König der Zeitkapsel oder: „Jeder ist jemand“

„Ein Leben ist nur dann geschützt, wenn es einer Sache gewidmet ist, die größer ist als der Mensch, der es lebt und der Sache dient.“ Große Worte von Thomas Glavinic bzw. seinem Protagonisten Jonas des für den Deutschen Buchpreis 2013 nominierten neuen Romans. Gedanken, die ihm während seines an physische und psychische Grenzen gehenden Marsches auf das Dach der Welt – den Mount Everest – kommen. Es ist eben jener Jonas, der bereits in zwei früheren Büchern des österreichischen Autors auftritt. Nach „Die Arbeit der Nacht“ (2006) und „Das Leben der Wünsche“ (2009) liegt nun der Abschluss der Trilogie vor. Ein würdiges Finale mit einem großartigen Text!
Alle drei Bücher sind auf magische Art und Weise miteinander verbunden, können allerdings völlig unabhängig voneinander gelesen werden. Sie bauen weder aufeinander auf, noch setzt das Verständnis des aktuellen Werkes die zwingende Lektüre der beiden Vorgänger voraus. Aber sie greifen immer wieder faszinierende ineinander über. Erneut beschäftigen den Autor die Motive der Angst, Einsamkeit, Sehnsucht und der Freiheit. Über allem schwebt das unendliche Mysterium der Liebe, dieser „großen Sache“, von der im ersten Satz die Rede war. Die Handlung ist erneut auf mehreren Ebenen und in diversen Zwischenreichen angesiedelt. Glavinics Held befindet sich eher in einer Zeitkapsel, die wie ein Ping-Pong-Ball im Raum herumgeworfen wird, als dass er einen stringent konstruierten Weg durchwandert. Vieles wird nur angedeutet, aber nicht endgültig gelöst. „Alles ist in Bewegung, nichts ist fertig, alles kann noch passieren oder ist vielleicht schon passiert.“, erläutert der Autor im Interview mit seiner Lektorin, das dem Buch vorangestellt ist. Aber gerade dieses Verweben und Vermischen, dieses Kommunizieren des eigenen Ichs mit einem früheren, macht den ungeheuren Reiz bei der Lektüre aus.
Als Rahmenhandlung fungiert Jonas Everest-Besteigung, die in ihrer ganzen Brutalität und Eindringlichkeit derart plastisch wiedergegeben wird, dass man meint, selbst ein Mitglied dieser Jahr für Jahr unzähligen Expeditionen zu sein, die den Berg in immer abenteuerlicher Weise zu bezwingen suchen: Tod, Verletzung und das Infragestellen der menschlichen Würde inklusive. Diese (Un-)Wirklichkeit entgleitet Glavinics Protagonisten immer wieder: „Er tauchte ab aus der Wirklichkeit, er verschwand in sich selbst, in seiner Vergangenheit, er glitt hinüber zu den Bildern, die ohnehin ständig da waren, ob er hinsah oder nicht.“ Der in Graz geborene Autor versteht es meisterhaft durch wechselnde Kapitel, Schauplätze aus dem Leben seines Protagonisten zu platzieren, beginnend in dessen ungewöhnlicher Kindheit bis zu seinen zahlreichen, rastlosen Odysseen durch die gesamte Welt. „Szenen in denen er feierte, in denen er Angst hatte, in denen er lachte, in denen er Schlimmes tat, in denen er allein war und wanderte und reiste, im Auto, im Bus, in Hunderten Zügen, in Tausenden Flugzeugen“. Immer auf der Suche nach dem einzigen, für das es wert war zu leben und das er in einem kumulierenden Punkt, im „Zentrum eines Jahrhundertsturms“ in Gestalt von Marie trifft.
In einer nüchternen und beschreibenden, keineswegs jedoch unverständlich-avantgardistischen, sondern stets gut lesbaren Sprache, ist Thomas Glavinic erneut ein Wurf auf literarisch und stilistisch allerhöchstem Niveau gelungen. Fragen durchziehen das ganze Romangefüge: „Was ist eingeschlossene Zeit“? Ist mein Ich statisch oder dynamisch? Was macht mein Innerstes aus? Wo liegt der Kern meines Wesens? Muss ich für alle Zimmer des Leben immer einen Schlüssel haben oder ist es vielleicht manchmal viel besser, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen? Was bedeutet Vergänglichkeit? Worin bestehen die Zusammenhänge der Welt? Was bin ich? Ständig gewinnt er Erkenntnisse, die bewusst oder unbewusst seine Handlungen bestimmen. Letztendlich wird klar, dass alles mit allem verbunden ist. „Niemand kann sich lösen. Entkommen gibt es keines.“
So wie auf dem düsteren Bild, das im Arbeitszimmers von Jonas' Ziehgroßvater hängt, so herrscht auch in Glavinics Roman eine nahezu gespenstische, zuweilen düstere und beklemmende Stimmung, die der Realität zu entgleiten droht. Wie ein Sog zieht das Geschehen den Leser ins Buch. Alles verschwimmt, schiebt sich ineinander, weich und kräftig, diffus und klar, imaginär und wahrhaftig, durchtanzt von Farben, Geräuschen und Bewegungen. Unglaublich beeindruckend sind Thomas Glavinics Beschreibungen am Berg, die er aus Erzählungen seines 2012 tödlich verunglückten Jugendfreundes Gerfried Göschl, der 2005 ohne Sauerstoff und im Alleingang auf dem Everest war, geschöpft hat und die in ihrer Eindringlichkeit und Authentizität erstaunlich imposant, ja, brillant wirken. Doch Vorsicht: Der Roman „gehörte nicht zur Wirklichkeit, es gab nur vor, ein Teil der Wirklichkeit abzubilden“. Aber einer großen Sache ist er dennoch gewidmet, „die größer ist als der Mensch, der es lebt und der Sache dient“: der Liebe.
Fazit: „Alles ist vergänglich. Du bist vergänglich. Alles vergeht und verweht. Zeit ist neutral. Zeit ist den Dingen gegenüber gleichgültig. Zeit ist unerbittlich. Keine Sekunde, auf die nicht die nächste folgt. Keine Sekunde, die nicht vergangen wäre. Ob schön. Ob schrecklich.“ Thomas Glavinics Romanfigur und ihr Weg auf den Gipfel der Welt gestalten sich als ein großartiges Gedankenexperiment, das der Stille und dem Rätsel in uns selbst nachspürt. Gleichzeitig ist es ein großes Buch über die Liebe. „Liebe ist oft selbst ein Partner, und oft ist sie Betrug, und dieser Betrug betrügt die Liebe. Manchmal liebt man nur die Idee der Liebe, man redet sich ein, dieses Große zu erleben, nicht ahnend, dass man sich selbst belügt und das Große nur simuliert.“ Hier jedoch kann man ohne Zweifel feststellen, dass Thomas Glavinics tatsächlich etwas Großes geschaffen hat: großartige Literatur!

Thomas Glavinic
Das größere Wunder
Carl Hanser Verlag (August 2013)
528 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446243321
ISBN-13: 978-3446243323
Preis: 22,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.