Einer von tausend Häftlingen – Detlef Jablonskis Lebensbericht

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Detlef Jablonski, von dem in diesem Buch erzählt wird, ist heute 65 Jahre alt, lebt noch in Berlin, wo er aufgewachsen ist, und hält Vorträge als Zeitzeuge über den 1989 untergegangenen SED-Staat. Dieser Staat hat ihm auch in den ersten 32 Jahren seines Lebens, bevor er 1987 nach Westberlin ausreisen durfte, übel mitgespielt. Es begann schon damit, dass er 1955 im Haftkrankenhaus in Jerichow/Sachsen-Anhalt geboren wurde. Seine Mutter war vor der Geburt wegen Hehlerei zu drei Jahren Haft verurteilt worden, hatte aber, der mageren Gefängniskost wegen, keine Milch, um das neugeborene Kind zu stillen. Deshalb wurde es ihr auch nach zwei Wochen weggenommen, in ein Waisenhaus in Berlin-Johannisthal verbracht und später zu Pflegeeltern in der Ostberliner Stalinallee. Dort wurde er seit seinem fünften Lebensjahr mehrmals in der Woche hemmungslos verprügelt. Zu seinen Peinigern musste er „Mutter“ und „Vater“ sagen, obwohl sie nur Tante Lene und Onkel Kurt waren. Lene war die 20 Jahre ältere Schwester seiner Mutter Maria, die nach der Strafverbüßung nach Westberlin gegangen war, von wo sie, auch nach dem Mauerbau vom 13. August 1961, gele- gentlich zu Besuch in die nunmehrige Karl-Marx-Alle (seit 13. November 1961) kam und Westgeschenke mitbrachte. Dass die schöne, blonde Frau, die so gut „nach Westen“ roch, seine richtige Mutter Maria war, erfuhr er nicht von den Pflegeeltern, sondern erst 1962 von der Zeitungsverkäuferin im Kiosk.

Allein der erste Teil „Kindheit“ dieses Buches hätte Stoff für einen ganzen Roman geboten. Denn die Prügelorgien mit dem „Siebenstriem“, einer Peitsche mit sieben Lederriemen, die diese „Eltern“ mit ihrem hilflosen Zögling veranstalteten, waren weit entfernt von einer aus Liebe und Strenge gespeisten Erziehung: „Ich musste mich auf dem Korridor nackt ausziehen. Alle Türen wurden verschlossen und dann ging es los. Ich konnte zusehen, wie der Lederstriemen um meinen Arm schnellte oder das Ende vorn an der Brust sich in die Haut einschnitt. Die Stelle wurde erst blau, dann lila und dann rot. Wenn die Haut aufplatzte, fing es an zu bluten…Seit ich in die Schule ging, gab es zwei bis drei Mal in der Woche Prügel: mit Pantoffeln, mit den spitzen Hacken von Schuhen, mit dem Kochlöffel, mit Reibekeulen, mit nassen, eklig stinkenden Abwaschlappen oder eben mit dem Siebenstriem.“

Dem verstörten, ständig verheulten Kind war alles verboten, was eine fröhliche Kindheit ausmachte. Es durfte nicht mit anderen Kindern spielen, es durfte nicht dem Schulchor beitreten, stattdessen wurde es wie ein Haussklave gehalten, es musste den Abwasch erledigen und die Wohnung sauber halten und mitunter dreimal am Tag einkaufen. Wenn Lene für Stunden bei der Nachbarin zum Tratschen verschwand, wurde es ins Schlafzimmer eingesperrt. Es war eine unglückliche Kindheit, wie sie schlimmer nicht hätte sein können!

Der Erziehungsstil seiner „Eltern“ änderte sich auch nicht, als er älter wurde und sich hätte wehren können. Aber er war ein schwaches Bürschchen ohne Selbstbewusstsein, dessen Widerstandswille längst gebrochen war und dem Lene deshalb unverhohlen mit der Einweisung in ein Heim für schwererziehbare Kinder drohen konnte, als sie Samenerguss in seiner Schlafanzughose entdeckte. Trotz aller Misshandlungen blieb er aber ein empfindsames Kind, das seine Umwelt genau beobachtete. So wunderte er sich beim Haareschneiden am 21. August 1968, dass der Frisör zu weinen anfing, als im Radio die Nachricht kam, die Russen wären in Prag einmarschiert! Zur „Jugendweihe“ 1969 im Kino Kosmos bekamen alle Weihlinge das Buch „Weltall, Erde, Mensch“ (1954) überreicht, nun waren sie offiziell „erwachsen“. Als er nach dem Sommerball verprügelt werden sollte, weil er nicht rechtzeitig zu Hause war, floh er in die Nacht und arbeitete heimlich einige Tage als Aufspüler im Hotel „Berolina“ und verdiente eigenes Geld. Einmal traf er auch noch seine Mutter bei Lenes Schwester Juliane in Brandenburg, was ihn in der Absicht bestärkte, in den Westen zu fliehen. Aber auch dieses Unternehmen scheiterte! Die drei Schüler vom „sozialistischen Fluchtkollektiv“, die nach Karl-Marx-Stadt gefahren waren, wurden im Zug nach Annaberg-Buchholz im Erzgebirge festgenommen und nach Ostberlin zurückgebracht.

Nach dem Schulabschluss 1971 begann Detlef Jablonski eine Lehre als Elektromonteur und bekam mit 18 Jahren vom Jugendamt eine Ein-Zimmer-Wohnung unterm Dach zugewiesen. Möbel hatte er keine, nur zwei Steppdecken, die Kohlen zum Heizen klaute er auf dem Güterbahnhof. Aber er war glücklich, weil er Lene und Kurt endlich entkommen war!

Als 1974 die Lehrzeit abgeschlossen war, arbeitete er beim Gemüseverladen am Ostbahnhof und beobachtete, wie zwei russische Soldaten von ihrem Aufpasser bewusstlos geprügelt wurden. Diese Bilder gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf, als er später beim Kabelwerk Oberspree als Maschinenhelfer die Arbeit aufnahm. Es war eine stumpfsinnige Arbeit, aber der Verdienst war gut, und am Wochenende kamen noch die Zuschläge dazu.

Die Sehnsucht nach seiner Westberliner Mutter, die so gut roch, aber blieb! Im Oktober 1974 unternahm er den zweiten Fluchtversuch. Er kaufte am Ostbahnhof eine Fahrkarte nach Prag, ohne Rückfahrschein, wurde in Bad Schandau hinter Dresden aus dem Zug geholt und am 7. Januar 1975 wegen „Republikflucht“ zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Dummerweise hatte er auf seinem Atlas die Fluchtroute von Dresden über Prag nach Budweis eingezeichnet.

Während der Haftzeit in Berlin-Rummelsburg und in „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg lernte er den Knast in allen Höhen und Tiefen kennen: Er wurde, wie alle Häftlinge, nach „Sackratten“ (Filzläuse) untersucht, er saß wochenlang im Arrest, er wurde beim Onanieren erwischt und „zur Abkühlung“ von der „Volkspolizei“ im Waschraum angekettet, und er nahm an illegalen Boxwettkämpfen teil. Sein Selbstbewusstsein wuchs, nachdem er sich Achtung bei den Mitgefangenen verschafft hatte.

Am 14. August 1975 wurde er entlassen und fuhr vier Stunden mit dem Zug vom Bahnhof „Schwarze Pumpe“ nach Ostberlin. Diese ersten Wochen in der eingeschränkten DDR-Freiheit sind höchst spannend und einfühlsam beschrieben. Der Leser freilich möchte wissen, wie dieses beschädigte Leben weiterging bis zur Ausreise 1987.

Detlef Jablonski „Einer von Tausend. Eine Berliner Geschichte“, bearbeitet von Grit Poppe, Klak-Verlag, Berlin 2021, 294 Seiten, 16.90 Euro

Über Jörg Bernhard Bilke 260 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.