Gedanken über „Dr. Tod in Greiz“ und über Erinnerungskultur

Seit dem 27. Juni 2020 sind die Greizer KÖRPERWELTEN geöffnet. Sie ist die anspruchsvollste dieser Gesamtschau. Auf 1.800 m² Ausstellungsfläche sind anatomische Kunstwerke Gunther von Hagens zu sehen.

Von Hagens balanciert scharf an der Grenze zwischen wohlgefallender Kunst, Provokation, Dokumentation und Selbstinszenierung. Der nie ohne seinen typischen Hut zu sehende Plastinator erinnert wohl nicht zufälligerweise an Hermann Beuys.

Als ich in meiner Familie die Idee aufbrachte, die Greizer KÖRPERWELTEN zu besuchen, hielt man entgegen, dass es wohl gruselig sei, die vielen Toten sehen. Schließlich standen wir in der Greizer Eishalle vor den Exponaten, doch von Grusel war nichts zu spüren. Wieso hatte die Begegnung mit dem Tod plötzlich ihren Schrecken verloren?

Natürlich steckten hinter den Exponaten ‚richtige Verstorbene‘. Doch es fehlten Individualität und ein Narrativ. Genau diese Dinge hat der Anatom Gunther von Hagens bewusst aus der Ausstellung herausgehalten. Es werden keine Geschichten von Menschen erzählt, es wird nicht über Schicksale berichtet, die zum Tode führten, auch die Motive für die Plastination bleiben außen vor. Denn es sind die Geschichten der Menschen, ihre Schicksale, ihre Individualität, die Ansatzpunkte für Mitleid, Mitgefühl, Trauer, Bestürzung, aber auch für Grusel darstellen. Die Ausstellung rückt die reine Körperlichkeit, das Anatomische, das medizinische Objekt, den Blick in die Organwelt in den Vordergrund. Ohne Narrative und persönlichen Bezug bleibt nur entindividualisierte Körperlichkeit zurück – die Negation des Lebens. Hat aber nicht gerade diese entindividualisierte Körperlichkeit etwas erschreckend Trostloses? Wenn es dabei bliebe, hätte sie das gewiss. Doch, um es in der Sprache der Dialektik auszudrücken, von Hagens gelingt die Negation der Negation, indem er den Toten neue Individualität verleiht, sie in einen komplett anderen Kontext stellt und sie ästhetisch und würdevoll arrangiert: als Akrobatin, als Staffelläufer, als Spieler in einer Pokerrunde, als mythischer Atlas, der die Erdkugel trägt. Diese individualisierte Ästhetik des Sterblichen, des Begrenzten, des Endlichen weist (wie ein Anklang an die Ahndungskonzepte des Philosophen Jakob Friedrich Fries und des Theologen Rudolf Otto) über die Endlichkeit hinaus auf etwas Unbegrenztes und Zeitloses. In diesem Sinne ist vielleicht auch der die Ausstellung überragende, aus filigranen Blutgefäßgestalten herausgearbeitete „Jesus am Kreuz“ zu verstehen, der einerseits noch ganz in der Funktionalität irdischer Leiblichkeit verhaftet ist, dessen rotglühendes Leuchten und erhabene Ästhetik das Irdische aber transzendiert.

Nach eigenen Angaben sollen Kombiplastinate wie Elefanten-Scheiben oder Bein-Scheiben mit High Heels unter einer horizontalen Giraffenrumpf-Tisch-Scheibe mit den „gewohnten Wahrnehmungsmustern konkurrieren und auf diese Weise dem Begriff vom ‚Kant’schen Ding an sich‘ eine zusätzliche, verschobene Bedeutung verleihen.“ (Gunther von Hagens’ Brief an die Presse, 2. Juli 2020) Diese Replik an das ‚kantische Ding an sich‘ kann insofern auch als gelungen gelten, als das den Erscheinungen Zugrundeliegende transparent gemacht wird. Dem Betrachter wird es möglich, durch die Erscheinungswelt hindurchzublicken auf das unseren Sinnen üblicherweise nicht Zugängliche. Aber dieses ist eben komplett anders als seine Erscheinung. Wenn ich Meeresluft atme, barfuß am Strand wandere, den Sternhimmel betrachte und über ihn nachdenke, nehme ich weder meine Lunge, meine Wirbelsäule, meine Augen, mein Gehirn wahr, wenngleich all dies ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ sind, solche Erfahrungen erst machen zu können.

Mit der Ausstellung lässt sich eine Parallele zur Bestattungs- und Erinnerungskultur ziehen, die gerade in letzter Zeit stark in Bewegung geraten ist. Das Zauberwort ist die Individualisierung und Ästhetisierung des Todes: Weg von Sarg- und Friedhofzwang, weg von tristen Urnen und zweckoptimierten Friedhöfen, hin zu Wald-, See- oder Weltraumbestattungen und zu Edelsteinen aus verpresster Asche. Den Tod wieder in das Leben holen, ihn nicht verdrängen, sondern als Bestandteil des Lebens verstehen.

Aber Asche hat keine Individualität, Atome und Moleküle unterscheiden sich nicht voneinander; auf physischer Ebene geht nach dem Tod jeder Hinweis auf die Person verloren. Das eigentlich Bleibende, das Stabile, das Überlebende ist ein Geistiges, sind Erinnerungen, Narrative, persönliche Beziehungen. Erinnerungskultur findet maßgeblich jenseits der Friedhöfe statt, sie ist auch ohne Urnen in Wohnzimmern und in Gärten, ohne zu Edelsteinen verpresste Asche möglich. Die Grundlage dieser Erinnerung lege ich im Leben selbst, mit der Zeit, die ich anderen widme, mit meinem Handeln und dem Schaffen von Dingen, die die Nachwelt als erinnerungswürdig in Geltung setzt. Je reichhaltiger, sinnvoller diese Dinge sind, je wertvoller das gemeinsam Erlebte, desto reicher ist auch die Erinnerungskultur.

Prof. Dr. Kay Herrmann

Link zur Ausstellung: https://koerperwelten.de/stadt/greiz/

Bildnachweis: Copyright: Greizer KÖRPERWELTEN von Gunther von Hagens, www.koerperwelten.de

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Über Kay Herrmann 10 Artikel
Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay Herrmann. Studium der Physik und Forschungsstudium der Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehramt für die Fächer Physik und Mathematik an Oberschulen beim Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung, 2011 Habilitation (Privatdozent, venia legendi) im Fach Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz, seit 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz und seit 2020 Fachausbildungsleiter für Physik an der Lehrerausbildungsstätte des Landesamtes für Schule und Bildung in Chemnitz.