Reaktion auf ARTE-Wettbewerb: „Unbeschreiblich sexistisch“

Forderung nach Gleichstellung von Regisseurinnen* in der deutschen Film-und Fernsehbranche

Bild von Roy Clarke auf Pixabay

625 Unterzeichner*innen des Offenen Briefes an ARTE bzgl. des Kurzdokumentarfilmwettbewerbs „Regisseurin gesucht“ // Forderung nach Gleichstellung von Regisseurinnen* in der deutschen Film-und Fernsehbranche 

Mit einem Offenen Brief an ARTE (s. Anhang) auf die Ausschreibung „Regisseurin gesucht“ kritisieren die Autorinnen und Regisseurinnen, Pary El-Qalqili und Biene Pilavci von der Initiative NichtmeinTatort, die fehlende Gleichstellung von Regisseurinnen* in der deutschen Film- und Fernsehbranche. Bei ARTE lag der Frauenanteil bei Regisseurinnen* im Jahr 2016 nur bei 19%. 

Gemeinsam mit 625 Unterstützer*innen fordern sie in einem Offenen Brief transparente Maßnahmen, um eine strukturelle Gleichberechtigung von Frauen* und eine gerechte Teilhabe von Regisseurinnen* zu erreichen.

In der Ausschreibung ruft ARTE Regisseurinnen ab 18 Jahren in Deutschland und Frankreich dazu auf, an einem Kurzdokumentarfilmwettbewerb zum Thema „Unbeschreiblich weiblich“ teilzunehmen. Die Kritik der Unterzeichnerinnen* richtet sich unter anderem gegen die diskriminierende Festlegung auf das Thema „Unbeschreiblich weiblich“, gegen die selektive Förderung von einer Wettbewerbsgewinnerin sowie gegen die exkludierenden Produktionsbedingungen, die der Aufruf zur unentgeltlichen Herstellung von Kurzdokumentarfilmen bedeutet.  

Mehrere Studien belegen die fehlende Gleichstellung von Frauen* in der Film- und Fernsehbranche, so etwa die GenderDOK Studie der AG DOK oder der Diversitätsbericht des BVR 2018: Mehr als 50% der Absolvent*innen der Filmhochschulen im Fach Regie sind Frauen*. Als Regisseurinnen* sind diese jedoch in den Bereichen Kinodokumentarfilm (mit 27%) und  Kinospielfilm (mit 22%) stark unterrepräsentiert. Dabei fehlt es nicht nur an einer gerechten Teilhabe von Regisseurinnen*, sondern auch an einer Gendergleichstellung in Bezug auf Produktionsbudgets – Regisseurinnen* erhalten für ihre Filme noch immer  weniger Fördermittel als ihre männlichen* Kollegen.

Statement der Initiatorinnen des Offenen Briefes:

“Ich verstehe diese Ausschreibung als Sinnbild für einen eklatanten Missstand in der deutschen Film- und Fernsehbranche und musste einfach reagieren. Neben der Forderung der 50/50 Quote möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um auch auf sämtliche Ungerechtigkeiten, wie die ausstehende Gleichberechtigung von Transfrauen*, non-binären Menschen und (postmigrantischen) Regisseurinnen* of Color aufmerksam zu machen. Kurz: Wenn ARTE als öffentlich-rechtlicher Sender sowohl seinen Bildungsauftrag und die Gleichberechtigung von Frauen* ernst nähme, bräuchte er keine diskriminierenden Wettbewerbe auszurufen.”

Biene Pilavci, Autorin und Filmemacherin

“Wir sind im Jahr 2020 und haben immer noch mit strukturellem Ausschluss und Benachteiligung von Frauen* in der Politik, Wirtschaft und in der Film-und Fernsehbranche zu kämpfen. Als ich die Ausschreibung las, konnte ich es nicht fassen, dass wir als Regisseurinnen* dazu aufgerufen werden uns mit dem Thema ‘Unbeschreiblich weiblich’ auseinanderzusetzen. Wieso werden Regisseurinnen* hier in ihrem filmischen Schaffen von einem öffentlich-rechtlichen Sender auf ihr Geschlecht reduziert? Wenn ARTE tatsächlich etwas an der fehlenden Gleichstellung von Frauen* ändern möchte, dann muss eine 50/50 Quote umgesetzt werden. Nur mit klaren strukturellen Veränderungen, werden wir Regisseurinnen* in diesem Berufsstand gleiche Teilhabe erlangen. Von der Frage nach unzureichender Diversität vor und hinter der Kamera und struktureller Diskriminierung von Women of Color haben wir noch garnicht angefangen zu sprechen.” 

Pary El-Qalqili, Autorin und Regisseurin

Die Kritik:

  • Bereits im Jahr 2017 waren im Fach Regie an den Filmhochschulen 57% der Absolvent*innen Frauen*. Das spiegelt sich jedoch nicht in der Teilhabe von Regisseur*innen bei beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen wider.
  • ARTE schreibt einen Wettbewerb aus, für den Filmemacherinnen* einen Kurzdokumentarfilm produzieren und einreichen sollen. Das bedeutet, die Regisseurinnen* sind aufgerufen, unentgeltlich einen Film herzustellen. 
  • ARTE limitiert die Ausschreibung auf das Thema „Unbeschreiblich weiblich“. Das heißt, die Regisseurinnen* werden in ihrem Schaffen von vornherein auf die Themen der vermeintlichen „Weiblichkeit“ und des „weiblichen Blicks“ reduziert.
  • ARTE bietet der Gewinnerin des Wettbewerbs einen Entwicklungsvertrag für ein 52-minütiges Format an. Die Ausschreibung fördert somit keine strukturelle gleichberechtigte Teilhabe von Regisseurinnen. Selbst für die Gewinnerin ist ein Prime-Time-Sendeplatz nicht garantiert, genauso wenig die Produktion ihres Stoffes 
  • ARTE richtet seine Ausschreibung an Regisseurinnen* ab 18 Jahren und “neue Talente”. Das heißt, der Sender ignoriert die Existenz mehrerer Generationen qualifizierter Regisseurinnen*.

Die Forderungen:

  • eine sofortige Überarbeitung der ARTE-Ausschreibung „Regisseurin gesucht“ 
  • Strukturelle Gleichberechtigung und gerechte Teilhabe von Regisseurinnen* bei ARTE
  • Eine Einführung der 50/50 Gender-Quote für alle ARTE-Sendeplätze und ARTE-Filmproduktionen
  • Transparente Maßnahmen aller ARTE-Redaktionen, um die Gleichberechtigung von Autorinnen*, Regisseurinnen*, Cinematographinnen*, Editorinnen*, Tonfrauen*, Filmkomponistinnen* und Produzentinnen* umzusetzen
  • Gender-Monitoring von allen redaktionellen Entscheidungen
  • verpflichtende Fortbildungen zu Feminismus- und Gendergleichberechtigung für alle ARTE-Redakteur*innen und Programmverantwortlichen*

Die Fakten:

Mehrere Studien belegen die strukturelle Benachteiligung von Regisseurinnen* in der deutschen Film- und Fernsehbranche. Die folgenden Zahlen beziehen sich auf die GenderDOK Studie der AG Dok und des BVR sowie den Diversitätsbericht 2018 des BVR.

So belegt die GenderDOK Studie der AG DOK und des BVR, dass 2017 nur 30% der Kinodokumentarfilme von Regisseurinnen* realisiert wurden. 

  • Diese erhielten nur 24,4% der gesamten Produktionsfördermittel für Dokumentarfilme.
  • Die Herstellungskosten dieser Filme (Regisseurinnen) machten 20,8% der Gesamtherstellungskosten aller Dokumentarfilme aus.
  • 2015-2017 hatten Regisseurinnen* 136.000 Euro geringeres Budget pro Film zur Verfügung als ihre männlichen Kollegen.
  • Mit der Länge der Filme sinkt der Frauenanteil. Bei einer Sendelänge von bis 35 Minuten lag dieser bei 30 Prozent, ab 61 Minuten Sendelänge bei nur noch 21 Prozent.

Der Diversitätsbericht des BVR 2018 zeigt:

  • Bei der ARD führen bei 20,5 % aller fiktionalen Sendeminuten Frauen* Regie, das sind 21,6 % Sendungen der ARD. 
  • Beim ZDF werden 19,8 % der Sendezeit von Frauen* inszeniert, das sind 20 % der Sendungen. Fasst man ARD und ZDF zusammen, werden 20 % aller fiktionalen Sendeminuten von einer Frau inszeniert. 
  • Nur jeder 5. Kinofilm aus 2018 wurde von einer Frau* inszeniert (22 %). 
  • Nur eine Frau* hat einen Film in der hohen Budgetgruppe von über fünf Millionen Euro gedreht und drei Frauen* im mittleren Bereich zwischen zwei bis fünf Millionen. 
  • Kinofilme mit einer Frau* in der Regie erhielten 8,9 % der gesamten Bundes-Fördermittel (FFA, DFFF und BKM). Dies ist mehr als eine Halbierung gegenüber 2017 (23 %). Kinofilme mit einem Mann* in der Regie erhielten dementsprechend 91,1 % der Fördermittel.

Bisherige Unterstützer*innen (Verbände, Vereine)

NichtmeinTatort

Pro Quote Bühne e.V.

Bundesverband Regie (BVR)

Bundesverband Filmschnitt Editor e.V.

La DOC – Frauen Dokumentarfilm Netzwerk

FC Gloria – Frauen Vernetzung Film

FIRST STEPS Der Deutsche Nachwuchspreis

Internationales Frauenfilmfestival Dortmund I Köln

Crew United

Filmbüro Bremen e.V.

AG DOK Nord

Label Noir

BIPoC Film Society

Queer Media Society

KINOKAS, queer-feministisches FLINT* Filmkollektiv

BLN. Berlin Lesbian Non-Binary Filmfest

dokumenART. European Film Festival

Kollektiv Ninotschka. Feministische Kunstproduktion

V.A.M.P.S. Kollektiv für experimentelle künstlerische Bildung

#wirwarenimmerda

Into the Wild. Mentoring

Eine Auswahl prominenter Unterstützer*innen:

  • Prof. Dr. Elizabeth Prommer, Direktorin des Instituts für Medienforschung, Rostock
  • Sabine Rollberg, ehem. ARTE-Redakteurin und Professorin
  • Sophie Maintigneux, Bildgestalterin und Professorin
  • Tatjana Turanskyj, Autorin, Regisseurin und Professorin
  • Karin Jurschick, Filmemacherin und Professorin
  • Madeleine Bernstorff, Autorin und Filmkuratorin
  • Ursula Höf, Filmeditorin
  • Constanze Ruhm, Filmemacherin
  • Esther Gronenborn, Regisseurin
  • Birgit Gudjonsdottir, DoP
  • Jens Schanze, Autor, Regisseur, Produzent, Professor
  • Nina Kronjäger, Schauspielerin
  • Cornelia Hermann, Dramaturgin und Dozentin
  • Albrecht Schuch, Schauspieler
  • Frederick Lau, Schauspieler

Statements der Unterstützer*innen

“Mit der Ausschreibung betreibt ARTE lediglich purplewashing, um sich das positive Image von Frauenförderung auf die Fahne zu schreiben. Langfristig helfen solche halbherzigen „Förderprogramme“ keiner Regisseurin. Der Preis für die Gewinnerin sieht lediglich einen Entwicklungsauftrag vor. Der Sender ist mit dieser Ausschreibung weit davon entfernt, seinem Anspruch, mehr Dokumentarfilme von Frauen in der Primetime zu zeigen, gerecht zu werden.”

Bundesverband Regie (BVR)

“Die Arte Redaktion schreibt, sie freuen sich auf ‘viele neue Talente’. Aber: Wir waren immer da! Wir als junge Filmemacher*innen sind präsent auf Festivals und Pitchings. Wir brauchen keine öffentlichkeitswirksame neue Ausschreibung, in der wir wieder auf unser „unbeschreiblich weibliches“ Geschlecht reduziert werden. Wir wollen, dass Arte endlich beginnt das Problem strukturell zu lösen.”

#wirwarenimmerda

“Die Medien sind entscheidend für sowohl den Aufbau als auch die Verbreitung der Sichtweisen von Menschen mit Migrationsgeschichte und damit für die Sozialisierung einer diversen Gesellschaft. Storytelling beeinflusst, wie wir unser Leben sehen, wie wir andere Menschen sehen und wie wir über uns selbst denken. Die Repräsentation in den Massenmedien ist von Bedeutung, weil sie die Teilhabe an der Gesellschaft darstellt. Falsche oder keine Repräsentation von Minderheiten in den Medien verzerrt ihre Existenz in der Gesellschaft und ist somit eine subtile Gewalt gegen die Legitimität und Komplexität verschiedener Identitäten.” 

Maissa Lihedheb, Gründerin BIPoC Film Society

“Wir von INTO THE WILD unterstützen jeden Versuch, zum Beispiel in Form einer Ausschreibung, zur Gendergerechtigkeit in der Filmbranche beizutragen. Leider bleibt es allzuoft bei einem Versuch – und meistens geht dieser an unseren Lebensrealitäten vorbei. Wir haben einen Vorschlag wie eine Ausschreibung aussehen könnte:

Sender sucht Filmemacherinnen 

Fakt ist, dass viel zu wenig Filme von Frauen und LBTQIA bipoc auf unserem  Sender gezeigt werden. Ganz besonders gilt dies für die Primetime. Und das, obwohl so  viele talentierte und engagierte Filmemacherinnen ihre Ausbildung an Journalismus- und  Filmhochschulen abschließen. Warum nur zeichnet sich diese Realität bisher nicht auf den  Bildschirmen ab? Wir haben geschlafen – jetzt sind wir aufgewacht: 

Wir bieten euch einen regelmäßigen Sendeplatz in der Primetime an – für  Filmemacherinnen* jeden Alters mit dem Thema „Ohne Thema“. So verzichten wir  bewusst darauf, Frauen auf ihren spezifisch weiblichen Blick zu reduzieren. 

Wir werden ab jetzt darauf achten, dass wir sämtliches Programm in gleichem Maße von  weiblichen wie von männlichen Drehbuchautor*innen, Regisseuren*innen und  Verantwortlichen in allen Gewerken gestalten lassen. Dies ist unsere Verantwortung und  unsere Verpflichtung als öffentlich-rechtlicher Sender.

Sendet uns Eure Filme – wir wissen, dass Ihr da seid!”

INTOTHEWILD #unbeschreiblichda #wosindsiedenn

“ARTE fragt ‘Warum nur zeichnet sich diese Realität (dass es viele weibliche Filmemacherinnen gibt) bisher nicht auf den Bildschirmen ab?’ Das ist ein wenig so, als ob Trump fragen würde, warum die USA nicht mehr im Pariser Klimaabkommen sind. „Diese Ausschreibung ist eine einzige Ablenkung von der Eigenverantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der (selbst)kritischen Auseinandersetzung mit der Frage, warum das öffentlich finanzierte System Frauen* weder einen angemessen Anteil an Sendeplätzen, noch an Aufträgen zukommen lässt. Hier wurde trotz eifriger Lippenbekenntnisse in den letzten Jahren nur wenig verändert.”

CREW UNITED

Über Pary El-Qalqili und Biene Pilavci 2 Artikel
Biene Pilavci ist Regisseurin, Autorin und Editorin. Sie wurde 1977 in der Nähe von Stuttgart geboren und studierte Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). www.parcours-pictures.com Pary El-Qalqili ist freie Autorin und Regisseurin. Sie wurde 1982 in Berlin geboren. Sie studierte Kulturwissenschaften an der Europa Universität Viadrina und Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. www.paryelqalqili.com