Rasputin – Dämon, Magier oder Heiler?

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Im Russland zu Beginn das Anfang 20. Jahrhundert befand sich die Monarchie in einer ernsthaften Krise.

Die Krönung des neuen Zaren Nikolaus II. fand am 1. November 1884 statt. Doch bereits dieses Ereignis wurde von einer Tragödie überschattet. Am Krönungstag versammelten sich traditionsgemäß Hunderttausende einfacher Menschen in Moskau auf dem sogenannten Kodinkafeld. Sie sollten, wie anläßlich der Zarenkrönungen üblich, auf Kosten des Herrschers bewirtet werden. Doch diesmal entstand infolge nachlässiger Organisation ein Tumult, der zu einer Massenpanik führte. Zahlreiche Menschen wurden dabei zu Tode getrampelt. Die offizielle Zahl der Opfer belief sich auf etwa 1400, die der Schwerverletzten auf 1300 Personen. Die tatsächlichen Zahlen dürften erheblich höher gewesen sein. Wie ein düsteres Omen erschienen diese schrecklichen Ereignisse dem einfachen Volk, das Nikolaus II. von diesem Tag an nur noch den „Blutzar“ nannte. Unter seiner Herrschaft sollte das Reich tatsächlich noch zahlreiche blutige Auseinandersetzungen erleben. Von seinem Vater nur unzureichend auf die Regierungsgeschäfte vorbereitet, erwies sich Nikolaus II. rasch als überfordert mit der Regierung seines Riesenreiches. Halt fand der Monarch einzig bei seiner Familie, um die er sich Zeit seines Lebens mit rührender Aufmerksamkeit bemühte. Im Oktober 1904 kam es zu einer dramatischen Niederlage Russlands im russisch-japanischen Krieg. In der Seeschlacht von Tsushima fielen 4830 russische Seeleute. Die ehemals stolze Flotte der Russen wurde erheblich dezimiert. Insgesamt fielen mehr als 400.000 Russen in diesem Krieg, dessen Kosten sich auf 2,347 Milliarden Rubel beliefen. Mit diesem Desaster begann der Untergang des Zarentums. Die überaus harten Lebensbedingungen der Bauern, Tagelöhner und Arbeiter gaben nahezu permanent Anlass für revolutionäre Bewegungen und Streiks. So wurden im Dezember 1904 vier Arbeiter aus einer Fabrik entlassen. Dieses an sich unbedeutende Ereignis sollte zum Beginn einer regelrechten Revolution werden. Die Kollegen der Entlassenen traten in einen Sympathiestreik, dem sich rasch die Arbeiter anderer Fabriken anschlossen. Anfang Januar 1905 streikten allein in St. Petersburg 150.000 Werktätige. Die Streikenden bedrängten ihren Anführer Gapon, dem Zaren eine Petition zu überbringen. In dieser Bittschrift wurden die schlechten Arbeitsverhältnisse der Arbeiter beschrieben und Verbesserungen angemahnt. Am 22. Januar 1905 versammelten sich die Arbeiter und zogen gemeinsam zum Winterpalast. In der Nähe des Palastes eröffneten zarentreue Truppen das Feuer auf die Demonstranten. Mindestens 400 Menschen starben im Kugelhagel oder wurden verwundet. Dieser Tag ging als „Blutsonntag“ in die russische Geschichte ein. Die höfische Gesellschaft ließ sich von solchen Vorfällen nicht beeindrucken. Theater, Klubs, Restaurants und Konzertsäle waren immer gut besucht. Das Leben wurde von den Adligen und dem Großbürgertum in vollen Zügen genossen. Dadurch fühlte sich das einfache Volk jedoch umso mehr provoziert. Während des Ersten Weltkriegs kam es dann zum endgültigen Zusammenbruch des Zarenreichs. Am 15. März 1917 wurde Zar Nikolaus II zur Abdankung gezwungen. Die Zarenfamilie wurde unter Hausarrest gestellt. Mehrere halbherzige Versuche, die sie in Sicherheit zu bringen, wurden zwar unternommen, blieben aber ohne Erfolg. Nach der Machtübernahme durch die revolutionären Bolschewiki war es der Zarenfamilie nicht mehr möglich, ins Exil zu gehen. Im April 1918 wurden der ehemalige Zar und seine Angehörigen nach Jekaterinenburg in das Haus des Kaufmanns Ipatschew gebracht. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurden Nikolaus II. und seine Familie unter einem Vorwand in den Keller des Hauses geführt. Sie sollten den Raum nicht mehr verlassen. Die Kugeln eines Erschießungskommandos setzten hier ihrem Leben ein Ende. Als sich die Nachricht vom Tode des Zaren verbreitete, war für viele Menschen in Russland klar, wer die Schuld am Untergang des Monarchen trug. Ein Name machte wie ein Fluch die Runde – Rasputin!

Wer war jener Mann, dessen Schicksal uns so untrennbar mit dem Geschick des Zaren uns seiner Familie verbunden zu sein scheint? Zu Lebzeiten wurde Grigori Rasputin geliebt und verehrt, aber ebenso gefürchtet und gehasst. Sein Ende war schrecklich. Am 19. Dezember 1916 trieb in der Kleinen Newa in Petersburg ein Leichnam an die Oberfläche. Das entstellte Gesicht und der verunstaltete Körper waren von einer Eiskruste bedeckt, die gefesselten Hände erhoben. Hatte der geheimnisvolle Tote, auf den geschossen und eingeschlagen worden war, noch im eiskalten Wasser versucht, sich von seinen Fesseln zu befreien? Laut zeitgenössischer Polizeiberichte füllten später Tausende Menschen das Wasser, aus dem der grausige Leichnam geborgen wurde, in Flaschen und andere Gefäße. Sie hofften, damit etwas von der magischen Kraft zu schöpfen, von der man sich in ganz Russland Wunderdinge erzählte. Der geborgene Tote war Grigori Rasputin. Als sein Leichnam gefunden wurde, glaubte ganz Russland, dass Rasputin ein Diener des Antichrist war. Am 4. März 1917 berief die damalige provisorische Regierung eine außerordentliche Ermittlungskommission zur Untersuchung der gesetzwidrigen Handlungen von Ministern und anderen Amtspersonen des Zarenregimes ein. Gefangene Minister, Adelige und deren Dienstpersonal wurden von dieser Kommission verhört. Eine der Hauptfragen galt dem Bauern Grigori Rasputin, um den sich viele geheimnisvolle Geschichten rankten. Eine besondere Ermittlungsabteilung, die Sektion 13, befasste sich mit den sogenannten dunklen Kräften. Im politischen Vokabular jener Zeit wurden darunter der Zar seine Gattin, Rasputin selbst und alle ihnen nahestehenden Personen verstanden. Die Aufzeichnungen und Protokolle dieser Kommission verschwanden unter bis heute nicht vollkommen geklärten Umständen. Lediglich sieben schmale Ordner blieben aus der Masse der Akten erhalten. Sie sollten für Jahrzehnte die einzigen Grundlage aller Bücher über Rasputin bilden. Erst 1964 kam ein weiteres aufschlussreiches Dokument zu Tage – der Schlussbericht der Kommission. Dieser enthielt Aussagen von Personen aus Rasputins engster Umgebung. Der Bericht zeichnete das Bild eines Bauern, der sich durch Trunksucht und Ausschweifungen ruinierte, und die Zarenfamilie manipulierte.

War dies schon die ganze Wahrheit?

Zu Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts tauchten bei einer Versteigerung des berühmten Auktionshauses Sotheby´s bisher unbekannte Dokumente über Rasputin auf. Diese lieferten weitere interessante Einsichten in das Leben des angeblichen Wundermönchs. Auch das Archiv der Familie Jussupow, die zu den Hauptakteuren der Ermordung Rasputins gehörten, konnten eingesehen werden. Das Familienarchiv besteht aus zwei Teilen – einer befasst sich mit dem schier unermesslichen Reichtum der Familie Jussupow, während der andere Teil aus dem Briefwechsel der Familienmitglieder besteht. Die Planung und Ausführung des Mordes an Rasputin gehen aus diesen Briefen hervor. Die aufgefundenen Dokumente zeichnen ein umfangreiches Bild vom Leben jenes Mannes, der Jahrzehnte lang Gesprächsstoff in allen Gesellschaftsschichten des Russischen Reiches war.

Grigori Jefimowitsch Rasputin wurde im Großdorf Prokrowskoje, Landkreis Tjumen, im Gouvernment Tobolsk geboren. Dieses Dorf liegt in den unermesslichen Weiten Sibiriens. Der Geburtstag Rasputins blieb lange rätselhaft. Bis in die jüngste Zeit hinein nannten seine Biographen verschiedene Geburtsdaten. Im Tjumener Archiv brachte ein Bericht der Einwohnerzählung des Dorfes Prokrowskoje Klarheit. Darin ist das genaue Rasputins verzeichnet – der 10.Januar 1869. In seiner Kindheit galt Rasputin als streitsüchtig und ungebärdig. Er wuchs auf den Feldern auf, half mit, wo er konnte, lernte in dieser Zeit aber weder lesen noch schreiben. Beim Spiel mit anderen Dorfkindern verlor Rasputin eines Tages sein Gleichgewicht und stürzte in den eiskalten Fluss. Mit großer Kraftanstrengung gelang es ihm, sich gegen die reißende Strömung zu behaupten, und wieder das Ufer zu erreichen. Doch Rasputin hatte sich eine schwere Lungenentzündung geholt. Es gab keinen Arzt in der Nähe. Grigori kämpfte mehrere Wochen gegen das Fieber an. Eines Morgens, als man ihn schon verloren glaubte, hatte er eine Marienerscheinung, die auch vom Dorfpfarrer bestätigt wurde. Rasputin glaubte danach, von den himmlischen Mächten mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht worden zu sein. Zwar hatte ihn die Krankheit geschwächt, doch er verfügte von nun an über paranormale Fähigkeiten. Immer öfter traten bei Rasputin Momente von Hellsichtigkeit auf. So konnte er, als das Pferd eines Nachbarn verschwand, spontan den Namen des Diebes und auch das Versteck des Tieres benennen. Bald hieß es im Ort, er habe das „Zweite Gesicht“. Die Jahre vergingen, und aus dem Kind Rasputin wurde ein labiler Heranwachsender, der zu Träumereien neigte, die Halluzinationen glichen. Grigori begann zu den Heiligtümern in der Umgebung seines Heimatortes zu pilgern. Außerdem suchte er die Einsiedler der Gegend auf. Ihn verwunderten die Kasteiungen, welche sie sich auferlegten, um den Leiden Christi näher zu sein. Nach seiner Rückkehr aß er eine Zeitlang kein Fleisch und verzichtete auf Süßigkeiten. Aber es gab Versuchungen, denen selbst eine gestählte Seele nicht widerstehen konnte. Rasputin lernte ein junges Mädchen kennen, und heiratete sie. Wie es der Brauch wollte, zog die junge Frau in das Haus ihres seit kurzem verwitweten Schwiegervaters ein. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis Rasputins Frau einen Sohn zur Welt brachte. Dieser starb kurz nach der Geburt. Der Schicksalsschlag empörte Rasputin zutiefst. Er begann zu trinken und anderen Frauen nachzustellen. Im Alter von 23 Jahren verließ er den väterlichen Hof, um eine lange Pilgerreise zu unternehmen. Dabei lernte er einen Starez namens Makarijs kennen, unter dessen Einfluß er lange Jahre stehen sollte. Makarijs brachte ihm auch die Grundbegriffe des Lesens und Schreibens bei, und unterwies den jungen Rasputin in der Heiligen Schrift. Rasputin machte sich immer wieder auf den Weg. Er pilgerte ohne bestimmtes Ziel von einem Kloster zum nächsten. Es zog ihn immer weiter in die Ferne. Ab und zu kehrte er in sein Heimatdorf zurück. Seine Frau brachte in diesen Jahren drei Kinder zur Welt. Die Vaterschaft freute ihn offensichtlich, doch seine Hauptaufgabe sah er wohl eher in der Verbreitung von Gottes Wort. Rasputin ist von einer seltsamen Aura umgeben. Viele Dorfbewohner sahen in ihm bereits zu jener Zeit einen Heiler. Alles an ihm schien geheimnisvoll. Sein Gesicht, auf zahlreichen Fotografien erhalten, wurde von den Menschen, die ihm begegnet sind, ziemlich übereinstimmend beschrieben: Es ist das schmale, von Wind und Wetter gegerbte, von der Sonne verbrannte faltige Gesicht eines russischen Bauern mit großer Nase, vollen sinnlichen Lippen und langem Bart. Das Haar trug in der Mitte gescheitelt und in die Stirn gekämmt, um eine seltsame Beule auf der Stirn zu verdecken, die dem Ansatz eines Hornes glich. Seine Augen nehmen den Betrachter noch heute auf den Fotografien gefangen – eine hypnotische Kraft leuchtet aus ihnen. Durch die Popularität in seinem Dorf ermutigt, mietete er ein Haus und baut dessen Keller zu einer Art Kapelle aus. Vor allem Frauen drängten sich zu den mystischen Versammlungen. Seine Anhänger ließen ihrer Nächstenliebe freien Lauf – zuweilen begibt sich die ganze Gruppe gemeinsam ins Schwitzbad. Man liebte sich auf dem feuchten Boden, und dankte Gott für die Freuden, die er seinen Geschöpfen gewährte. Aber Rasputin hatte nicht nur Anhänger im Dorf. Manche glaubten, er habe einen Pakt mit dem Bösen geschlossen. Rasputin wurde auch als Mitglied der „Chlysten“ angeprangert. Das bedeutete eine überaus schwerwiegende Anschuldigung, denn die Sekte der Geißler erkannte die Riten der orthodoxen Kirche nicht an. Ein Priester sollte den Sachverhalt aufklären. Doch Rasputin wich dieser Begegnung aus. Auf einer erneuten Reise lernte er in Kazan, dem Sitz der vier theologischen Akademien Russlands, einen Pelzwarenhändler kennen. Dieser war von seinem hypnotischen Blick und seiner sturzflutartigen Beredsamkeit so beeindruckt, dass er Rasputin einigen Geistlichen aus seinem Bekanntenkreis vorstellte. Hier nun begann der Weg des Starez nach ganz oben. Von den Weissagungen des augenscheinlich ungebildeten Neuankömmlings fasziniert, riet ihm einer der Geistlichen, Vater Michail, nach St. Petersburg zu gehen, wo er sicher aufmerksame Ohren finden würde. Er stattete Rasputin sogar mit einem Empfehlungsschreiben aus. Als Rasputin im Frühjahr 1903 in St. Petersburg eintraf, war er 34 Jahre alt. Ein Bauer von magerer, ungepflegter Gestalt, mit geflickten Stiefel und im Bettelgewand – doch seine Augen fesselten jeden. Sein Blick hatte einen stählernen Glanz und eine fast magnetische Starre. Sein Ruf war Rasputin vorausgeeilt. Durch das Empfehlungsschreiben von Vater Michail gelang es ihm, bis zu Bischof Sergej, dem Rektor der kirchlichen Akademie, vordringen. Trotz seines bäuerlichen Habitus fühlte er sich offensichtlich in jeder Gesellschaft wohl. In dieser Zeit wurde er auch dem einflussreichen Priester Theophan vorgestellt. Auf dessen Betreiben empfingen einige Familien des Großbürgertums und des Adels den Starez. Ein hochangesehener Mönch namens Iliodor empfahl Rasputin der Gattin eines Staatsrats. Olga Lochtina litt an Neurasthenie (Nervenschwäche). Die Ärzte hatten sie bereits aufgegeben. Rasputin erkannte offenbar auf den ersten Blick die Ursache ihrer Erkrankung. Er redete ihr lange zu und Olga geriet allein durch den Klang seiner stimme in den bann dieses Mannes. Der angehende Wunderheiler kam zu dem Schluss, er könne sie von ihrer chronischen Angst nur befreien, indem er nicht nur seelisch sondern auch körperlich von ihr Besitz ergriff. Dieses durchaus ungewöhnliche Mittel wirkte Wunder. Olga Lochtina wurde zur Geliebten Rasputins. Sie stellte ihn ihren Freundinnen als Heiler und Propheten vor. Dadurch drang der Starez, wie ihn alle fortan nannten, immer weiter höhere Gesellschaftsschichten vor. Hier lernte er auch die Gräfin Ignatjewa kennen, die sich dem Okkultismus verschrieben hatte. In ihrem Salon waren regelmäßig Medien zu Gast, es wurden Seancen abgehalten und jenseitige Wesenheiten beschworen. Bei diesen Treffen war Rasputin in seinem Element. Man hing an seinen Lippen und verschlang ihn mit den Augen. Selbst Männer waren von ihm fasziniert. Bei den Seancen kam es immer wieder zu sexuellen Ausschweifungen, denn Rasputin lebte nach der Maxime, dass nur dem, der eine Sünde beging, diese auch vergeben werden konnte.

Unter seinen Bewunderern befanden sich auch die sogenannten „schwarzen Prinzessinnen“, die beiden montenegrinischen Großfürstinnen Miliza und Anastasia, die der Zarin Alexandra Fjodorowa nahe standen, welche sich ebenfalls für Okkultismus interessierte. Im November 1905 kam es zur schicksalhaften Begegnung zwischen Rasputin und dem Zaren. Der Starez war angesichts des Herrscherpaares weder erstaunt noch verlegen. Er duzte beide ohne zu zögern, nannte ihn „Väterchen“ und die Zarin „Mama“. Weitschweifig berichtete er von Sibirien und vom schweren Leben in den Dörfern dort. Nikolaus II war wie hypnotisiert von Rasputin. Am Abend vertraute er seinem Tagbuch an: „Lernte einen Mann Gottes kennen, Grigorij Rasputin, aus dem Gouvernement Tobolsk.“ Bei diesem ersten Treffen erkannte Rasputin wohl auch die labile Natur der Zarin. Sie war genau der Typ Frau, die seine Unterweisung suchte. Die Methode des Starez war einfach: Er beschränkte sich darauf, für den Mann oder die Frau intensiv zu beten, die er zu retten sich vorgenommen hatte, und nahm so ihre Leiden auf sich. Am 15. Oktober 1906 wurde Rasputin von Nikolaus II erneut im Palast von Zarskorje Sjelo empfangen. Der Zar befand sich in Gesellschaft seiner Familie. Das Treffen verläuft ungeachtet aller Standesunterschiede in einer sehr entspannten, fast ist man versucht zu sagen, freundschaftlichen Atmosphäre. Im Dezember stellte die Zarin Rasputin ihrer besten Freundin Anna Wyrubowa vor. Die Gattin des Hofkanzleichefs war fasziniert von Rasputin und wurde eine seiner glühendsten Verehrerinnen. Somit waren für den Starez die Wege bei Hof geebnet. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis das Herrscherpaar keine Entscheidung mehr ohne vorherige Absprache mit ihm traf. Dies hatte jedoch ganz besondere Gründe. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man schon lange davon, der Zarewitsch sei von der Bluterkrankheit befallen. Diese nur durch Frauen und fast ausschließlich nur auf männliche Nachfolger übertragene Erbkrankheit äußert sich in einer mangelhaften Gerinnungsfähigkeit des Blutes. Der kleinste Stoß kann bei Hämophilen zu nicht enden wollenden Blutungen führen. Das in den Geweben oder in den Gelenken gestaute Blut verursacht unerträgliche Schmerzen. Da selbst die hervorragendsten Ärzte sich unfähig erwiesen, den Thronfolger zu heilen oder ihm auch nur Erleichterung zu verschaffen, kam die Zarin zu der Überzeugung, dass nur Gott ein solches Wunder vollbringen konnte. Immer öfter wanderten ihre Gedanken in dieser Angelegenheit wohl zu Rasputin. Ende Oktober 1907 fiel der Thronfolger beim Spielen im Garten hin und klagte über heftige Schmerzen im Bein. Unter der Haut hat sich ein Ödem gebildet. Die herbeigerufenen Ärzte waren nicht in Lage, dem Zarewitsch zu helfen. Die Zarin ließ daraufhin Rasputin rufen. Dieser berührt den Thronfolger nicht einmal, sondern blickte ihn nur mit seinen hypnotischen Augen durchdringend an. Das Kind hörte auf zu weinen und entspannte sich. Am nächsten Morgen hatte sich das Ödem zurückgebildet. Rasputins Ruf als Wunderheiler erhielt durch diese Geschichte erneut Nahrung. Noch viele Male konnte nur Rasputin die Blutungen des kleinen Zarewitsch zum Stillstand bringen. Dadurch steigerte sich auch die Abhängigkeit des Herrscherpaares schier ins Unermessliche. Keine Entscheidung, vor allem auch keine politischen Dispositionen, wurden mehr ohne den Rat Rasputins getroffen. Seine Macht nahm immer mehr zu, doch im gleichen Ausmaß wuchs auch die Zahl seiner Feinde. Im Mai 1914 bezog Rasputin eine Wohnung in der Nähe des Zarenpalastes. Die Miete wurde aus der  Privatschatulle des Zaren beglichen. Rasputins Bekanntenkreis hatte sich beträchtlich erweitert. Er sah sich immer öfter gezwungen, der Inbrunst seiner Verehrerinnen Grenzen zu setzen. Einflussreiche Höflinge, die früher über Rasputin spotteten, nahmen ihn nun sehr ernst. Jeder wußte, dass beim Zarenpaar nichts mehr ohne eine Empfehlung Rasputins ging. Keiner nahm mehr Anstoß an seinem ungepflegten Äußeren, seinen bäuerlichen Manieren und seinem zusammenhanglosen Geschwätz. 

Im Juni 1914 kehrte er noch einmal in sein Heimatdorf Pokrowskowje zurück. Bei seiner Ankunft wurde Rasputin von einer großen Menschenmenge empfangen. Eine in Lumpen gekleidete Frau bettelt ihn um Almosen an. Während er in seiner Tasche nach Geld sucht, zog sie plötzlich ein Bajonett und stieß es Rasputin in den Leib. Der Starez versetzte ihr mehrere Fausthiebe auf den Kopf, während sie versuchte, ihn erneut und tödlich zu treffen. Schließlich konnte die Rasende kann überwältigt werden. Eine Notoperation rettete das Leben Rasputins. Am nächsten Tag wurde er per Schiff ins Hospital von Tjumen überführt. Mehrmals noch versuchten Verschwörer, Rasputin umzubringen, doch alle Komplotte schlagen fehl. Indes wurde die Vertrautheit des Starez mit dem Herrscherpaar wird immer intensiver. Gerüchte über ein sexuelles Verhältnis der Zarin mit Rasputin machten in der höfischen Gesellschaft die Runde. Anders schien das blinde Vertrauen, welches die Zarin dem Starez entgegen brachte, nicht mehr verständlich. Konservative Monarchisten um den Prinzen Felix Jussupow, beschlossen, Rasputin endgültig aus dem weg zu räumen. Bald wurde ein neuer Mordanschlag geplant, und diesmal sollte er endgültig sein. In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1916 war es soweit. Unter dem Vorwand, dass seine Frau, Prinzessin Irina, ihn kennen lernen möchte, wollte Felix Jussupow Rasputin in sein Palais locken. Prinzessin Irina weilte zu dieser Zeit auf der Krim bei ihren Schwiegereltern, doch das wusste Rasputin nicht. Die Verschwörer legten genau fest, wie sie Rasputin ermorden wollen. Eine Schusswaffe erschien zu unvorsichtig, weil das Polizeikommissariat dem Palais direkt gegenüber lag. Für einen möglichst lautlosen Tod kam nur Gift in Frage. Anschließend sollte die Leiche in einem Eisloch der ansonsten zugefrorenen Newa versenkt werden. Einer der Verschwörer, Dr. Lasowert, besorgte das Gift. Prinz Jussupow ließ für diesen Abend im Kellergeschoß des Familienpalais ein geräumiges Zimmer herrichten. Um 23.00 Uhr war alles bereit. Die Dienstboten zogen sich zurück. Dr. Lasowert füllte einige Törtchen mit tödlichem Zyankali. Der Prinz wollte jedoch ganz sicher gehen, und wies die Verschwörer an, flüssiges Zyankali in den Wein zu mischen, der Rasputin kredenzt werden sollte. Jussupow persönlich holte den Starez an diesem schicksalhaften Abend aus dessen Wohnung ab. Rasputin brachte dem Prinzen, der nicht unbedingt zu seinen Freunden zählt, ein verblüffendes Vertrauen entgegen. Wo war seine Hellsichtigkeit, wo sein angeborenes Misstrauen?

Rasputin wurde zu Wein und einem Imbiss eingeladen. Er ahnte noch immer nichts. Felix Jussupow reichte ihm die Platte mit den Törtchen, der Starez griff beherzt zu, kaute mit Genuss und redete munter weiter. Durch diese Widerstandskraft völlig aus dem Konzept gebracht, bot Felix ihm den präparierten Trank an, dessen erster Schluck Rasputin nun endgültig zu Tode bringen sollte. Rasputin trank mit kleinen Schlucken und zeigte keine Anzeichen einer Vergiftung. Die Nerven des Prinzen lagen blank. Es war bereits halb drei Uhr früh. Panisch stürzte er in sein Büro hinauf, denn das Gift hatte keinerlei Wirkung gezeigt. Niemand der Verschwörer ahnte, dass der Zucker in den präparierten Törtchen das tödliche Zyankali neutralisiert hatte. Nach einer fieberhaften Diskussion beschlossen die Komplizen, gemeinsam hinunter zu gehen, um sich auf Rasputin zu stürzen und ihn zu erwürgen. Jussupow änderte jedoch seine Meinung. Er wollte lieber ohne fremde Hilfe handeln. Mit dem Revolver des Großfürsten Dmitrij bewaffnet, kehrt er in den Keller zurück, wo der Starez mit gesenktem Kopf und schwer atmend an seinem Platz saß. Rasputin verlangte nach Madeira. Der Prinz hielt die Waffe hinter seinem Rücken verborgen. Als Rasputin nun gar aufstand, um die Einrichtung des Raumes einer Begutachtung zu unterziehen, sah Jussupow seine Chance gekommen und feuerte. Mit einem wildem Aufschrei brach der Starez zusammen. Kaum hatten sie den Schuss gehört, stürzten die anderen Verschwörer herbei. Rasputin lag rücklings mitten im Raum. Er hatte die Augen geschlossen, die Hände verkrampft. Doktor Lasowert stellte seinen Tod fest. Es war inzwischen drei Uhr morgens. Wie geplant sollte nun die Rückkehr des Starez simuliert werden, um einen ersten Verdacht zu zerstreuen. Zwei der Verschwörer brachen auf, gefolgt von Großfürst Dmitrij im offenen Wagen. Nachdem sie Rasputin zum Schein nach Hause gebracht hatten, kamen sie im geschlossenen Wagen zurück, um die Leiche abzuholen und in der Newa zu versenken. Die anderen blieben im Palais zurück, um auf die Rückkehr der Komplizen zu warten. Prinz Jussupow beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Er musste noch einmal nach dem Toten sehen. Rasputin lag noch immer reglos auf den Fliesen. Schon wollte der Prinz in sein Büro zurückkehren, als der vermeintlich Tote plötzlich die Augen aufschlug. Sogleich stürzte Jussupow die Treppe hinauf und schrie nach seinem Mitverschworenen Purischkjewitsch. Dieser lud einen Revolver, eilte die Treppe hinunter und kam gerade zurecht, um zu sehen, wie Rasputin schwerfällig auf eines der Tore im Hof zusteuerte – auf eben jenes, das nicht verschlossen war. Purischkjewitsch schoß zweimal auf Rasputin, verfehlte ihn aber. Er zielte nochmals und traf Rasputin in den Rücken. Als der Starez wankte, feuerte Purischkjewitsch erneut auf den Kopf des Verwundeten. Rasputin brach zusammen. Außer sich vor Wut versetzte Puritschkjewitsch ihm einen heftigen Stiefeltritt gegen die Schläfe. Der tödlich Verwundete zuckte zusammen, robbte bäuchlings davon und blieb schließlich in der Nähe des Tores liegen. Es war zu Ende. Für Rasputin sollte es keine dritte Auferstehung geben. Die Verschwörer wickelten den leblosen Körper in ein Tuch, luden ihn ins Auto und fuhren zur Petrowskijbrücke. Dort warfen sie die Leiche in ein Eisloch. Wenig später liefen die Untersuchungen, das plötzliche Verschwinden Rasputins betreffend, bereits auf Hochtouren. Schon am Morgen des 17. Dezembers entdeckten Arbeiter auf der Brücke Blutspuren, am 18. Dezember begann man an Ort und Stelle zu suchen. Am 19. Dezember lenkte ein treibender Pelzmantel die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich. Taucher fanden schließlich unter dem dicken Eispanzer des Flusses die entstellte Leiche des Starez. Am 21. Dezember 1916 wurde Rasputin in Anwesenheit der Zarenfamilie in der neuen Kirche von Alexandrowka begraben. Er sollte dort nicht lange in Frieden ruhen. In den Wirren der Oktoberrevolution grub eine Gruppe Soldaten den Sarg mit Rasputins sterblichen Überresten wieder aus. Er wurde auf einen Lastwagen verladen, um ihn anonym auf dem Land zu bestatten. Der Lastwagen hatte jedoch eine Panne. Neugierige kamen herbei und verlangten den Inhalt des Sarges zu sehen. Entsetzt vom Anblick der unverwesten Leiche mit dem schwarz verfärbten Gesicht beschworen sie die Soldaten, den Toten mit Benzin zu übergießen und an Ort und Stelle zu verbrennen. Die Verbrennung dauerte sechs Stunden. 

Die Aufzeichnungen und Überlieferungen von Rasputins Wirken legen den Schluß nahe, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit zu den Schamanen gehörte, die in Sibirien eine bis in die Gegenwart ungebrochene Tradition haben. Schamanismus ist der Naturglaube der Urbevölkerung Sibiriens. Er gilt neben dem Ahnenkult als eine der ältesten Religionen. Riten und Praktiken unterscheiden sich regional, überall jedoch gelten die Schamanen als Mittler zwischen den Menschen und der Welt des Göttlichen. Noch heute glaubt man in Sibirien, dass ein Schamane Kranke heilt, indem er seine eigene Seele auf die so genannte Jenseitsreise schickt – um die Seele des Erkrankten zu finden und zur Rückkehr in die Welt der Menschen zu bewegen. Diese Astralreisen sind für den Schamanen geistig und körperlich äußerst anstrengend. Während der Heilungsreisen ins Jenseits kann es bei dem Schamanen zu Halluzinationen und ebenfalls zu Ohnmachtsanfällen kommen. Es heißt, dass er in diesem Zustand Gespräche mit den Göttern und der Seele des Erkrankten führt. Rasputin beherrschte darüber hinaus wohl auch die Kunst der Hypnose. Der Begriff „Hypnose“ leitet sich aus dem Griechischen her, und bedeutet eigentlich soviel wie („Heil-) Schlaf“. Die Reaktion hypnotisierter Menschen zeigt, dass bei ihnen die normale Verstandeskontrolle ausgesetzt hat. Rasputin benutzte seine hypnotischen Fähigkeiten, um die eigentlichen Ursachen einer Krankheit oder bestimmte Verhaltensmuster für ihn wichtiger Personen herauszufinden. Immer wieder gelang es Rasputin, seine hypnotischen Fähigkeiten zur Heilung von Krankheiten und Verletzungen einsetzen. Dadurch festigte er seinen Ruf und natürlich seine Stellung am Zarenhof. So verletzte sich beispielsweise im Jahre 1912 der Zarewitsch beim Aussteigen aus einem Boot. Es bildete sich ein Bluterguss, der aber rasch wieder zurückging. Aber ein paar Tage später verschlechterte sich der Zustand des Kindes drastisch. In der Hüftgegend hatte eine ziemlich starke Blutung eingesetzt, die heftige Schmerzen verursachte. Sofort wurde ein Telegramm an Rasputin gesandt, der sich zu Hause in Prokoskowje befand. Er begann, einen Ritus durchzuführen, der ihn nach Aussagen seiner Tochter körperlich außerordentlich anstrengte. Die Methode der Schmerzübertragung durch Telepathie ist ein Ritus, den Rasputin offensichtlich von Schamanen gelernt hatte. Am nächsten Morgen war der Gesundheitszustand des Zarewitsch fast wieder hergestellt. Die Ärzte allerdings erklärten das Phänomen durch einen simplen Zufall und vor allem damit, dass die Zarin dank Rasputins Beistand endlich aufhörte, durch ihre Hysterie die Angst des Kindes weiter zu steigern. Aber nicht nur die Familie des Zaren kam in den Genuss von Rasputins Heilkräften: In seiner Wohnung, die der Zar bezahlte, errichtete Rasputin eine Art Privatpraxis für jeden der seiner Kräfte bedurfte und zahlungsfähig war. Die hellseherischen Fähigkeiten Rasputins sind recht umstritten. Obwohl er einige Male mit nahezu unglaublichen Treffsicherheit Ereignisse voraussagte oder erahnte, ist es doch merkwürdig, dass er sein eigenes Schicksal nicht vorhersah. Jedoch prophezeite Rasputin die Ermordung des Innenministers Pjotr Stolypin genau sieben Tage, bevor sie stattfand. Der Innenminister war aufgrund von Versäumnissen der Geheimpolizei getötet worden. Ein gewisser Dimitri Bogrow, der als revolutionärer Terrorist bekannt war, erschien zu einer Theateraufführung in Kiew, die auch der Zar besuchte. Er gelangte, bewaffnet mit einem Revolver, ungehindert in den Theatersaal. Während der Pause zog Bogrow seine Waffe und feuerte zweimal auf den Innenminister. Dieser soll sich noch zur Zarenloge umgedreht und zweimal bekreuzigt haben, ehe er zusammenbrach. Zwei Tage später war Stolypin tot. Rasputins Name wurde gerüchteweise mit dem Mord an dem Innenminister in Verbindung gebracht. Viele seiner anderen Ahnungen, Voraussagen und Prophezeiungen, besonders jene das Ende des Zarenreiches und der Zarenfamilie betreffend, können als eine Interpretation von Gesprächen angesehen werden, an denen der Starez in den Salons der Adligen teilnahm. Rasputin vermochte es auch ausgezeichnet, sich in die Seele des einfachen russischen Volkes hineinversetzen und die revolutionäre Stimmung zu erspüren.

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Über Thomas Ritter 110 Artikel
Thomas Ritter, 1968 in Freital geboren, ist Autor und freier Mitarbeiter verschiedener grenzwissenschaftlicher und historischer Magazine. Thomas Ritter hat zahlreiche Bücher und Anthologien veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er seit mehr als zwanzig Jahren Reisen auf den Spuren unserer Vorfahren zu rätselhaften Orten sowie zu den Mysterien unserer Zeit. Mit seiner Firma „Thomas Ritter Reiseservice“ hat er sich auf Kleingruppenreisen in Asien, dem Orient, Europa und Mittelamerika spezialisiert. Mehr Informationen auf: https://www.thomas-ritter-reisen.de Nach einer Ausbildung zum Stahlwerker im Edelstahlwerk Freital, der Erlangung der Hochschulreife und abgeleistetem Wehrdienst, studierte er Rechtswissenschaften und Geschichte an der TU Dresden von 1991 bis 1998. Seit 1990 unternimmt Thomas Ritter Studienreisen auf den Spuren früher Kulturen durch Europa und Asien.