Barbara Neymeyr: „Nietzsche Kommentar. Unzeitgemäße Betrachtungen.“

Der Bekenner und der Schriftsteller. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.

friedrich nietzsche mann portrait 1882 philosoph, Quelle: WikiImages, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Barbara Neymeyr: Nietzsche Kommentar. Unzeitgemäße Betrachtungen. I. David Strauss. Der Bekenner und der Schriftsteller II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, De Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN: 978-3-11-028682-3, 69,95 EURO 

An der Heidelberger Akademie der Wissenschaften entsteht der erste umfassende historische und kritische Kommentar zum Werk Nietzsches. Es fehlt bisher ein übergreifender Kommentar zu seinem Gesamtwerk, der die philosophischen, historischen und literarischen Voraussetzungen und Kontexte erschließt. In den vier Unzeitgemässen Betrachtungen verbindet Nietzsche kritische Zeitdiagnosen mit konstruktivem Zukunftsengagement. Krisensymptome der modernen Zivilisation reflektiert er hier ebenso wie problematische Bildungs- und Wissenschaftskonzepte seiner Epoche. Die Unzeitgemässen Betrachtungen werden in zwei Teilbänden vorgestellt. Dieser Band enthält Kommentare zur ersten und zur zweiten von den Unzeitgemässen Betrachtungen, die SchriftDavid Strauss Der Bekenner und der Schriftsteller und Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.

Während er in der ersten „Betrachtung“ gegen den Theologen David Friedrich Strauß als Prototyp eines sterilen ‚Bildungsphilisters‘ polemisiert, setzt er sich in der besonders wirkungsmächtigen Historienschrift mit dem positivistischen Geschichtsverständnis und der Übermacht des Historischen auseinander. Bis heute beeinflusst diese Schrift die intellektuellen Debatten. Erstmals kommentiert dieser Band beide Werke umfassend in ihrem Kontext.

Die Kommentierung der Unzeitgemässen Betrachtungen zielt „auf eine umfassende philosophische und kulturhistorische Kontextualisierung. Sie verbindet zudem mit kritischer Reflexion zu bestimmten Prämissen und Themenfeldern dieser Schriften, die mitunter auch den Darstellungsstrategien Nietzsches gilt.“ (S. XI)

Der Kommentar dient in dreifacher Hinsicht der Kontextualisierung: Erstens werden die beiden Schriften jeweils in ihrer individuellen Kontur und Struktur charakterisiert. Damit erschließt der Kommentar Zusammenhänge, die bestimmte Themen und Reflexionen mit anderen Textpartien desselben Werkes verbinden. Zweitens wird der Horizont auf Nietzsches zeitlich benachbarte Schriften sowie auf Nachlass-Notate aus der Entstehungsphase des jeweiligen Werkes ausgeweitet. Drittens gibt es eine forschungsintensive historische Kontextualisierung. Sie umfasst zeitgenössische Konstellationen, Problemlagen und Debatten ebenso wie Nietzsches Rückgriffe auf Traditionen im interdisziplinären Kontext von Philosophie, Geschichte, Literatur, Kunst, Musik, Religion und Politik.

Außerdem bietet der Kommentar zahlreiche Quellen-Nachweise und Dokumente zu den historischen Kontexten. Die Wirkungsgeschichte findet vor allem dort Berücksichtigung, wo sich besonders relevante Rezeptionszusammenhänge erschließen lassen.

Der Band beginnt mit einem Vorwort, Hinweisen zur Benutzung, einem Siglenverzeichnis und den Editorischen Zeichen. 

Die Kommentare gliedern sich jeweils in Überblickskommentar und Stellenkommentar. Der Überblickskommentar geht auf Entstehungsgeschichte, Quellenlage, Konzeption und Struktur der jeweiligen Schrift sowie auf deren Status im Werkkontext ein und berücksichtigt auch Primärquellen in Briefen und späteren Werken. Außerdem gibt es Informationen zur Rezeption der Schrift und zu ihrer Wirkungsgeschichte. Die Stellenkommentare zitieren die die kommentierende Textstelle und lassen dann den Kommentartext folgen. 

Im Anhang findet man noch eine ausführliche Bibliografie, ein Sach- und Begriffsregister und ein Personenregister. 

Dies ist sicherlich das Standardwerk für die beiden Schriften für die nächsten Jahre, da hier die mittlerweile unzählbare Sekundärliteratur analysiert, bewertet und kommentiert wird. Das einzige, was ein wenig zu kurz kommt, sind Brüche, Anregungen und Weiterentwicklungen in Nietzsches Biografie. Dies wird zwar zum Teil in der Editionsgeschichte mitberücksichtigt, Persönlichkeit und die jeweiligen Lebenssituationen und Verarbeitung früherer oder unmittelbarer Geschehnisse fließen immer irgendwie in das Werk ein. Dies ist aber der einzige Kritikpunkt, der dieses penibel zusammengestellte Werk von hoher Qualität nicht schmälern soll. 

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Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.