Aufklärung – dieses Wort hat heutzutage für den sich selbst als aufgeklärt empfindenden Menschen der Moderne einen geradezu selbstverständlich guten Klang. Es gehört offenbar zum guten intellektuellen Ton, sich der Aufklärung zu rühmen und zumindest Verständnis für sie zu zeigen. Da klingt Befreiung mit, das Ende der Unterdrückung und das Erhellen des Verstandes. Selbstbestimmung, Autonomie, Entscheidungsfreiheit, ja selbst Verantwortung – hat all das nicht erst mit der Aufklärung begonnen? Im Allgemeinwissen scheint gerade diese Vorstellung wie ein Mantra über vielem anderen zu schweben. Mehr oder weniger automatisch scheint das, was wir heute Aufklärung nennen, der eigentliche Beginn des geistbegabten homo erectus zu sein. Und wie selbstverständlich scheint zu gelten: Hinter dem, was wir heute Moderne nennen, fällt ein vermeintliches dunkles Mittelalter weit ab. Ganz zu schweigen von den Zeiten vor dieser angeblich finsteren Epoche.
Das „Sapere aude“ des Immanuel Kant ist 1784 zum Leitspruch der Aufklärung geworden. Seither wissen wir, es braucht Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Doch – wenn man die wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen heranzieht – es stellt sich mehr und mehr die Frage, wie man es eigentlich und wirklich wagt, weise zu sein. Mehr als 200 Jahre danach fragen sich manche, die der Weisheit nachzuspüren bereit sind, wie erhellend es sein könnte, die bisweilen unkritisch adaptierte Aufklärung aufklären zu wollen – und sich auch im Blick auf diese Epoche mutig des eigenen Versandes zu bedienen. Mehr als zwei Jahrhunderte nach der Entdeckung oder Definierung der sogenannten Vernunftreligion taucht sogar die Frage des Tertullian wieder auf: Was hat Athen mit Jerusalem zu tun? Gehören nicht vielleicht doch Glaube und Vernunft zusammen? Kann es unvernünftig sein, zu glauben? Und ist gar – wirklich? – der Glaube ein Widerspruch zur Vernunft. Wie lange trägt noch die Spaltung des Menschen in einen glaubensfreien Verstand und einen vernunftfreien Gefühlsraum?
Auch die Frage nach dem, was denn letztlich Freiheit bedeutet und ausmacht, rückt aus der mentalen Übertünchung mehr oder weder angstfrei wieder in den Denkhorizont des Homo sapiens zurück. Und erscheint keineswegs ein Zeichen von Dummheit oder Verklemmtheit zu sein, wenn in einer von Joseph Kardinal Ratzinger bereits vor Jahren diagnostizierten „Diktatur des Relativismus“ sich die Suche nach der Wahrheit im Zusammenhang mit der Freiheit und deren wechselseitige Verbundenheit zurückmeldet. Stimmt gar die These des großen Thomas von Aquin, der in der vom Schöpfer angelegten Hinordnung der menschlichen Vernunft auf das bonum universale der Grund dafür sei, „dass der Mensch seinem Wesen in eben dem Maße entspricht, in dem er sich zu demselben Zeil bestimmt, zu dem hin der Schöpfer ihn ruft“? Kann es sein, dass es alles andere als verwerflich oder unklug ist, die praktische Vernunft als ein Abbild der göttlichen Vernunft zu erkennen? Freiheit „ist nicht schon die Möglichkeit, unter mehreren Alternativen zu wählen, sondern die Selbstbindung an das als wahr und gut Erkannte. Wer sich kontinuierlich an das als wahr und gut Erkannte bindet, intensiviert seine Freiheit.“ (vgl. Karl-Heinz Menke, Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr? 2017, S. 19 und 24)
Die Aufklärung freilich lehrte etwas anderes und zerriss die menschliche Einheit von Glaube und Vernunft in zwei sich gegenüberstehende Torsi. Damit endete – zunächst und mit teilweise brutalen Folgen für die Humanität und das unbedingte Lebensrecht – eine Entwicklung, die seit der Antike auf der Suche der immer wieder zum Ausdruck gebrachten Einheit war. Zum Wesen der Philosophie gehörten die Frage nach der Wahrheit der Religion und der Versuch, die Wirklichkeit zu ergründen und zu verstehen. Aristoteles spürte dem Vernunftvermögen des Menschen nach und wollte wissen, wie es zur Wahrheit der sittlichen Einsicht kommen kann. Logos, was in seiner Bedeutung immer mehr war als „nur“ Verstand, umschrieb im Grunde genommen die Fülle des Seins mit Sprache, Verstand, Vernunft, Einsicht, Sinn, Lehre, Rechenschaft, Rechtfertigung, Beweis, Definition. Logisch handeln bedeutete auch und nicht zuletzt, richtig zu handeln und den Regeln der Konsequenz zu folgen. Allein im Blick auf diese Fülle des Logos war und ist zu verstehen, warum der Evangelist Johannes davon berichtet, dass das Wort, der Logos, Fleisch geworden ist. Das war nicht ein reiner Schriftakt. Das war, der Logik aus Jahrhunderten folgend, letztlich „alles“, ein Non plus ultra. Und es war, in der Konsequenz dieser Wahrheit, die logische Zustimmung zur höchst freiheitsbegründenden Wirklichkeit, durch die Bindung an die Wahrheit wirklich frei zu werden. „Die Freiheit des Menschen kann sich nicht selbst begründen“, sagt der Dogmatiker Menke. Und genau hier leuchtet auf, was der Satz aus dem Johannesevangelium andeutet: Die Wahrheit wird euch frei machen – Veritas Liberabit Vos (Jo 8,32).
Doch das schien, wegen der damit verbundenen Konsequenzen und schlechten politischen Erfahrungen im Absolutismus, den Menschen vor mehr als zweihundert Jahren zu überfordern. Die Selbstbindung an die kirchlich interpretierte Wahrheit, die zur Freiheit führen sollte, wurde von vielen als Fessel empfunden. Die wahre Freiheit musste, so dachte man, in der Befreiung von Wahrheit und Glaube liegen. Seither ist selbst die Kirche in eine ziemlich dauerhafte Krise des Wahrheitsanspruchs gerutscht, so dass auch hohe Vertreter des Lehramtes eine gewisse Schule verspüren, von der Wahrheit zu sprechen oder diese gar – tolerant und freundlich, aber eben unmissverständlich klar – zu verkünden. Das Selbstzeugnis des Gottessohnes Jesus Christus ist irgendwie störend: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Jo 14,6). Aus dem tolerare – tragen und ertragen – ist ein defizitärer Begriff von Toleranz geworden, der einer Beliebigkeit Tür und Tor öffnet, und der dadurch jeden wirklichen Anspruch auf Gültigkeit selbst verspielt. „Freiheit, die keine Wahrheit vorfindet, an die sie sich binden kann, ist dazu verurteilt, selbst zu entscheiden, was wahr sein soll.“ (Menke, 53) In den Dramen des Existentialisten Jean Paul Sartre kann man nachlesen und regelrecht nachempfinden, wie sehr die so verstandene – und man möchte hinzufügen: verstümmelte – Freiheit zum Verhängnis des Menschen wird. Und den Dienst der Philosophie, den sie als Maior Manifestio der Theologie mit deren Letztergründung der Gottebenbildlichkeit leistet, hat man beiseite geschoben. Nicht für immer, aber eben doch für lange Zeit. Thomas von Aquin wusste noch, dass man mit den Mitteln der Vernunft Gott erkennen kann, und zu den noch weithin unentdeckten Schätzen der Moderne gehört der ebenso klare wie logische Versuch des Philosophen Karl Wojtyla, des späteren Papstes Johannes Paul II., die Scholastik mit der Phänomenologie zu verbinden, was den Horizont der Freiheit und Wahrheit sehr weit und hell macht.
Das Aufbrechen der Einheit von Ratio und Fides begann freilich nicht erst mit der Aufklärung, sondern bereits im Umfeld der Reformation. Schon damals tauchte der Verdacht auf, Sprache sei eine starre Bindung an Tradition, an fremde Autoritäten, der Entzug echter Freiheit und eine Hürde zur Autonomie des Menschen wie ein Ausdruck von Vorurteilen. Der aktuelle Genderismus lässt grüßen! Erst mit Kant und seinen Vordenkern wurde die „Hure“ Vernunft (Martin Luther) befreit und kam es zur Unterordnung des Verstandes unter die Vernunft. Dabei wurde die Vernunft als sprachunabhängiges Vermögen des Bewusstseins erkannt. An die Stelle der metaphysischen Religion rückte vor zwei Jahrhunderten die sogenannte Vernunftreligion und das Postulat des autonomen Verstandesgebrauchs. Seither „glauben“ viele Menschen, der Glaube sei eine Sache der reinen Gefühligkeit und stünde der Vernunft entgegen. Nicht einmal Schleiermachers „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ hat seinen Sitz im Leben des homo intellectus.
In seinem Vortrag an der Pariser Sorbonne am 27. November 1999 hat Joseph Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., darauf hingewiesen, dass die philosophische Grundlage (des Christentums) durch das Ende der Metaphysik problematisch geworden ist: „Was als Wahrheit verpflichtende Kraft und verlässliche Verheißung für den Menschen gewesen war, wird nun zu einer kulturellen Ausdrucksform des allgemeinen religiösen Empfindens, die uns durch die Zufälle unserer europäischen Herkunft nahegelegt wird.“ Doch der „scheinbar gleichgültige Abschied von der Wahrheit über Gott und über das Wesentliche unseres Selbst“ sowie die „scheinbare Zufriedenheit, sich damit nicht mehr befassen zu müssen“ täusche, denn der Abschied von der Wahrheit könne niemals endgültig sein. Letztlich, so spricht er im Blick auf das Christentum, was aber – so kann man hinzufügen – der Logik entsprechend die Menschheit als solche insgesamt betrifft, gehörten die beiden scheinbar konträren Grundprinzipien „Bindung an Metaphysik und Bindung an die Geschichte“ zusammen und bedingen einander. Heute begegneten wir der Problematik, dass die durch das christliche Denken vollzogene Trennung von Physik und Metaphysik immer mehr zurückgenommen, aus dem gelebten Bewusstsein verdrängt: „Alles soll wieder zur ,Physik’ werden“ und eine „umfassend das Ganze alles Wirklichen erklärende Evolutionstheorie ist zu einer Art ,erster Philosophie’ geworden, die sozusagen die eigentliche Grundlage für das aufgeklärte Verständnis der Welt“ darstelle.
Das folgende Zitat aus dem Jahre 1999 hat an Aktualität und erklärender Dichte nichts verloren, weshalb es hier etwas ausführlicher Platz haben soll: Nach Ratzinger/Benedikt XVI. geht es und die Frage, „ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit (…), also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist, oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat Verbum – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. (…) Aber kann eigentlich die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfälligkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzugeben?“
Schon 1996 hatte der Kardinal darauf hingewiesen, dass eine Reduktion der Vernunft erfolgt sei, „weil sie zunächst einmal vom Glauben abgedrängt wurde und nur rein in sich selbst (…) bestehen sollte“. Sie sei bewusst schwerhörig geworden gegenüber den Realitäten und aller Wirklichkeit, die aus der Offenbarung und dem Glauben komme. Entstanden sei eine Art Schizophrenie, und als als vernünftig bleibe dann nur noch das Experimentierbare übrig. Alles andere, und zwar die großen Menschheitsfragen wie auch die Fragen des einzelnen, würden ins Irrationale abgeschoben. Damit aber muss die Menschheit in ihrem Wesentlichen irrational werden.
Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass der große Kant-Verehrer und Philosoph Jürgen Habermas einerseits bei seiner detranszentalisierten Vernunft bleibt, anderseits aber in seinem Disput mit Ratzinger im Jahre 2004 bekennt: „Die auf ihren tiefsten Grund reflektierende Vernunft entdeckt ihren Ursprung aus einem Anderen, dessen schicksalhafte Macht sie anerkennen muss, soll sie nicht in der Sackgasse hybrider Selbstbemächtigung ihre vernünftige Orientierung verlieren.“ Die Philosophie habe Gründe, sich gegenüber religiösen Überlieferungen lernbereit zu verhalten. An anderer Stelle gibt Habermas zu bedenken, dass Vernunft allein entscheidende Lücken in existentiellen Sinnfragen hinterlasse. Nicht nur solche Aussagen von offensichtlich religiös weniger begabten Denkern der Moderne machen nachdenklich, dass die vielgelobte Aufklärung mit ihrem Zerschneiden der Ganzheit menschlichen Seins und der Einheit von Fides und Ratio keineswegs der Kulminationspunkt intellektueller Ekenntnishöhe sein kann und muss. Das Plädoyer Kants für eine befreite Vernunft und deren mutigen Gebrauch des Verstandes muss mitnichten in alle Zeit als absolute – oder absolutistische? – Vernunftautarkie missverstanden bleiben. Es dämmert allmählich durch, dass es keiner Verabsolutierung und Selbstüberhöhung der wahrheitsverweigernden Vernunft bedarf, wenn menschliches Leben sich der Fülle in Freiheit nicht verweigern will. Auch Philosophen wie Volker Gerhardt sollten gehört werden, wenn sie darauf verweisen, dass die Wissenschaft ohne den Glauben, der ja nur für Ignoranten Nicht-Wissen bedeuten kann, nicht auskommt. Schließlich bezieht sich das Wissen auf die Welt, der Glaube aber darauf, ob dieses auch wirklich zutreffend ist. Deshalb meint Gerhardt, die Kombination von Glauben und Wissen biete als eine Steigerung der Selbstreferenz des Individuums einen höheren Freiheitsgrad. Und beim Philosophen Holm Tetens („Gott denken“) entdecken wir den Gedanken, dass das Geschöpfsein des gerechten und gnädigen Gottes mehr sei als nur Menschsein als hochkompliziert organisierte Materie einer rein materiellen Welt.
Die Frankfurter Schule, so Kardinal Ratzinger in einem Gespräch (mit dem Autor, vgl. Martin Lohmann, Maximum, Gütersloh 2007, 59ff., sowie Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Gesammelte Werke, Bände II, IX; XIII), habe bereits von der Dialektik der Aufklärung gesprochen und gemeint, dass „wenn die Aufklärung nur immer den Weg, den sie eingeschlagen hat, weitergeht, dann zerstört sie sich selber, weil sie dann ihre Grundbegriffe – Freiheit, Vernünftigkeit et cetera – so radikalisiert, dass Freiheit als radikale Individualfreiheit zugleich Freiheitszerstörung wird, Vernunft sich verengt und von ihren Quellen abschneidet. Und insofern muss sie, gerade wenn sie ganz werden will, eine Selbstkritik betreiben, in der sie ihr eigentliches und richtiges Wesen findet. Auf die Frage „Das heißt, die Aufklärung ist heute noch sehr bruchstückhaft?“ antwortete er: „Sie ist jedenfalls nicht auf den Weg gekommen, der ihr positives Wesen voll zur Erscheinung bringen könnte. Anders ausgedrückt: Es ist eine Reduktion der Vernunft erfolgt, weil sie zunächst einmal vom Glauben abgedrängt wurde und nur rein in sich selbst, ohne jeden Einfluss des Glaubens und der Offenbarung bestehen sollte. Das heißt, sie ist bewusst schwerhörig geworden gegenüber anderen Realitäten, eben gegenüber dem, was aus der Offenba- rung, aus dem Glauben herauskommt. Sie darf es gar nicht hören, weil sie gar nicht mehr rein wäre, weil die Philosophie gar nicht mehr Philosophie wäre. So denkt man, und das führt dann dazu, dass schließlich nur noch gilt, was experimentell verifizierbar ist, dass also die Vernunft sich auf einen engen Sektor beschränkt, eben den naturwissenschaft- lich ausweisbaren, und damit die großen Realitäten des Menschen ins Beliebige und Irrationale abschiebt. Dadurch entsteht eine Art Schizophrenie. Als vernünftig bleibt das Experimentierbare übrig. Alles andere, das heißt die großen eigentlichen Menschheitsfragen und Fragen jedes Einzelnen, werden ins Irrationale abgeschoben, und damit muss die Menschheit in ihrem Wesentlichen irrational werden.“
Vielleicht ist es heute an der Zeit dazu aufzurufen und dazu zu ermutigen, sich der selbstverschuldeten Angst vor der Wahrheit – und damit die Panik gegenüber der Wahrheitsfrage – zu entledigen. Mensch, bediene Dich Deiner in Dir verankerten Befähigung zum Zugang zur Wahrheit und Freiheit und der Begabung zur Freiheit in Wahrheit! Auch deshalb, weil eine falsch verstandene Freiheit als Perversion von Freiheit zum Vorläufer der Anarchie werden kann oder wird. Die geschichtliche Erfahrung zeigt uns: Wo die Freiheit nicht gebunden wird an gemeinsame sittliche Maßstäbe und an Wahrheit, wo als Freiheit der beliebige Austausch von Beliebigkeiten und Unverbindlichkeiten wird, da ebnet sie stets der Diktatur den Weg.
Der Mensch ist und bleibt – trotz noch so geschickter Leugnung – „das für die Wahrheit des göttlichen Logos empfängliche Geschöpf. Diese Empfänglichkeit ist keine passive Rezeptivität, sondern ein Freiheitsgeschehen. (…) Aber Freiheit ist mehr als Emanzipation von den Bedingungen der Natur. Sie ist die Fähigkeit des Menschen, den Sinn des Seins fortschreitend tiefer zu verstehen und der so vernommenen Wahrheit handelnd zu entsprechen. Kurzum: Realisierung der Freiheit ist das ,Wahr-nehmen’ der Wirklichkeit.“ (Menke, 159) Es stimmt ja, was Ludwig Kardinal Müller (in Martin Lohmann, Ludwig Kardinal Müller: Wahrheit. Die DNA der Kirche, 2020, S. 170) auf den Punkt bringt, wenn er heute von einer „Art Bemächtigung der Realität“ spricht, was absurd sei: „Die Wahrheit liegt im Sein der Dinge, nicht in den Interessen des Betrachters. Ein Schoßhund bleibt ein Tier, auch wenn er wie ein Menschenskind gehätschelt wird.“ Auch so gesehen müsse man deutlich sagen: „Die Wahrheit ist die Vernunft und die Vernunft ist die Wahrheit.“ (S. 213). Der Mensch ist eben vor Gott „kein umschmeichelter Kunde, kein nützlicher Renteneinzahler, kein umworbener Wähler. Er existiert nicht um eines fremden Zweckes willen, sondern um seinetwillen als Geschöpf, Sohn/Tochter und Freund Gottes. Er ist geschaffen nach Gottes Bild und Gleichnis. Er ist wahrheitsfähig und er wird nur frei durch die Erkenntnis der Wahrheit.“ (S. 225)
Ja, wenn es eine wirklich notwendige Aufgabe und Herausforderung heute gibt, der zu stellen Logik und der Anspruch einer humanen Zukunft verlangen, dann ist es die mentale Lichtfülle, die beim Zulassen der Wahrheitsfrage gegeben ist – und vor der zu fürchten eine selbstverschuldete Unmündigkeit bedeuten würde. Der Verlust der Wahrheit und das unausgesprochene Verbot der Wahrheitsfrage haben die Vernunftbegabung des Menschen amputiert. Die Freiheit aber, zu der jeder Mensch und die Menschheit insgesamt berufen und befähigt sind, will mehr als einen Torso.
Martin Lohmann (63) ist Theologe, Historiker und Philosoph. Der Journalist und Buchautor hat soeben sein neuestes Werk vorgelegt, einen Gesprächsband mit Ludwig Kardinal Müller: Wahrheit. Die DNA der Kirche.