„Noch feiert Tod das Leben“ Zum 50. Todestag der Lyrikerin Nelly Sachs

wissen buch bibliothek gläser lehrbuch. Quelle: DariuszSankowski, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Erinnerungen an Nelly Sachs

Nelly Sachs war wegen ihrer jüdischen Herkunft eine Holocaust-Verfolgte und deshalb schwer traumatisiert. Durch ihre Lyrik erlang sie Weltruhm und wurde schließlich im Jahr 1966 mit dem Literatur-Nobelpreis gewürdigt. Damit war sie die erste deutschsprachige Frau, der diese Ehre zugeteilt wurde. Bereits ein Jahr zuvor war sie wiederum die erste Frau, die den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Diese ersten internationalen Anerkennungen erhielt sie jedoch etwa erst 20 Jahre nach ihrer Flucht ins schwedische Exil. Lange musste sie um ihre literarische Anerkennung kämpfen und ringen. Damit erging es ihr wie ihren jüdischen Schriftsteller-Kollegen Paul Celan, Jean Améry, Primo Levi und Imre Kertész. Sie alle waren ihrer Zeit voraus. Im frühen Nachkriegsdeutschland stieß Holocaust-Literatur auf Desinteresse, Ignoranz, Diffamierung oder schroffe Ablehnung – vor allem, wenn sie von jüdischen Holocaust-Opfern stammten. Durch die jüngere Schriftsteller-Generation erhielt Nelly Sachs endlich aus der Bundesrepublik Deutschland wertvolle Unterstützer. Allen voran waren es Hans Magnus Enzensberger, der sie 1958 erstmals in Stockholm besuchte. Er wurde Lektor im renommierten Suhrkamp-Verlag und ermöglichte ihr die Publikation in diesem Verlag. Von da an stieg ihr Bekanntheitsgrad rasant. 1960 erschienen von ihr zwei Gedichte in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anthologie „Museum der modernen Poesie“. Es folgten 1961/62 zwei Bände über ihr Werk im Suhrkamp-Verlag. Im Jahr 1963 erschien ebenfalls im Suhrkamp-Verlag der Band „Ausgewählte Gedichte“. Diese in der Literaturwelt angesehenen Publikationen förderten wesentlich ihre folgenden deutschen Literaturpreise, sowie den Literatur-Nobelpreis. „Noch feiert Tod das Leben“ ist einer der bekanntesten Gedichtzyklen über den Holocaust aus ihrem Spätwerk.

Kurze Biographie

Nelly Sachs wurde am 18. Dezember 1891 in Berlin-Schöneberg geboren. Sie war das einzige Kind des Erfinders und Fabrikanten William Sachs und seiner Ehefrau Margarete. Nelly Sachs wuchs also in einem kultivierten, jüdisch-großbürgerlichen Milieu auf. Im Jahr 1930 starb ihr geliebter Vater an einer Krebserkrankung. Von da an „ging‘s bergab“. Sie musste mit ihrer Mutter in Mietshäuser umziehen und bald wurde sie wiederholt zu Gestapo-Verhören einbestellt. Ihre Wohnung wurde mehrmals von SA-Leuten geplündert. Im Mai 1940 floh sie buchstäblich in letzter Minute in einem Flugzeug gemeinsam mit ihrer Mutter nach Stockholm. Die von Nelly Sachs verehrte Schriftstellerin Selma Lagerlöf, mit der sie schon lange Briefkontakt hatte, verschaffte ihr ein schwedisches Visum. In Stockholm lebte sie gemeinsam mit ihrer Mutter zehn Jahre in ärmlichen Verhältnissen, bis diese im Jahr 1950 starb. Nelly Sachs, die ihr ganzes Leben lang in einer sehr engen und symbiotischen Beziehung mit ihrer Mutter und lebenslang ohne einen männlichen Partner lebte, hatte damit in der Fremde und im Exil auch ihre wichtigste Bezugsperson verloren. Sie kam dadurch in eine schwere psychische Krise. Im Jahr 1960 erhielt sie den Meerseburger Droste-Preis. Nach zwanzig Jahren Exil hat sie anlässlich der Preisverleihung erstmals wieder deutschen Boden betreten. Die Wiederbegegnung mit dem „Tätervolk“ hat bei ihr eine paranoide Psychose ausgelöst. Sie litt unter schweren Zuständen von Verfolgungswahn und war in Stockholm anschließend mehrere Jahre stationär in psychiatrischer Behandlung. Zu ihrer psychischen Erkrankung kam im Jahr 1969 eine Krebserkrankung hinzu, an der sie schließlich am 12. Mai 1970 in Stockholm verstarb.

Freundschaft mit Paul Celan

Mit ihrem Schicksals- und Leidensgenossen Paul Celan, der 29 Jahre jünger war als sie, hatte Nelly Sachs eine 16 Jahre dauernde Freundschaft und einen ebenso langen Briefwechsel (1954 – 1970). Sie starben beide fast zum gleichen Zeitpunkt. Am 12. Mai 1970 war die Beerdigung von Paul Celan, der sich in Paris suizidiert hatte. Am selben Tag starb Nelly Sachs in Stockholm an ihrer Krebserkrankung (Csef 2020). Der Briefwechsel der beiden erschien im Jahr 1993 im Suhrkamp-Verlag und wurde von Barbara Wiedemann herausgegeben. In der Rezension des Briefwechsels durch Peter Hamm in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ ist zu lesen:

„Dichtung war für beide ein über den Abgrund der Vergangenheit gespanntes Rettungsseil aus nichts als Worten.“

(Peter Hamm 1993)

In einem Brief aus dem Jahre 1959 schrieb Nelly Sachs an Paul Celan:

„Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes.“                                                                                   

(zit. n. Dina Mastai 2020).

Folgende Gemeinsamkeiten können wir zwischen Nelly Sachs und Paul Celan finden: Beide waren jüdischer Herkunft, beide waren Einzelkinder und wurden durch das Nazi-Regime zu Holocaust-Verfolgten. In ihren Werken findet die Autorin Dina Mastai (2020) folgende charakteristische Merkmale:

„… eine metaphysische Unruhe, ein Gefühl der Fremdheit und des Verfolgtseins, Suche nach der nicht mehr existierenden Heimat und die Empathie mit den Leidenden – eine Lyrik des Schreckens und der Flucht.“

(Mastai 2020, S. 3)

Die Autorin kam zu folgendem Fazit:

„Sachs und Celan haben zwar überlebt, sich aber seelisch nicht in der Gegenwart angesiedelt und sind im Laufe der Jahre immer wieder in die das Selbst negierende Lakune des Traumas abgeglitten, bis sie fast gleichzeitig aus dem Leben schieden. Die seit Langem kranke Nelly Sachs starb drei Wochen nach Celans Selbstmord.“

(Mastai 2020, S. 6)

Nelly Sachs und Hilde Domin

Nelly Sachs (1891 – 1970) und Hilde Domin (1909 – 2006) zählen zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen der Nachkriegszeit. Sie waren ebenfalls lange befreundet und durch einen intensiven Briefwechsel verbunden. Die Deutsche Schiller-Gesellschaft hat im Jahre 2016 diesen Briefwechsel herausgegeben. Im Band „Aber die Hoffnung“ von Hilde Domin (Domin 1982) findet sich ein hervorragender Essay mit dem Titel „Daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt. Die Dichtung der Nelly Sachs.“ Hilde Domin formuliert das Hauptcharakteristikum von Nelly Sachs wie folgt:

„Es kommt ihr nur auf die Hauptsachen an: auf Liebe, Zuhause, Heimat. Auf Wahrhaftigkeit. Auf Gnade und Auferstehung. Auf Nicht-Mord, auf Nicht-Gleichgültigkeit. Auf das, was unser aller Leben ausmacht, was unser aller Leben zerstören kann.“

(Hilde Domin 1982, S. 143).

„Wir Geretteten“

Eines der bekanntesten und eindrucksvollsten Holocaust-Gedichte ist „Der Chor der Geretteten“. Hans Magnus Enzensberger hat dieses Gedicht in die von ihm herausgegebene und sehr bekannt gewordene Gedichtsammlung im Suhrkamp-Verlag aufgenommen. Es erschien im Jahr 1961 im Gedichtband „Fahrt ins Staublose“.

„Chor der Geretteten

Wir Geretteten,

aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,

an deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich –

Unsere Leiber klagen noch nach,

mit ihrer verstümmelten Musik.

Wir Geretteten,

immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht

vor uns in der blauen Luft –

immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem

tropfenden Blut,

wir Geretteten,

immer noch essen an uns die Würmer der Angst,

unser Gehirn ist vergraben im Staub,

wir Geretteten

bitten Euch:

Zeigt uns langsam Eure Sonne:

Führt uns von Stern zu Stern im Schritt,

laßt uns das Leben leise wieder lernen.

Es könnte sonst eines Vogels Lied,

das Füllen des Eimers am Brunnen

unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen

und uns wegschäumen –

wir bitten Euch:

Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund –

es könnte sein,

daß wir zu Staub zerfallen –

vor Euren Augen zerfallen zu Staub.“

(Nelly Sachs 1961, S. 50)

Literatur:

Celan Paul, Sachs Nelly (1993) Briefwechsel. Barbara Wiedemann (Hrsg.)  Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Csef Herbert (2020) „Versunken im bitteren Brunnen des Herzens“

Der Suizid des Lyrikers Paul Celan vor 50 Jahren. Tabularasa Magazin

Domin Hilde (1982) „Daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt. Die Dichtung der Nelly Sachs“. In: Hilde Domin: Aber die Hoffnung,  Piper München, S. 143-150

Domin Hilde, Sachs Nelly (2016) Briefwechsel. Deutsche Schillergesellschaft (Hrsg.) Marbach

Hamm Peter (1993) Das Leben hat die Gnade, uns zu zerbrechen. Die Zeit Nr. 41/1993 vom 8. Oktober 1993

Mastai Dina (2020) „Wir sind die Ränder einer Wunde“. Jüdische Allgemeine“ vom 17.5.2020

Sachs Nelly (1961) Fahrt ins Staublose. Gedichte. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Sachs Nelly (2010) Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Band I: Gedichte 1940-1950, Band II: Gedichte 1951-1970, Band III: Szenische Dichtungen, Band IV: Prosa und Übertragungen. Suhrkamp, Berlin

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef, Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Zentrum für Innere Medizin, Medizinische Klinik und Poliklinik II, Oberdürrbacherstr. 6, 97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

Über Herbert Csef 150 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.