Erst Marina, dann Mignon – In der Bayerischen Staatsoper starben beide am letzten Sonntag

Sarah Gilford, Titelheldin von „Mignon“, strahlt mit Dirigent Pierre Dumoussaud und „Vater“ Ogulcan Yilmaz beim Schlussbeifall, Foto: Hans Gärtner

Marina starb, genau genommen, nicht selbst. Sie ließ sterben. Mit unsterblichen Top-Arien der größten Opernsängerin des 20. Jahrhunderts. Siebenfach beschwor die 73-jährige serbische Performance-Ikone Marina Abramovic den Tod der damals 43-Jährigen Griechin in Paris herauf. Endlich gelang es Staatsintendant Nikolaus Bachler, Corona zu trotzen und Abramovics für April geplantes Opern-Projekt „7 Deaths of Maria Callas“ auf die Bühne des Nationaltheaters zu hieven, um es von hier aus nach Rijeka, Berlin, Athen weiterzureichen.

Manches war anders als noch bei „La Cenerentola“ am 9. März: Nur jede 2. Reihe besetzt. Abstands- und Maskenpflicht für 500 zugelassene Gäste. Kein Intendant in der Loge. Das luftig besetzte Orchester hoch- und 3 Sitzreihen weit ins Parkett gefahren. Proszeniums-Logen mit Choristen besetzt. Der zum Dauer-Largo tendierende Dirigent Yoel Gamzou nach 1 ½ Stunden so echauffiert, dass er am Pult Wasser trinken musste. Ob er für Marko Nikodijevic` phantastisch dichte filmisch breite Komposition und die 7 Szenen aus Werken von Bellini, Bizet, Donizetti, Puccini und Verdi ein Übermaß an Gewandtheit benötigte?

Die stramme Abramovic lag 1 ¼ Stunden geschlossenen Auges und zugedeckt im Sterbe(?)-Bett (der Callas?). Doch war sie, im Verein mit US-Mimen Willem Defoe, in den 8 Video-Szenen voll da: im Astronauten-Look, im Goldlamee-Schwenker, halbnackt, als Torero, in Hochzeits-Weiß gehüllt, mit lebenden Boas um den Hals oder blutbefleckt, stets theatralischen Blicks.  Wandspiegel zerschlagend, Blumensträuße zerfetzend. All sowas nicht unbedingt konform mit den Opern-Arien, respektabel gut gesungen von jungen Inhaberinnen von Callas-Rollen (Desdemona fällt da aber weg), die in Altenpflegerinnen-Outfit an ihr Bett schlichen. Aus Angst vor den von Orkanen getriebenen Wolkengebilden auf der Leinwand?

Letzter Akt: Es wird ernst. Akkurat nachgebaute Pariser Wohnung der Callas. Abramovic spielt sie nun. Sie ist „ihr Spiegel“. Entsteigt, deklamierend, dem Sterbelager, ganz in Weiß. Zerdeppert wieder eine Vase samt Bouquet. Zählt bis 17. Kommt nur bis 10. Springt nicht aus dem Fenster. Wendet sich lieber in Richtung Bad … Corona sei`s gedankt, verhängen die Pflegerinnen (eine von ihnen, die überragende Adela Zaharia, sang Lucia Astons Wahnsinns-Arie mit Bravour) nicht nur das Mobiliar mit schwarzem Tüll, sondern – hihi! – desinfizieren, maskiert, den Raum. Starker Beifall.Da und dort Ovations.  Kein Fächerwedeln. Keine Buhs, keine Bravos. Na, Servus!

Den Nachmittag mit „arte“ verbracht: Übertragung des Gedenkkonzerts für Italiens tausende Corona-Opfer, der Milanese Riccardo Chailly dirigiert das Verdi-Requiem im Mailänder Dom. Kasimira Stonayowa: unvergleichlich.

Dann Wechsel zum dritten Münchner Todes-Termin des ersten September-Sonntags 2020 ins Cuvilliéstheater. Für die Zweitaufführung von Ambroise Thomas` selten gespielter romantischer Oper „Mignon“ in reduzierter Fassung der Pariser Erstausgabe von 1866. Die Titelheldin wird von Sarah Gilford so erfrischend widerborstig zwischen Bub und Mädel gespielt und gesungen, dass man wenigstens gesanglich raus kam aus dem Rührstück-Brei, der bei Abramovic nervte und im Nachhinein noch ärgerlich aufsteigt.

In Christiane Lutz` patenter Regie-Version geht es zunächst in eine Theater- Kantine mit einem „Sommernachtstraum“-spielfreudigen jungen Ensemble aus dem Staatsopernstudio, dann spitzt sich die Sache aber zu – und es wird zuerst ein trauriges Vater-sucht-verlorene-Tochter-, dann ein anhaltendes Eifersuchts-Drama mit sonderbarer Staffage (von Bühnenpforte ins Kranken/Sterbe-Bettzimmer). Gerne gedenkt man der sehnsüchtigen Klänge des eigenartigen Wesens Mignon, die/der freilich statt in das Land, wo nicht Zitronen, sondern – hihi! – Orangen blühn, der genossenen Polonaise der herrlich aufgekratzten Philine (Juliana Zara) und bedauert es, dem uneitlen Wilhelm Meister des vielversprechenden  Andres Agudelo nicht länger lauschen zu können, dessen Tenor – bei aller Beachtung seiner Fachkollegen aus dem Opernstudio – anrührte ohne schmalzig zu sein. Beachtlich aber auch: das Dirigat Pierre Dumoussards, der ein gutes Händchen für das Umgehen schwülstig-zäher Romantik-Rührseligkeit in einem dazu bereits vom Text her neigenden Stück zeigte. Herzliche Zustimmung des verstreut in Cuvilliés Schuckkästchen Corona-verhüllt und -verhuscht sitzenden Publikums. 

Performance-Ikone Marina Abramovic mit Dirigent Yoel Gamzou und dem Produktionsteam von „7 Deaths of Maria Callas“ an der BSO München, Foto. Hans Gärtner

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.