Der 17. Juni 1953 in Leipzig: Freya Kliers Film „Wir wollen freie Menschen sein!“

Um die Mittagszeit des 17. Juni 1953 fuhr der 15jährige Schlosserlehrling Paul Ochsenbauer auf seinem Fahrrad in die Leipziger Innenstadt, um sich die Demonstrationen der Arbeiter gegen die SED-Herrschaft anzusehen. Am Abend, nach Ausrufung des Ausnahmezustands durch die Besatzungsmacht, wurde er festgenommen, weil er ein Plakat abgerissen hatte, und an unbekanntem Ort erschossen.
Sein Schicksal und das des Schülers Peter Schmidt und des Arbeiters Dieter Teich bilden die Kernhandlung des Films „Wir wollen freie Menschen sein! Volksaufstand 1953“, der am 14. Mai im Leipziger „Haus des Buches“ uraufgeführt wurde und dessen Begleitmusik der Dresdner Ex-Häftling Michael Proksch (1958), Autor des Buches „Und plötzlich waren wir Verbrecher“ (2010), komponierte. Gedreht hat diesen Film über den 17. Juni in Leipzig die in Berlin lebende Schriftstellerin Freya Klier, die 1950 in Dresden geboren und 1988 nach Westberlin ausgewiesen wurde. Bisher ist sie mit sechs Dokumentarfilmen bekannt geworden, beispielsweise mit dem von 2011 über die höchst gefährlichen und oft tödlichen Fluchten von DDR-Bürgern über die bulgarisch-ungarische Grenze.
Ausschließlich auf Dokumentation beschränkt ist dieser neue Film freilich auch nicht, es sind Spielszenen eingebaut, die den historischen Ablauf illustrieren und dadurch den Zuschauer fesseln, und es gibt Zeitzeugenberichte. Ein überzeugendes Beispiel für die Verfahrensweise Freya Kliers ist die nachgestellte Demonstration Leipziger Arbeiter vor dem „Volkspolizeikreisamt“ in der Dimitroffstraße. Dort stand, eingezwängt von den Aufständischen, der zehnjährige Schüler Peter Schmidt, der mit der Straßenbahn vom Schwimmbad gekommen und am Hauptbahnhof ausgestiegen war. Als die „Volkspolizei“ zu schießen begann, wurde er von einer Kugel in den Bauch getroffen und dann von einem bis heute unbekannten Zimmermann in die Universitätsklinik gebracht, wo er sofort operiert wurde. Sein Bett wurde nach jeder der drei Operationen, die er zu überstehen hatte, in den Krankensaal geschoben, wo die aussichtslosen Fälle lagen, weil die Ärzte die Hoffnung schon aufgegeben hatten. Das alles erfährt der Zuschauer von dem heute 70jährigen Peter Schmidt, dessen Zeugenaussage in breitestem Sächsisch mehrmals eingeblendet wird: Er durfte nach der Genesung an seiner Schule nie mehr am Sportunterricht teilnehmen, und er durfte mit niemandem darüber sprechen, was ihm zugestoßen war. Später hat er geheiratet und konnte 1982 mit Frau und Kindern in den Westen ausreisen!
Zwischen Spielszenen und Zeitzeugenberichten treten die beiden Interpreten des damaligen Geschehens auf: Der 1958 in Frankfurt am Main geborene RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel und der 1967 in Ostberlin geborene Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der sein umfangreiches DDR-Wissen einbringt. Er erklärt den heutigen Zuschauern, warum der Aufstand ausgebrochen ist, nachdem die SED-Führung im Juli 1952 den „Aufbau des Sozialismus“ beschlossen hatte.
Freya Klier tat gut daran, sich in ihrem 45-Minuten-Film auf einen einzigen Ort, auf die Stadt Leipzig, die seit 1952 auch Hauptstadt eines DDR-Bezirks war, zu beschränken. Diese Stadt hatte zudem, neben Erfurt, Halle, Magdeburg, eine besondere Bedeutung in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert: Dort war am 23. Mai 1863 der „Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein“, der Vorläufer der Sozialdemokratischen Partei, gegründet worden, dort war 1893 der mächtige SED-Führer Walter Ulbricht geboren worden, und dort hatten im Herbst 1989 die Montagsdemonstrationen schließlich zum Mauerfall und zum Untergang des SED-Staates geführt.
Einer der Brennpunkte des Aufstands, an dem 40 000 Leipziger beteiligt waren, lag im Gerichtsviertel mit dem „Volkspolizeikreisamt“ in der Dimitroffstraße und dem Untersuchungsgefängnis der „Staatssicherheit“ in der Beethovenstraße. Hier wollten die Aufständischen das Amtsgericht stürmen und Gefangene befreien. Da die Einsatzkräfte der „Volkspolizei“ den Demonstranten nicht gewachsen waren, wurde nachmittags ein Zug „Schutzpolizei“ (25-60 Mann) eingesetzt, der mit äußerster Härte vorging. Der Einsatz dauerte nur eine halbe Stunde und forderte das erste Menschenleben: der 19jährige Arbeiter Dieter Teich aus Wiederitzsch, der bei der Leipziger Straßenbahn angestellt war, wurde gegen 15. 15 Uhr durch eine Kugel in die Brust getroffen, noch vor der 64jährigen Rentnerin Elisabeth Bröcker, die um 16.20 Uhr starb.
Bei den Aufständischen gewann dieser erste Demonstrant, der von der „Volkspolizei“ erschossen worden war, eine ganz besondere Bedeutung. Mit einem solchen Gewaltakt hatten sie nicht gerechnet, sie hatten vielmehr gehofft, berechtigte Forderungen vortragen zu können und dann auch Gehör zu finden bei der Staatsmacht, die aber lehnte jede Diskussion ab, sondern ließ in ihre Reihen hineinschießen. Sie waren tief erschüttert, legten den Toten auf eine Krankenbahre und trugen ihn in einem Schweigemarsch durch die Innenstadt zum Hauptbahnhof. Es war ein Trauerzug, bei dem Sowjettruppen wie „Volkspolizisten“ zunächst nur zusahen, ohne einzugreifen. Am Bahnhof wurden der mit Blumen bedeckte Leichnam beschlagnahmt, die vier Träger verhaftet.
Wie gefährlich es am 17. Juni war, selbst einem Toten die letzte Ehre zu erweisen, kann man in dem Buch (656 Seiten) der Leipziger Historikerin Heidi Roth „Der 17. Juni 1953 in Sachsen“ (1999) nachlesen. Sie berichtet von einem jungen Mann, der den Toten mitgetragen und beobachtet hatte, dass er dabei fotografiert worden war. Er fuhr „anschließend sofort nach Hause zu seiner schwangeren Frau und lebte noch Monate danach in Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden.“ Diese Angst war berechtigt, denn schon am 18. Juni begann die „Volkspolizei“ systematisch in den Leipziger Krankenhäusern nach verwundeten Aufständischen zu suchen. Viele flohen trotz ihrer Verletzungen aus dem Krankenbett und versteckten sich.
In den Wochen, nachdem der Aufstand durch Sowjettruppen niedergeschlagen worden war, wurden Hunderte von Beteiligten verhaftet, auch in Leipzig. Paul Ochsenbauer aber blieb verschwunden, obwohl seine Eltern täglich bei der „Volkspolizei“ nachfragten. Erst zwei Wochen später, am 1. Juli, wurde den Eltern mitgeteilt, dass ihr Sohn einen „tödlichen Unfall“ erlitten hätte. Davon aber, dass seine sterblichen Überreste schon in der Nacht zum 20. Juni auf dem Leipziger Südfriedhof eingeäschert worden waren, erfuhren sie nichts. Am 15. Juli, vier Tage nach Aufhebung des Kriegsrechts, wurde die Urne von der Staatsanwaltschaft freigegeben und durfte am 14. August auf dem Friedhof in Leipzig-Plagwitz beigesetzt werden. Wie Paul Ochsenbauers drei jüngere Schwestern, die im Film als Zeitzeuginnen auftreten, berichten, durften an der Trauerfeier nur zwölf Angehörige teilnehmen, und auch die wurden von der „Staatssicherheit“ überwacht. Auch ein Jahr später noch, vom 16. Bis 18. Juni 1954, wurde die Familie Ochsenbauer von der „Volkspolizei“ observiert, da „diese zu damaliger Zeit sehr aggressiv in Erscheinung trat.“ Das Wort „aggressiv“ kommt von der Täterseite! Gemeint ist nichts Anderes als der tiefe Schmerz und die große Trauer beim Verlust eines Angehörigen.
In der letzten Szene dieses vorzüglich gemachten Films gehen Peter Kloeppel und die drei Schwestern Paul Ochsenbauers über den Leipziger Südfriedhof zu einem Gedenkstein, der „Den Opfern der Gewaltherrschaft 1945 bis 1989“ gewidmet ist. Der Name „Paul Ochsenbauer“ ist dort verzeichnet, aber der Gedenkstein liegt weit abseits in einer Ecke des Friedhofs, als sollte er nicht wahrgenommen werden, während die verstorbene SED-Prominenz von Leipzig rechts und links der Mittelachse des Friedhofs begraben liegt.

Filmaufführung: 16. Juni RTL, 17. Juni n-tv

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Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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