Masken gehen, Schleier bleiben. Jetzt ahnen wir, wie ist es, verschleiert zu sein

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Anders als Coronaviren haben Sympathie und Unwille keine physikalische Größe. Hinter Gesichtsmasken bleiben sie verborgen, während die nur 80 bis 160 Nanometer großen Coronaviren durch das verhältnismäßig weitmaschige Gewebe einfacher Stofftücher hindurchgeniest werden können.

Die sei es medizinischen, sei es behelfsmäßigen Masken gehen. Schleier bleiben. Frauen, die ohnedies nur verschleiert die eigenen vier Wände verlassen, mussten in Zeiten des Maskengebots nicht umdenken oder anders handeln. Alle anderen hingegen haben während der Maskenpflicht etwas Bedenkliches unter den Augen, vor den eigenen Gesichtszügen. Eine Denkaufgabe, die bis weit in die Zeit nach der Maskenpflicht hineinreicht. Alle anderen – denn erstmals erfahren nicht nur unverschleierte Frauen, wie es ist, verschleiert zu sein, sondern – und dies vielleicht erstmalig – auch Männer.

Millionen Frauen in der Welt werden in soziale Umwelten hineingeboren, in denen sie sich zum Tragen von Schleiern gezwungen sehen. Wie viele von ihnen mögen sich und andere insgeheim oder offen gefragt haben: „Können selbstbestimmtere Menschen sich überhaupt vorstellen, wie entmenschlichend es ist, das Gesicht hinter einem Schleier verbergen zu müssen?“

Inzwischen haben wir eine am eigenen Leibe erfahrene Ahnung davon. Und nicht Wenige bilden die Soziologie des Schleiers islamischer Lebenswelten sogar maskenhaft ab: Viele finden es offenbar ganz angenehm, das eigene Gesicht nicht ständig den als zudringlich empfundenen Blicken anderer Menschen ausgesetzt zu wissen: Mit Maske ist man stärker inkognito. Dies ist zutreffend. Man ist stärker inkognito und weniger vorsprachlich-kommunikativ. Denn mit seinen feinmotorischen Regungen ist unser Gesicht das Humanste, was wir zur Schau tragen. Vor der Sprachmächtigkeit und nach der Sprachlosigkeit ist das Gesicht. Der Mensch ist von Natur aus ein Gesichtswesen.

Wie begegnen wir uns unter Maskenzwang? Sicher auch höflich. Aber irgendwo doch zugleich roboterhaft-distanziert. Warum? Weil die Augen allein kaum Mimik transportieren, kein Wohlwollen, keine Ironie, keinen Zweifel, keine stumme Frage, keinen unhörbaren Aufschrei. Kein Lächeln in den Mundwinkeln und keine gerümpfte Nase. Nur das Weinen bleibt sichtbar.

Die Gegenwart scheint zu belegen: Das Tragen von Masken ist unerträglich. Es beraubt uns der Möglichkeit, den Anderen typisch menschlich zu begegnen. Mit einem Lächeln, mit ironischem oder wütendem Gesichtsausdruck. Schon gibt es die ersten psychotischen Reaktionen. Personen, die Angst vor dem Einkaufen haben, weil sie sich dort von „bedrohlichen“ Masken umgeben sehen.

Eine Gesellschaft Maskierter ist keine Gesellschaft mehr. Die Leute würden schlicht verrückt. Erste tun dies schon jetzt.

Masken – und damit auch die den Maskenzwang überdauernden Gesichtsschleier – berauben uns eines so wesentlichen Teils unserer Humanität, dass vielleicht auch die Freunde „kultureller Vielfalt“ nicht länger sagen: „Lasst doch die moslemischen Frauen in der Öffentlichkeit oder in unseren öffentlichen Einrichtungen ihren Gesichtsschleier tragen!“

Ohne Maske kein Eintritt in Geschäfte und Lautsprecherdurchsagen auf Bahnsteigen. Das Maskengebot ist polizeilich durchsetzbar. Das Tragen des Gesichtsschleiers entspringt oftmals indirekterer, lebensweltlicher, struktureller, Gewalt. Frauen, deren familiärer oder sozialer Umkreis das Schleiertragen erwartet, sehen sich in der einen oder anderen Form geächtet oder verunglimpft, wo sie unverhüllt ihr Menschlichstes zeigen: das Antlitz.

Wie es beim Tragen des islamischen Schleiers Über-Erfüllerinnen gib, so kennt bekanntlich auch der Maskenzwang der zurückliegenden Wochen gewisse Spielarten der Über-Erfüllung: Zahllose Bürger, die auch dort noch Maske tragen, wo dies nicht nur nicht geboten ist, sondern zudem völlig sinnlos. Etwa beim sprichwörtlich gewordenen maskierten Autofahrer, der, ganz allein in seinem Fahrzeug, auf ein unbekanntes Ziel zurast.

Wenn wir jetzt die unmittelbare Gegenwart verlassen und uns in die Zeit nach Corona vordenken, so können wir aus eigener Erfahrung mit nach Hause nehmen: Das Tragen eines Anblickschutzes ist nicht human. Dies sollte all denen zu denken geben, die bislang keine Probleme mit zahllosen verschleierten Frauen und sogar verhüllten Kindern haben.

Über Karim Akerma 76 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).