Herr Vieweg – Warum ist Hegel wieder so populär? Ein Interview mit Stefan Groß-Lobkowicz

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Warum der deutsche Idealist Hegel nun der Denker der Freiheit ist, darüber sprach der Jenaer Philosoph mit seinem Kollegen Stefan Groß-Lobkowicz

Wie aktuell ist der Philosoph Georg Wilhelm Hegel im 21. Jahrhundert?

Klaus Vieweg: Die „New York Times“ publizierte eine Kolumne des Philosophen Jay M. Bernstein mit dem Titel: „Hegel on Wall Street“, in welcher der Autor dringend die Nutzung der Ressourcen von ­Hegels praktischer Philosophie empfiehlt, als einer bis heute aktuellen Theorie von Freiheit und Modernität. Heute spricht man zu Recht von einer Hegel-Renaissance, von einem Come back seines Denkens, man könnte es als eine Wiederbelebung des wasserklaren Gedankens beschreiben, als Denken der Freiheit. Was zeichnet die Aktualität von Hegels Denken aus? Im Zentrum steht ein innovatives Verständnis des Zusammenhangs von Vernunft und Freiheit. Hegel ist der Begründer einer modernen Logik als neuer Metaphysik. Er liefert maßgebliche Bausteine für eine philosophische Theorie des Zeichens und der Sprache. Ernst Gombrich zufolge gilt er als Vater der Disziplin Kunstgeschichte, Hegels Ästhetik wird hoch geschätzt. Er entwirft Grundlinien für eine neue Gesellschafts- und Staatstheorie, mit der epochemachenden Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat revolutioniert er das philosophische Denken des Politischen und wird zu einem der Gründerväter der Soziologie. Hegel konzipiert die erste und bis heute gehaltvollste philosophische Theorie eines auf der Marktordnung fußenden sozialen Staates, neben der innovativen philosophischen Logik sein bedeutendster Beitrag. Nach der Corona-Krise würde Hegel vielleicht einen Aufsatz unter dem Titel „Das Ende des Kapitalismus und seine Zukunft“ publizieren und ein neues, gegen den Marktfundamentalismus gerichtetes Konzept empfehlen, das naturale und soziale Nachhaltigkeit verknüpfen kann. Auch ist Hegel ein scharfer Kritiker von allen Formen des Nationalismus und ­Antisemitismus. Einer seiner Berliner Hörer brachte Hegels Verdienst auf den Punkt: „Es ist unmöglich, den Geist, den eigentlichen Lebensnerv der Modernen zu erfassen – ohne Hegel.“

Sie haben eine viel beachtete Biografie zu Hegel geschrieben und damit 175 Jahre nach Karl Rosenkranz einen großen systematischen Einblick in Leben und Denken gegeben. ­Hegel schreibt hoch verdichtet, seine Philosophie wird immer als fast unverstehbar kritisiert. Was ist die größte Herausforderung im Denken des Stuttgarters?

Klaus Vieweg: Die große Herausforderung für Hegel war die Fortführung der Revolution im Ideen­system, die von Kant eingeleitet und von Fichte und Schelling weitergetrieben wurde, die Herausbildung eines neuen Grundmusters des Philosophierens, dem denkenden Selbstverhältnis mit dem Fundament des Denkens des Denkens: Das begreifende Denken gilt als das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieser monistische Idealismus muss nicht vom Kopf auf die Füße gestellt werden, Hegels Philosophie steht auf den festen Füßen des begrifflichen Denkens. Dies verlangte die Beantwortung der Frage nach dem Anfang der Philosophie, mit welchem man Aristoteles zufolge die Hälfte der Philosophie habe. Diesem Problem widmete sich ­Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Entscheidend ist ebenfalls die Klärung des Zusammenhangs von Vernunft und Freiheit, ausgehend von Hegels Hauptwerk, der „Wissenschaft der Logik“ als einer Theorie der Selbstbestimmung – der Begriff ist das Freie. Das völlig neue Freiheitsverständnis hat Hegel in die schwierige Formel vom im Anderen seiner selbst bei sich selbst sein zu können gekleidet. Als ein vereinfachtes Beispiel könnte der Sachverhalt der Freundschaft stehen, ganz im Sinne Schillers: Gewährt mir die Bitte, ich sei in eurem Bund der dritte.  

Selbst Hegels berüchtigten Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ aus den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ stelle Vieweg in ein neues Licht, heißt es in einer Rezensionsnotiz. Was ist neu?

Klaus Vieweg: Schon Hegel hatte unmissverständlich erklärt, dass in seiner Terminologie „wirklich“ nicht das gerade Bestehende, Gegebene, sondern nur das ist, was vernünftig gestaltet ist. Sein scharfsinniger Schüler Heinrich Heine verlangte in diesem Sinne, das Bestehende vernünftig und somit wirklich zu machen. In der neuen Hegel-Biografie ging es darum zu zeigen, dass Hegel der Philosoph der Französischen Revolution und eben nicht der ­Philosoph der Restauration war. Die sollte auch an seinem durchgängigen politischen Engagement belegt werden: Hegel soll jedes Jahr am 14. Juli, dem Tag des Beginns der Französischen Revolution, ein Glas Champagner genossen haben. Diese Revolution war das prägende weltgeschichtliche Ereignis für sein Leben und Denken. Er trat stets als vehementer Verteidiger der Grundgedanken der Französischen Revolution auf – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er feierte die Revolution als herrlichen Sonnenaufgang der modernen Welt, als Morgenröte freier Existenz. Als Tübinger Student war er einer der Wortführer des revolutionär-republikanischen Studentenkreises, in Bern konspirierte er mit aus Paris gesendeten Revolutionären. In Frankfurt steht er in enger Verbindung mit führenden Köpfen der Mainzer Republik und vermittelt einen Brief an den berühmten Revolutionär Abbe Sieyes nach Paris, was den Tatbestand des Hochverrats erfüllte. In Jena erarbeitete er ein Konzept für eine föderative, moderne Verfassung für Deutschland. In ­Berlin wurde Hegel von der reaktionären Hof-Partei des Republikanismus verdächtigt, wegen der Attacken auf die Hauptideologen der Restauration Karl ­Ludwig von Haller und Savigny. Hegel wirkt engagiert als Fürsprecher seiner nach den Karlsbader Beschlüssen eingekerkerten Schüler. Für den Jenaer Gustav Asverus, dem E.T.A. Hoffmann mit seinem „Meister Floh“ ein Denkmal setzt, bürgt der Berliner Professor, stellt Kaution und erreicht die Freilassung. Wie schon in Bern und Frankfurt hat die geheime Polizei alles dokumentiert, der Philosoph lebt gefährlich.

Hegel hat nie eine Ethik geschrieben, sondern Gedanken dazu in seine Rechtsphilosophie gekleidet. Warum?

Klaus Vieweg: Hegel hat zwar kein spezielles Buch zur Ethik geschrieben, aber der Abschnitt „Die Moralität“ in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ behandelt Grundfragen der Moralphilosophie als einer Theorie des moralischen Handelns, etwa die Fragen der Zurechenbarkeit von ­Handlungen, des Guten und des Gewissens.

Besondere Aktualität besitzt Hegels Kritik an heute dominanten Ethik-Konzeptionen: Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurteilen, und sie zum Maßstabe dessen, was Recht und Gut sei, zu machen – ist beides einseitig. Handlungen sind nur dann zureichend zu bewerten, wenn die Absicht, die Resultate und der Kontext des Handelns zusammengedacht werden. Diesen Kontext beschreibt Hegel mit dem neuen Begriff „Sittlichkeit“ (Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) – eine wichtige Innovation für eine Philosophie des Praktischen insgesamt.

Dem Denker des absoluten Idealismus wird immer wieder vorgeworfen, Notwendigkeit statt Freiheit zu setzen, das Individuum in der Gattung aufgehen zu lassen und damit ein ­Protagonist des preußischen Staates zu sein? Sie haben das entkräftet, aber wie?

Klaus Vieweg: Die Rede vom preußischen Staats- und Restaurationsphilosophen zählt zu den langlebigsten Lügenmärchen über Hegel. Im Anschluss daran wird Hegel von Karl ­Popper und anderen als Vordenker des Totalitarismus verschrien – der Staat sei alles, das Individuum nichts, also Terror des Allgemeinen. Die seriöse Hegel-­Forschung hat diese Legende längst hinter sich gelassen. Hier wäre in aller gebotenen Kürze auf Hegels Grundverständnis eines modernen Staates hinzuweisen, das auf der logischen Einheit von Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen ruht. Der moderne Staat als das Allgemeine muss die Freiheit aller besonderen Einzelnen repräsentieren und gewährleisten. Der Staat bei Hegel, dies bleibt entscheidend, ist der jeder Bürger selbst, und zwar in seinem Status als Bürger, in zweiter Hinsicht ist der Staat eine Institution, die aber dazu dienen muss, die Freiheit und das Recht aller Einzelnen zu garantieren. Dies erfordert natürlich eine tiefschürfende Interpretation von Hegels Staatsbegriff, ausgehend von der Hegelschen Logik.

Philosophen wird gemeinhin vorgeworfen, im Elfenbeinturm zu leben. Nun haben Sie einen anderen Hegel gezeichnet. Wie war denn Hegel, wenn er nicht gerade philosophierte?

Klaus Vieweg: Das lebenslange politische Engagement wurde schon angedeutet. Hegels Zeitgenossen beschreiben den Philosophen als kommunikativen, geselligen und humorvollen Menschen, der sich in vielfältigen Kreisen bewegte. Eine unbändige Lachlust habe ihn geprägt, er selbst empfahl die Komödien des Aristophanes, so könne man wissen, wie es einem „sauwohl“ sein kann. In Jena und Weimar pflegte er das gute Gespräch mit Schiller und Goethe, mit Schelling plante er eine italienische Reise. Als Rektor der Berliner Universität unterhielt er sich mit Marianne von Preußen über den alten Freund Hölderlin. Er war ein enthusiastischer Theater- und Opernbesucher, charmanter Verehrer von Schauspielerinnen und Opernsängerinnen, liebte die Musik von Rossini und Mozart. Felix Mendelssohn-Bartholdy erwischte den Professor, als dieser seine Vorlesung zu früh beendete und in die Oper eilte. Mit Frau und den Söhnen unternahm er Ausflüge und besuchte Ausstellungen. Die Schwiegermutter schickt aus Nürnberg die köstlichen Lebkuchen. Hegel war ein begeisterter Kartenspieler, zu seinem Berliner Freundeskreis zählten Heinrich Heine und Zelter, der Leiter der Singakademie. Er kannte prominente Zeitgenossen wie die beiden Humboldts, die Brüder Schlegel, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Als Morgenandacht empfahl er das Studium der Zeitungen. Hegel war beeindruckt von der Weltmetropole Paris. Er benötigte einen ganz besonderen Lebenssaft, den durchsichtigen, goldnen, feurigen Wein, um Denken und die Welt durchsichtig machen zu können. Diese Geister aus der Flasche waren seine treuesten Weggefährten: Die Sorten reichten vom Riesling und Gewürztraminer vom Deidesheimer Weingut Jordan über ­Bordeaux und ­Würzburger Stein bis zu den Tränen Christi vom Vesuv.

Bei Hegel ist immer die Rede vom Absoluten. Vielen ist unklar, ist dieses ­Absolute nun der Gott des Christentums oder der ­atheistische Weltgeist, der sich in seiner Dialektik in die Welt hinein entfaltet?

Klaus Vieweg: Weder das eine noch das andere. Das Absolute ist für Hegel, sehr verknappt gesagt, das begreifende Denken, das Immunität gegen relativistische Einwände gewinnen muss, ein Denken mit dem Anspruch auf philosophische Wahrheit. Das Unwürdigste für die Philosophie sei Hegel zufolge das Verzichten auf die Wahrheit, dies habe sich breit gemacht und führe das große Wort. Was gelten soll, muss sich, so Hegel im Anschluss an Kant, vor dem Denken rechtfertigen. Ein Prinzip muss bewiesen werden, es genügt nicht, dass es aus Anschauung, unmittelbarer Gewissheit, gesundem Menschenverstand, bloßer Meinung oder Überzeugung kommt, kurz: bloß auf Treu und Glauben angenommen werde. Aber die strikte Forderung des Beweisens ist, so Hegel, für die so vielen und zugleich so einfarbigen so genannten Philosophien der Zeit, für die Modephilosophien, etwas Obsoletes geworden.

Das Gespräch führte Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz

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Prof. Dr. Klaus Vieweg ist Professor für Philosophie an der Friedrich Schiller-­Universität Jena, Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, besonders Hegel. Er war Gastprofessor/Gastforscher u.a. in Seattle, Pisa, Prag, Tokyo, Kyoto, ­Shanghai, Rom. Zuletzt erschien von Vieweg: „Hegel, Der Philosoph der Freiheit“, Auflage, München 2020.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".