Was sind die Grundpfeiler Ihrer politischen Botschaft?
Christian Lindner: Die Identität der FDP kann man mit drei Begriffen zusammenfassen: Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Toleranz. Das findet man im Paket nur bei uns. Zum Beispiel sind auch die Grünen für gesellschaftspolitische Liberalität, aber eben nicht für Freiheit in der Wirtschaft. Andererseits war die CSU neben uns die einzige Partei, die in den Gründerjahren der Bundesrepublik geschlossen für die Soziale Marktwirtschaft war, aber gesellschaftspolitisch gehen Konservative andere Wege. Wer die Freiheit liebt und von ihr als Prinzip überzeugt ist, kann sie nicht auf eine Dimension beschränken.
Sie sprechen immer wieder von der Generation 1994; wir haben die Generation 68, die Generationen 89 und 90 und die „Generation Benedikt“. Was haben wir von der Generation 1994 zu erwarten?
Christian Lindner: Ich habe das mit Blick auf die krisenhafte Lage der FDP Anfang der neunziger Jahre formuliert. Damals sind Philipp Rösler, Daniel Bahr, viele andere und ich in die FDP eingetreten. Nicht, weil wir glaubten, etwas werden zu können, sondern weil uns diese Partei am Herzen liegt. Wir haben uns geschworen, dass die FDP niemals mehr ihre Eigenständigkeit in einer Koalition opfern darf. Damals hatte die FDP keine klare Botschaft. Heute liegen die Dinge anders. In der Sache können wir heute angesichts der Dominanz einer sozial und ökologisch verbrämten Gleichheitspolitik als Freiheitspartei viel Unterstützung finden. Die zunehmende Eingebung unseres Lebens durch ein feines bürokratisches Gespinst aus Geboten und Verboten, die Ausdehnung des öffentlichen Sektors, die Notwendigkeit, dass die Privatheit nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor kommerziellen Anbietern im Internet geschützt werden muss – all das und mehr verlangt nach liberalen Antworten. Darin liegt unsere Chance. Die Aufgabe ist, Vertrauen für die FDP, unsere Themen und unsere Positionen zu gewinnen.
Die FDP ist eine Partei des Mittelstandes. Wie ist es Ihrer Meinung möglich, auch die „unteren“ Bevölkerungsschichten zu erreichen – gerade im Osten des Landes, wo aufgrund der geringeren Löhne auch die Angst vor Altersarmut wächst?
Christian Lindner: Die FDP ist nicht die Partei einer Einkommensklasse, sondern einer Einstellung zum Leben. Wer einen Parteitag besucht, wäre überrascht, wie vielfältig die Mitglieder und Wähler sind. Wir sind die Partei all derjenigen Menschen, die optimistisch und freiheitsliebend sind, die etwas aus ihrem Leben machen wollen. Die Freude an den Ergebnissen ihrer Schaffenskraft haben. Und die Verantwortung für sich und andere übernehmen. Bedürftige oder Schwache lassen wir nicht allein. Sie brauchen aber keinen verholzten Wohlfahrtsstaat, der nur umverteilt, sondern Unterstützung durch einen aufstiegsorientierten Sozialstaat, der zum Wiedereinstieg in die Eigenverantwortung befähigt. Es geht also darum, Menschen Arbeit zu geben und nicht dauerhafte Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Natürlich verlangt das gerade von Geringqualifizierten viel. Umso mehr muss man Respekt vor allen haben, die hart für wenig Geld arbeiten, weil sie nicht dauerhaft die Solidarität ihrer Mitbürger in Anspruch nehmen wollen. Wir brauchen ein Bildungssystem, das faire Chancen eröffnet, Zugänge zur Bildung schafft, aber das nicht alles vereinheitlicht. Insofern ist die FDP eine Partei, die Aufstiegschancen durch Fleiß und Talent belohnen will. Wir haben kein Problem mit Unterschieden in der Gesellschaft. Aber die Unterschiede müssen eben durch Leistung und nicht durch das Glück der Geburt begründet sein, damit man sie als gerecht akzeptieren kann.
Wo macht man Gerechtigkeit fest?
Christian Lindner: Für uns Liberale kann Gerechtigkeit nur eine Verfahrensgerechtigkeit sein, also für alle gleiche politische und staatsbürgerliche Rechte – ja. Aber bei der Verteilung von materiellen Gütern oberhalb eines sozioökonomischen Existenzminimums muss es das Leistungsprinzip geben. Wer würde sonst über materielle Verteilung in der Gesellschaft entscheiden, was wäre da der Gerechtigkeitsmaßstab – er müsste willkürlich von Politikern am grünen oder roten Tisch festgelegt werden. Damit dies als legitim empfunden werden kann, brauchen wir in Deutschland eine Annäherung der Startchancen. Davon sind wir aber hierzulande noch entfernt. Und wir brauchen zweite und dritte Chancen auf den Wiedereinstieg in Teilhabe an Bildung und an Arbeit – auch davon sind wir in unserem bürokratisch verholzten Wohlfahrtsstaat noch entfernt.
Der Begriff des Neoliberalismus, der immer wieder von der FDP favorisiert wurde, ist beständig in der Kritik. Wie stellen Sie sich ein neoliberales Wirtschaften ganz konkret vor?
Christian Lindner: Dieser Begriff ist inzwischen ein inhaltlich völlig deformierter Kampfbegriff. Wer sich die Mühe macht, ihn zu ergründen, stellt fest, dass damit etwas ganz anderes gemeint ist, als heute in der politischen Diskussion vertreten wird. Diejenigen, die sich als Gegenbegriff zum aufkommenden Faschismus als neue Liberale oder eben Neoliberale bezeichnet haben – dies waren kein Laissez-faire-Liberalen. Sie haben sich gerade dadurch vom klassischen Liberalismus unterschieden, dass sie eine aktive Rolle für den Staat gefordert haben. Sie wollten, dass der Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen steht, wie Alexander Rüstow gesagt hat, um dem Wirtschaftsgeschehen klare Regeln vorzugeben. Innerhalb der Offenheit des Marktes soll ja die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren gelten. Heute verwendet man den Begriff Neoliberalismus als dumpfe Schrumpfformel für Minimalstaat, Deregulierung und Privatisierung. Das wird der Partei von Otto Graf Lambsdorff und der Wirtschaftsordnung von Ludwig Erhard, auch ein Neoliberaler, nicht gerecht.
Immer wieder spielt der Begriff der „Wertegesellschaft“ bei Ihnen und Ihrer Partei eine große Rolle. Wo sollen wir ihrer Meinung nach die neuen Werte finden, wenn das eigentliche Fundament, die im Abendland verankerte jüdisch-christliche Tradition, nicht mehr zeitgemäß erscheint?
Christian Lindner: Wir müssen mit dem Umstand leben, dass in Zukunft Millionen deutscher Staatsbürger keinen christlichen Glauben mehr haben. Deshalb braucht es eine andere Klammer für unsere Gesellschaft, die allen unabhängig von Herkunft und Bekenntnis das Gefühl der Zusammengehörigkeit erlaubt. Ich sehe das im Verfassungspatriotismus, in den republikanischen Werten unseres Grundgesetzes, in deren Zentrum die Würde des Einzelnen steht. Diese Werte des Grundgesetzes haben sich tatsächlich aus einer Tradition des so genannten christlich-jüdischen Abendlandes ergeben, so problematisch dieser Begriff auch ist, ergeben. Sie sind teilweise in der Auseinandersetzung mit den Kirchen entstanden, haben Einflüsse aus dem antiken Rom und Athen aufgenommen. Sie sind geronnene Geschichte. Aber sie lassen sich eben auch aus reiner Vernunft ableiten – und das ist eine große Chance. Denn so ist es möglich, Menschen, die unsere abendländische Tradition nicht teilen, weil sie aus anderen Kulturkreisen zu uns gekommen sind, in unsere Wertegemeinschaft miteinzubeziehen und einzuladen, Verfassungspatrioten zu werden.
Herzlichen Dank für das Gespräch: Stefan Groß
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