„Mikrobiologe – Makrohumanist?“ Rezension zu: Sucharit Bhakdi, Karina Reiß: Corona Fehlalarm? Zahlen, Daten und Hintergründe.

Bild von Miroslava Chrienova auf Pixabay

Sucharit Bhakdi, Karina Reiß: Corona Fehlalarm? Zahlen, Daten und Hintergründe. (eBook, ePUB), Goldegg Verlag GmbH 2020

Was hat Sucharit Bhakdi und seine Ehefrau, Karina Reiß, zur Niederschrift des Buches „Fehlalarm“ bewogen? Es sind humanistische Gründe, die zum Anlass wurden, die eigene herausragende Reputation in die Waagschale zu werfen, wo nicht aufs Spiel zu setzen, und einer ganzen Regierung zu widersprechen. Dies erhellt zuletzt am Ende des Buches, wo es heißt: „Nun stehen wir vor einem riesigen Trümmerhaufen. So unnötig, so sinnlos, so traurig. (…) Unsere letzte Hoffnung: Möge dieses kleine Buch dazu beitragen, dass sich Geschichte nicht wiederholt.“ (213)

Ganz gleich wie man zu den Urteilen des Autorenpaares steht: Das Buch ist ein guter Ausgangspunkt und Begleiter, wenn es im Anschluss an die Epidemie darum geht, das Geschehene besser zu verstehen, einzuordnen und aufzuarbeiten. Hierzu ist es allein schon deshalb gut geeignet, weil es seinen Lesern über einen reichen Quellen-Anhang (in Form hunderter Links) eigene Recherchen ermöglicht.

In ihrem überaus verständlich geschriebenen Buch untersuchen die Autoren die Verlaufsgeschichte der Corona-Epidemie in Deutschland unter Einbeziehung der Entwicklung in europäischen und in ferneren Ländern. Ohne dass dies unbescheiden wirken würde, wird der Versuch unternommen, herauszuarbeiten, dass der Umgang mit der Epidemie zumindest in Deutschland anders hätte verlaufen können. Denn: Um es der Regierung zu ermöglichen, noch rechtzeitig auf das Gleis der Vernunft abzubiegen, verlas Bhakdi am 30. März 2020:

„… einen offenen Brief an unsere Kanzlerin Frau Merkel, in dem wichtige Fragen adressiert wurden. Nicht, um eine persönliche Antwort zu erhalten, sondern in der Hoffnung, dass wir alle als Volk dringend notwendige Antworten erhalten. Der Brief sollte unserer Regierung die Chance geben, mit gewahrtem Gesicht noch rechtzeitig die Kurve zu bekommen, von ihrem Irrweg zurück auf einen Weg der Vernunft und der Verhältnismäßigkeit. Doch sämtliche Stimmen, die nicht zur Regierungslinie passten, wurden konsequent ignoriert und renommierte Wissenschaftler diskreditiert.“ (83)

In ihrem Buch fragen die Autoren: „Warum hat unsere Regierung andere Meinungen ignoriert und Entscheidungen ohne Grundlage völlig willkürlich getroffen? Warum hat unsere Regierung nicht im Sinne des Wohls des deutschen Volkes gehandelt? (202) Auf die Frage, warum die Regierung nicht zum Wohle des deutschen Volkes gehandelt habe, kommen wir weiter unten zurück. Zunächst gilt es zu zeigen, was die Regierung nach Ansicht der Autoren falsch gemacht hat. Diesbezüglich wird dem Leser ein ganzer Katalog an Maßnahmen vorgestellt, die verfehlt gewesen sein sollen:

Der VORWURFSKATALOG

„Was hat unsere Regierung falsch gemacht?

  • Eine Epidemie von nationaler Tragweite ausgerufen, die es nicht gab
  • Den Bürgern dieses Landes ihre Mündigkeit abgesprochen
  • Willkürliche anstatt evidenzbasierte Entscheidungen getroffen
  • Angst und Verunsicherung verbreitet, anstatt Aufklärung zu betreiben
  • Völlig sinnlosen Lockdown verordnet, als alles vorbei war
  • Sinnlose Maskenpflicht eingeführt, als alles vorbei war
  • Maßnahmen nicht aufgehoben, als klar wurde, dass diese nicht verfassungsgemäß waren
  • Geld in die sinnlose Entwicklung eines Impfstoffes verschwendet
  • Immense gesundheitliche Schäden in der Bevölkerung verursacht
  • Immenses Leid in der Bevölkerung verursacht“ (118)

Hätte man es anders besser machen können?

Nun ist es immer einfach, Kritik zu üben, wenn man nicht zugleich aufweist, was hätte besser gemacht werden können. Die entsprechende Frage legen sich die Autoren denn auch selbst vor:

„Welche Maßnahmen wären eigentlich die richtigen gewesen? Ein konsequenter Schutz der Risikogruppe, insbesondere in Alten- und Pflegeheimen. PUNKT.“ (165) Es habe schon immer gegolten, „dass ältere vorerkrankte Menschen besonders geschützt werden sollten…“ (46) Hält man sich an diesen Satz mit dem ausgeschriebenen PUNKT, dann wären die einschneidenden Notstandsmaßnahmen der zurückliegenden Monate mit ihren unabweisbaren negativen Konsequenzen maßlos übersteigert gewesen. Ist dies auch nur ansatzweise plausibel?

Da inzwischen bekannt ist, dass ein erheblicher Teil der im Zusammenhang mit SARS-COV-2 Verstorbenen in Alters- oder Pflegeheimen verstarb, wird man dieser Aussage eine gewisse Plausibilität nicht absprechen können. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass der schwedische Staats-Epidemiologe Anders Tegnell kürzlich in einem Interview selbstkritisch äußerte, nicht hinreichend für den Schutz älterer Mitbürger gesorgt zu haben. Tegnell: „Nach wie vor gibt es viele Dinge, deren Auswirkungen wir nicht kennen. Es lässt sich wohl sagen, dass es sehr viel besser gewesen wäre, wenn wir für die älteren Mitbürger noch bessere Vorbereitungen getroffen hätten.“ („Det finns fortfarande mycket vi inte vet effekten av. Man kan väl säga att det hade varit betydligt bättre om vi hade haft ännu bättre förberedelse på äldreboenden.“)

Dies ist nun allerdings nicht nur ein schwedisches Problem, sondern symptomatisch für den Zustand unserer spätmodernen Gesellschaft. Wo häufig euphemistisch von Senioren-Residenzen die Rede ist, haben wir es genau besehen mit Gerontolagern zu tun, deren Insassen die schwächsten – weil unsichtbarsten, stimmlosesten und schutzlosesten, da „unproduktiven“ – und daher schutzbedürftigsten Mitglieder unserer Gesellschaften sind. Ihnen jeden nur erdenklichen Schutz angedeihen lassen zu wollen, ist ein ehrenwerter humanistischer Zug. Schauen wir jetzt – da die Epidemie abzuklingen scheint – um uns, so lesen wir allerorten von einer erschreckenden Anzahl im Zusammenhang mit Covid-19 verstorbener pflegebedürftiger Menschen.

Italien

Deutsche Ärzte berichten von jungen Patienten, die weinend in ihrer Praxis sitzen, weil sie nicht sterben wollen. Ohne Frage sorgen gewisse Bilder aus Italien, insbesondere aus Bergamo, für Angst und Desorientierung. Wie gehen die Autoren damit um? „Klar ist, dass es für viele sich sorgende Menschen in der deutschen Bevölkerung hilfreich gewesen wäre, wenn die Politik oder die zuständigen Experten immer wieder erklärt hätten, dass wir in Deutschland gut aufgestellt sind, dass wir keine Bilder wie aus Norditalien… befürchten müssen, dass es nie einen Grund zur Sorge gab. Denn die Zahlen und Fakten gaben das her. Stattdessen passierte genau das Gegenteil. Das RKI warnte und warnte – vor den exponentiell steigenden Zahlen der Infizierten, vor den unzählige zu befürchtenden Toten, vor Zuständen wie in Italien.“ (62)

Lassen wir diesbezüglich die italienische Virologin Ilaria Capua zu Wort kommen. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung äußert sie: „SARS-CoV-2 ist an sich kein Killervirus. Aber es ist ein Stresstest für unser ganzes System. Für das Gesundheitswesen. […] Es hat vor allem große, reiche Städte erwischt. Mailand. Madrid. New York. Warum? Nicht nur, weil dort viele Menschen auf engem Raum leben und es etwa einen guten, stark frequentierten Nahverkehr gibt. Sondern auch, weil sich das Gesundheitssystem dort in den vergangenen Jahrzehnten so entwickelt hat, dass es kollabieren musste. In der Lombardei hatte sich die Regionalregierung entschieden, in Hightech-Medizin zu investieren, sich auf solvente Patienten zu spezialisieren. Das hilft dir wenig, wenn eine Pandemie kommt. Du brauchst dann auch einfache Krankenhäuser im Umland und Ärzte, die zu den Leuten kommen, damit nicht alle in die Kliniken strömen. […] Deswegen müssen wir auch über unser Wirtschaftssystem reden.“ (In: Covid-19 ist vor allem ein Problem unserer Lebensweise, in SZ-Magazin, Heft 23/2020 vom 4. Juni)

Über unser Wirtschaftssystem „reden“, bedeutet in diesem Fall: den Irrweg der Privatisierung von Krankenhäusern – Rendite auf Kosten der Gesundheit – rückgängig machen.

ENDE DER EPIDEMIE?

Bhakdi/Reiß zufolge war die Epidemie Ende März „über den Berg“. Mit dieser Metapher beziehen sie sich auf die R-Kurve, wie sie am 15. April 2020 im Epidemiologischen Bulletin 17 des RKI veröffentlicht wurde (siehe dort Seite 14). „Der Lockdown kam in Woche 13 (Pfeil), als die Kurve schon am Boden angekommen war.“ Allerdings scheint dieser Befund so ungeheuerlich, dass man ihn nicht unkommentiert durchgehen lassen möchte. Aber wo findet man Rat, wo sich doch mancher Experte durch eine nicht stromlinienförmige Äußerung den Titel „Verschwörungstheoretiker“ holte?

An dieser Stelle ein sehr kurzer Exkurs. Wie wehrt sich Bhakdi gegen die Verunglimpfung, bloß ein „Verschwörungstheoretiker“ zu sein? Nun, er verweist auf das, was man vielleicht eine Verschwörungs-Praxis der Regierung nennen könnte, indem er eine Twitter-Nachricht des Bundesgesundheitsministeriums vom 14. März zitiert. „Achtung Fake News. Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit/die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“ Wir alle wissen, was am 23. März geschah.

Zurück zur Frage, ob es sein kann, dass die Notstandsmaßnahmen zu einem Zeitpunkt eingeleitet wurden, als die Kurve bereits flach war. Eine weitgehend unbestrittene Koryphäe, die meines Wissens noch nicht in den Ruch kam, bizarre Meinungen zu vertreten (wiewohl es am 7. Mai auf tagesschau.de heißt: „Falsche Rechnung mindert Aussagekraft“), ist vielleicht der Bonner Virologe Hendrik Streeck. In einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 10. Juni äußert sich Streeck dahingehend, Deutschland sei „zu schnell in den Lockdown gegangen“, die Infektionszahlen seien bereits nach dem Verbot von Großveranstaltungen (9.März) gesunken. Streeck führt aus: „Die weiteren Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen hätte ich dann vom tatsächlichen Verlauf abhängig gemacht, auch um zu sehen, wie die einzelnen Beschränkungen wirken und ob zusätzliche Schritte wirklich nötig sind.“ Ebenso wenig wie Bhakdi/Reiß erwartet Streeck eine zweite große Welle der Epidemie. Sollte wider Erwarten eine zweite Welle kommen, hofft Streeck, „wird man sich sicherlich hüten, wieder derart starke Maßnahmen zu ergreifen.“ Soweit Streeck im Einklang mit Bhakdi.

War die Epidemie Ende März über den Berg, so stellen Bhakdi/Reiß für Mitte April fest: „Spätestens Mitte April 2020 war zudem offenbar, dass sich die Epidemie dem Ende zuneigte und dass die Extremmaßnahmen immense Kollateralschäden in allen Lebensbereichen verursacht hatten, wie auch nicht anders zu erwarten. Trotzdem beharrten Bundes- und Landesregierungen auf ihrem Kurs der Unverhältnismäßigkeit und der Ignoranz, der für viele Menschen nicht mit der Verfassung einer freien Demokratie vereinbar erscheint.“ (213)

Sollte zutreffen, dass die Einführung von Notstandsmaßnahmen stark überzogen war, so stünden wir vor der gleichsam surrealistischen Situation, dass ein renommierter Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie, der als Professor zahllose Studenten – werdende Ärzte dieses Landes – unterrichtet hat, der Exekutive rechtzeitig Empfehlungen für ein angemessenes Regierungshandeln gegeben hat, die von der Regierung zum Schaden der Bevölkerung ignoriert wurden.  Worin bestehen diese Schäden?

KOLLATERALSCHÄDEN FÜR GESUNDHEIT UND WIRTSCHAFT

„Die Fehleinschätzungen der Gefährlichkeit des Virus, die Verbreitung von Panik und Angst in der Bevölkerung und die irrationalen überbordenden Maßnahmen haben zu massiven Kollateralschäden im Gesundheitssystem geführt, die viel schlimmer waren als das Virus selbst.“ (55) In diesem Zusammenhang verweisen die Autoren allein für Deutschland auf mindestens zwei Millionen Menschen, die nicht termingerecht operiert wurden, weil die Corona-Maßnahmen Vorrang hatten (siehe S. 134).

Mit Bezug auf Großbritannien verweisen die Autoren auf einen Artikel der TIMES, worin es heißt:

„England and Wales have experienced a record number of deaths in a single week, with 6,000 more than average for this time of year. Only half of those extra numbers were attributed to the coronavirus. Experts said they were shocked by the rise, particularly in non-Covid-19 deaths, and expressed concern that the lockdown might be having unintended consequences for people’s health.“

Neben den Kollateralschäden im Gesundheitssystem habe man Zusammenbrüche im Wirtschafts- und Sozialleben in Kauf genommen, was nur bei wirklicher Gefahr geschehen dürfe. „Ist das wirklich der Fall gewesen?“ Diesbezüglich titelt die FAZ vom 5.6.2020 „Keine Aufträge. Kein Wachstum. Die Industrie liegt am Boden“. Warum also der Ausnahmezustand ohne Ausnahme-Krankheit?

ABSICHT?

Bhakdi/Reiß können nicht glauben, dass die Regierung schlicht inkompetent oder „dumm“ gewesen sein sollte. Sie mutmaßen, indem sie einen namentlich nicht genannten Kollegen zitieren, ob nicht „falls sie nicht dumm sind, eine Absicht dahinterstecken MUSS. Wie sonst kann man das alles erklären.“ (202) Leider verraten uns die Autoren nicht, welche Absicht dies sein könnte. Ein Indiz findet sich in den Worten von Stefan Homburg (Direktor des Instituts für öffentliche Finanzen an der Leibniz-Universität in Hannover): „Finanzprofessor Stefan Homburg nannte es das ‚größte Umverteilungsprogramm in Friedenszeiten‘. Verlieren würden der Steuerzahler.“ (205)

NOTWENDIGE AUFARBEITUNG

All dies klingt derart unerhört bis schockierend, dass man nicht daran glauben möchte. Was wir benötigen, ist Wissen. In diesem Sinne heißt es im Buch: „Klar ist: Es gäbe viel aufzuarbeiten. Wir sollten alle darauf bestehen, dass es auch getan wird. Die Corona-Viren haben sich für diese Saison zurückgezogen, das Thema verschwindet aus den Schlagzeilen und der Öffentlichkeit – und bald aus den Köpfen. Wenn wir, das Volk, nicht einfordern, dass die Verfehlungen der Corona-Politik in allen Bereichen thematisiert werden, wird von unseren Machthabern ein Mantel der Verschleierung darübergelegt werden.“ (211)

Mit dem vorliegenden Buch ist offenbar bereits ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung getan.

Finanzen

Über Karim Akerma 76 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).