien verwirrt und eilte ihm nach.
«Verzeihen Sie mir», stammelte er. «Ich weiß gar nicht, was heute abend mit mir los ist.»“
Die Suche nach Vollkommenheit kann den Menschen dazu bringen, ein Hochstapler oder verrückt zu werden. Denn natürlich ist er nicht vollkommen und kann auch nichts wirklich Vollkommenes schaffen. Wenn er das einsieht, hat er zwei Möglichkeiten. Er kann resignieren und etwas zustande bringen, was einigermaßen ordentlich ist – unter dem Motto: Immerhin etwas, besser als nichts. Letztlich weiß er aber, dass er an seinem Anspruch gescheitert ist. Er hat vielleicht Erfolg in der Welt, bekommt Preise, aber eigentlich ist er ein Scharlatan, der für halbe Sachen auch noch Lob erhält.
„Rieux klopfte ihm leicht auf die Schulter und sagte, er möchte ihm helfen, seine Geschichte interessiere ihn sehr. Der andere schien wieder etwas erleichtert, und vor dem Haus angelangt, bat er den Arzt mit leichtem Zögern, noch einen Augenblick hinaufzukommen. Rieux nahm an. Grand lud ihn ein, im Eßzimmer am Tisch Platz zu nehmen, auf dem zahllose, mit winziger Schrift bedeckte Blätter lagen, aufdenen es von Streichungen wimmelte.
«Ja, das ist es», sagte Grand auf den fragenden Blick des Arztes. «Aber wollen Sie nicht etwas trinken? Ich habe ein bißchen Wein.»
Rieux lehnte ab. Er schaute die Blätter an.
«Schauen Sie nicht hin», sagte Grand. «Das ist mein erster Satz. Er macht mir Mühe, viel Mühe.»“
In Stanley Kubricks Film „The Shining“ (nach Stephen King) macht sich Hausmeister Jack Torrance daran, ein Buch zu schreiben. Er ist ja auch Schriftsteller und will den Winter im leeren Overlook-Hotel nutzen, ein großartiges Werk zu schreiben. Er arbeitet versessen daran, bis seine Frau entsetzt bemerkt, dass das dicke Typoskript seitenlang nur einen Satz enthält: „All work and no play makes Jack a dull boy.” In der deutschen Fassung fast noch besser, weil das Sprichwort den Widerspruch zwischen dem Anspruch auf zügige Vollendung und schöpferischer Impotenz aufzeigt: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“
Das ist die zweite Möglichkeit. Die Suche nach Vollkommenheit kann den Menschen so hemmen, dass er gar nichts mehr zustande bringt. Auch Grand kämpft mit dem ersten Satz. Denn sein Buch ist über den ersten Satz noch überhaupt nicht hinaus gekommen, obwohl es immer dicker wird. Es ist nicht dasselbe wie der Wahnsinn von Torrance, aber es ist auch eine Form von Verrücktheit. Er wendet den Satz über die schlanke Amazone, die auf einem Schimmel durch den Bois de Boulogne reitet, hin und her. Schon dieser erste Satz darf nur vollkommen sein, und weil er es partout nicht sein will, kommt Grand nicht weiter. Wie soll das Buch nur vollkommen werden, wenn es schon der erste Satz nicht ist? Das als Schreibblockade zu bezeichnen, ist euphemistisch, ja fahrlässig. Es geht schlicht um die Einstellung zur Welt.
Die katholische Morallehre der Summa Theologica kann hier zwei der Todsünden erkennen: superbia, den Stolz und acedia, den Überdruss. Stolz ist nach Thomas von Aquin, „wenn jemand willentlich über das, was er ist, hinausstrebt.“ Ein vollkommenes Werk gibt es nicht, also darf man es auch nicht anstreben. Überdruss wiederum steckt in beiden Reaktionen auf die Einsicht in die Unvollkommenheit: Eine nach bestem Wissen und Gewissen gefertigte, talentierte, ja sogar vielleicht richtig gute Arbeit nur deshalb zu verachten, weil sie nicht vollkommen ist, ist ebenso schlecht wie die Weigerung, überhaupt noch etwas zu tun oder fertig zu bringen, nur weil es nie vollkommen werden kann. Der Heilige Thomas spricht hier voll psychologischem Verständnis von der „beschwerenden Traurigkeit, die den Geist des Menschen so niederdrückt, dass er alle Lust verliert, irgendetwas zu unternehmen.“
Camus hat in seinem großen Roman die Menschen im Angesicht der Katastrophe in vier Gruppen eingeteilt, je nachdem, wie sie auf die Absurdität des Leidens reagieren. Die meisten sind Unwissende, einige revoltieren im Wissen um die Absurdität, noch weniger überwinden diese Phase und sind solidarisch. Nur ganz wenige schließlich erreichen die Phase der universalen Liebe. Im Pater Paneloux schildert Camus den christlichen Humanismus, so wie er im Arzt Rieux, dem einzigen, der die letzte und höchste Phase erreicht, den atheistischen Humanismus beschreibt. Die religiöse Haltung des Jesuiten Paneloux lehnt Camus ab. Aber man darf doch fragen, wozu er den Umweg über Existentialismus und Atheismus braucht, um am Ende als Antwort auf die Absurdität des Lebens und aller menschlichen Tätigkeit eine Antwort zu finden, die so anders nicht ist als die, die ein gewisser jüdischer Wanderprediger vor 2000 Jahren schon verkündet hat.
Und wenn Nils Minkmar den „Autor verfluchter Bücher“ heute am Jahrestag seiner Geburt in der FAZ für seine Haltung im Algerienkonflikt lobt, als er den Terror beider Seiten ablehnte, und exemplarisch einen Brief zitiert, in dem Camus die Begnadigung eines französischen Kollaborateurs und Antisemiten forderte: „Wo wäre denn die Überlegenheit dessen, was wir verteidigen, wenn wir nicht in der Lage wären, unser begründetes Ressentiment zu überwinden?“ – merkt er nicht, ebenso wenig wie die meisten Europäer heute, wo das in aller Konsequenz herkommt: „selbst unserem Todfeind die Humanität zu lassen.“ Terror und Gegenterror, Schuld und Rache, Auge um Auge – so die Logik der Geschichte. Dem hat besagter Rabbi aus Nazareth entgegengesetzt: „Leistet dem, der Böses tut, keinen Widerstand! Nein! Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.“ Nun ist das wirklich eine Utopie. Doch wer nur Erfüllbares fordert, ist banal.
Camus hat das Bild des Sisyphos bemüht, um die heroische Leistung des Menschen zu zeigen, der immer wieder sich zu neuen Taten aufrafft, obwohl ihm sein Werk unter den Händen zerrinnt. Die Sinnlosigkeit muss man erst einmal aushalten. Diese Haltung hat Camus zu einer bestimmten Auffassung von Freiheit stilisiert. Was soll denn ein Arzt wie Rieux zu seiner Tätigkeit sagen: Jeder Mensch, den er heilt, muss doch irgendwann sterben. Also wozu überhaupt noch heilen? Diese Konsequenz wäre der von Grand zu vergleichen, und man fühlt, dass sie zwar logisch, aber verfehlt ist. Es wäre ungerecht, den Roman „Die Pest“ zum Thesenroman zu machen, ja ihn auch nur auf philosophische Themen zu reduzieren. Das Buch ist große Literatur, weil in ihm gelungen ist, was Goethe so ausdrückte: „Am Ende kommt doch alles auf die Menschenmalerei an.“ Dass Camus diesen und andere Romane beendet hat, zeigt, dass er trotz aller Absurdität des Daseins daran festhielt, dass diese Tätigkeit doch sinnvoll sein könnte. Anderen Menschen eine wenn auch begrenzte, wenn auch geringe Freude zu bereiten und für Wahrheit und Menschlichkeit einzutreten, mag Rechtfertigung genug sein. Ein altmodisches Wort dafür ist Nächstenliebe. Dazu kann man aber auch ganz ohne den etwas pathetischen Heroismus eines Sisyphos gelangen, zu dem Camus sich in seiner säkularisierten Denkvariante des Christentums gedrängt fühlte. Der heilige Aquinate hätte Albert Camus nur eine demütige und dankbare Freude empfohlen darüber, in dieser Welt überhaupt fähig zu sein, etwas zuwege zu bringen. Der Algerien-Franzose meinte wieder etwas Ähnliches, als er davon sprach, wie schön und freudig es sei, am Strand in der Sonne Fußball zu spielen, doch sieht der Süditaliener einen tieferen Grund des Daseins. Abseits von heroischem Stolz, abseits von Revolte oder Resignation aus Erkenntnis liegt in dieser demütigen und dankbaren Einsicht in eine höhere Notwendigkeit zudem eine weitaus größere Freiheit als sie Camus sich vorstellen wollte.
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