Interview mit Theo Waigel: In der nächsten Dekade ist Großbritannien wieder in der EU

Dr. Theo Waigel, Foto: Dr. Dr. Stefan Groß

Herr Dr. Waigel, der Titel Ihrer Biografie lautet „Ehrlichkeit ist eine Währung“. In Anbetracht von zunehmenden Fake News, scheint Ehrlichkeit unterbewertet zu sein.

Das stimmt, aber es ändert nichts an der Richtigkeit der Aussage, denn nur Ehrlichkeit schafft Vertrauen und ohne Vertrauen kann man keine Politik machen-Ohne Vertrauen und Ehrlichkeit läuft die Welt auseinander.

In Deutschland hat sich auch der Spruch „Der Ehrliche ist der Dumme etabliert.

Den Spruch gibt es schon lange und es mag ja auch durchaus sein, dass man kurzfristig Nachteile erleidet, aber das muss man in Kauf nehmen. Der frühere polnische Außenminister Władysław Bartoszewski hat kurz vor seinem Tod ein kleines Buch geschrieben mit dem Titel: „Es lohnt sich anständig zu sein.“ Aus meiner Sicht ist dies die kürzeste und treffendste Zusammenfassung des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant, und dazu gehört zwingend Ehrlichkeit.

Hatten Sie Nachteile durch Ehrlichkeit?

Ja sicher, gar keine Frage. Wenn man Menschen unverblümt die Meinung sagt, dann mögen die das nicht immer. Auch so große Persönlichkeiten wie Helmut Kohl, Franz Josef Strauß oder Helmut Schmidt haben es nicht immer gerne gesehen, wenn man ihnen ins Gesicht gesagt hat, dass man anderer Meinung ist. Aber ich habe festgestellt, dass es auf längere Sicht der richtige Weg ist.

So hat Strauß einmal mal gesagt: „Der Waigel ärgert mich manchmal, aber er lügt mich nicht an.“ Das war mir ganz wichtig.

Ein schönes Kompliment an Sie vom Übervater der CSU.

Von Hans Maier habe ich mal den richtigen Satz gehört: „Es ist wichtig, den Mächtigen den notwendigen Widerspruch nicht zu versagen.“ Und im Nachhinein, jetzt als 80jähriger, bereue ich es nie anderen ungeschminkt die Wahrheit gesagt zu haben. Ich habe dafür manchmal Missfallensbekundungen erlebt, sowohl im Persönlichen als auch bei großen Veranstaltungen. Aber ich habe immer versucht, mich nicht zu verbiegen und für das, was ich gesagt habe, später auch gerade zu stehen. Wobei niemand vollkommen ist, auch mir ist es nicht immer gelungen. Ich bin mal gefragt worden, ob ich gelogen hätte. Darauf habe ich mit Konrad Adenauer geantwortet: „Jelogen eigentlich nicht, aber jeschwiegen manchmal.“

Wann war das zum Beispiel?

Einmal konnte und durfte ich nicht ehrlich sein. Wir mussten ein Realignment machen, also Auf- und Abwertungen in Brüssel; hochkomplexe Geschichten mit ganz großen Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Wenn die das zwei Tage vorher erfahren, dann werden Milliarden Spekulationen bewegt mit verheerenden Auswirkungen. Als mich ein Journalist fragte, ob es stimmt, dass wir am Wochenende ein Realignment in Brüssel vornehmen entgegnete ich: „Nein, wie kommen Sie auf die Schnapsidee? Ich habe vor, eine Bergtour auf die Kappeler Alpe zumachen um ein Weißbier zu trinken und einen Wurstsalat zu essen.“ Ich bin natürlich nach Brüssel gefahren und wir haben das Realignment gemacht und erst danach mitgeteilt. Ich habe mal den von mir sehr geschätzten Kardinal König an der katholischen Akademie in München gefragt, ob ich das durfte. Er antwortete ohne Rücksprache mit Kardinal Ratzinger: „Sie durften nicht nur, Sie mussten! Seitdem ist mein katholisches Gewissen auch diesbezüglich wieder voll mit mir im Reinen.

An dem Tag wäre der Ausflug zur Kappeler Alpe sicherlich die reizvollere Alternative gewesen.

Ja, aber auch auf der Beichelstein Alpe ist mir mal ein großer Fehler passiert, der auch mit Wahrhaftigkeit zu tun hatte.

Ich bin gespannt.

Als ich acht Jahre im Amt des Bundesfinanzministers war, wurde ich dort von einem Journalisten in einer sehr schönen Sommerstimmung gefragt, wie lange man das Amt eigentlich ausüben kann, länger als acht Jahre könnte man doch diesen „Scheißjob“ nicht machen. Ich falle auf die Frage herein und sage: „Ja, länger als neun oder zehn Jahre könne man das wirklich nicht machen, dann hat man seinen Dienst fürs Vaterland geleistet.“ Einige Wochen später – ich war gerade im Urlaub – warf jemand nur diesen Satz auf den Markt. Nicht den Gesamtzusammenhang, nicht die Frage. Das hat einen Shitstorm ausgelöst, so dass mein ganzer Urlaub beim Teufel war. Jeder schrieb nur: Waigel sei amtsmüde, Waigel will hinschmeißen. Erst als ich – ich gestehe der Wahrheit zu wider – sagte, dass es nichts Schöneres gibt als noch mal vier Jahre Finanzminister zu sein, wurde die See ein wenig ruhiger. Damals kam mir niemand zu Hilfe, bis auf einen Jesuiten, einen Prediger in der Münchener Michaelskirche zu Hilfe und sagte: „Jetzt hat einmal ein Politiker die Wahrheit gesagt und wird dafür verprügelt.“

Sie sind als gläubiger Katholik bekannt. Kürzlich haben Sie Papst Benedikt kritisiert, weil er in den letzten Jahren immer konservativer geworden sei.

Ja, dazu stehe ich. Denn ich habe gelesen, was Benedikt in den 60er und 70er Jahren zu strittigen Fragen in der Kirche gesagt hat, beispielsweise zur Frage der Wiederverheiratung Geschiedener. Daran hat er sich später, als er erst Kardinal und dann Papst wurde, nicht mehr erinnert. Das kritisiere ich.

Eine ähnliche Kritik müssten Sie nun auch an Papst Franziskus anbringen, nach den Entscheidungen zur Amazonas Synode.

Ja, bedauerlich, dass er da im Moment – wahrscheinlich auf Grund der Umstände – nicht den Schritt aufgebracht hat, wenigstens im Amazonas-Gebiet eine begrenzte Ausnahme zu machen. Ich finde das sehr schade aber ich fürchte, dass es dem starken Widerstand geschuldet ist und in der Angst vor einer Spaltung der Kirche. Die konservative Seite ist nicht nur im Vatikan sondern auch in Deutschland sehr aktiv.

Auch beim Thema Zölibat sind Sie deutlich liberaler als die Amtskirche.

Absolut. Als ich das vor ein paar Monaten bei einer Diskussion in einer Kirche im Allgäu gesagt habe, brandete Beifall auf. Es steht doch nirgendwo in der Bibel, dass die Priester ehelos sein sollen. Das ist ein Kirchengesetz, das vor gut 1000 Jahren entstanden ist und einst seine Berechtigung hatte.

Wahrscheinlich deswegen, damit die Eigentümer der Kirche nicht vererbt wurden. Wobei ich nicht gegen das Zölibat, sondern gegen das Pflichtzölibat bin. Warum gibt man Priestern, die mit sich ringen und eine Partnerin finden und es dann als Gewissensentscheidung für sich in Anspruch nehmen, nicht die Möglichkeit, weiterhin Seelsorger zu sein. Einem verheirateten evangelischen Geistlichen der katholisch wird gibt man doch auch die Möglichkeit, katholischer Pfarrer zu werden.

Sie hatten die Haltung der katholischen Kirche zu Wiederverheirateten angesprochen. Das Thema betrifft Sie ja auch persönlich.

Nicht mehr, aber es hat mich betroffen.

Damals gab es eine Schmutzkampagne gegen Sie, als Sie 1993 Ministerpräsident von Bayern werden wollten. Sind die Verletzungen von damals geheilt?

Sie sind geheilt. Man kann verzeihen, aber es ist ein Teil meines Lebens. Und schön waren die Jahre, insbesondere das Jahr 1993, nicht. Bis heute bekomme ich noch unverschämte Briefe von Pharisäern unserer Zeit, die einen belehren wollen was richtig ist und was nicht. Die nehmen einfach nicht zur Kenntnis, dass es Gewissensentscheidungen gibt, die man nur vor sich und vor Gott verantworten kann.

Sie sollen damals kurz davor gewesen sein, politisch alles hinzuschmeißen.

Das ist wahr, der Gedanke kam mir. Ich habe mich damals oft gefragt, warum ich mir das eigentlich antue, denn ich hätte ja jederzeit einen Platz in der Wirtschaft oder als Rechtsanwalt gefunden. Damals haben mir Freunde gesagt: Bitte lauf nicht davon. Man läuft weder vor Gegnern noch vor Freunden davon. Das hat mich bewogen zu bleiben.

Würden Sie rückblickend in der Situation anders agieren?

Nein. Ich werfe mir nur eines vor: ich hätte mich früher zu meiner heutigen Frau bekennen sollen. Ich war ja damals bereits fünf Jahre von meiner ersten, zwischenzeitlich verstorbenen, Frau getrennt.

Doch ich hatte damals gemeint, ich müsse Rücksicht auf meine Familie, insbesondere meine Kinder nehmen, was auch richtig war: Insbesondere die Rücksicht auf meine Kinder. Aber ich habe auch Rücksicht auf meine Kirche und meine Partei genommen und das würde ich in dem Fall nicht mehr machen.

Hat die Kampagne Sie damals eigentlich um Ihren größten Traum, das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten, gebracht?

Nein, das war es nicht. Ich bin 1972 bewusst in die Bundes- und nicht in die Landespolitik gegangen. Wenn Sie sich anschauen, an welchen Themen ich von 1992 bis 1998 mitwirken konnte, beispielsweise der Einigung Europas und einer gemeinsamen Währung, das war wohl wichtiger, als das, was ich als Ministerpräsident meines schönen Landes hätte tun können.

Sie gelten als einer der großen Wegbereiter des Euro, tragen den Beinamen „Mister Euro“. Sind Sie heute noch ein genau so großer Fan wie damals?

Eher noch stärker. Und ich finde es toll, dass zwischenzeitlich 70 Prozent der Deutschen den Euro akzeptieren. Wir wären ja in den letzten zehn Jahren ein Spielball der großen Währungen geworden, vor allem des Dollars. Nur durch eine gemeinsame europäische Währung stehen wir an zweiter Stelle der Weltwährungsordnung. Es hätte uns durcheinander geschmissen und wir stünden heute in Deutschland so schwierig da wie die Schweiz, wo die Notenbank nicht weiß, wie sie eine permanente Aufwertung abwehren soll.

Ein Spielball zwischen China und den USA schein Europa auch heute zu sein, zumindest stärker als früher.

Das stimmt, aber wenn Europa beispielsweise währungspolitisch in 27 oder 30 Währungen gespalten wäre, dann wären wir doch hilflos. So sind wir mit etwa 22 Prozent an Devisen die Zweitstärkste Währung und stehen bei Emissionen noch weiter vorne. Hierdurch spielt Europa eine große Rolle, eine größere, als es ihr gemessen an der Bevölkerungszahl eigentlich zusteht.

Gleichwohl wurde sich x-fach an den vereinbarten Stabilitätskriterien versündigt. Wie bewerten Sie die Verfehlungen?

Fehler wurden gemacht, aber die früheren Turbulenzen waren doch noch viel schwieriger: in den Jahren 1992/1993 gab es ein Wechselspiel, ein schmutziges hin und her floaten. Damals mussten 300 Milliarden Dollar aufgewendet werden, um Währungen zu stützen. Das ist uns beim Franc gelungen, beim Pfund nicht. Alleine zwischen 1979 bis Mitte der 90er Jahre hatten wir 20 Realignments. Komme mir niemand und verherrliche dies als gute Zeit.

Dennoch steigt europaweit die Zahl der Europaskeptiker.

Wer den Euro nicht hat, der braucht sich an einer Abstimmung nicht beteiligen. In den Euro-Ländern ist die Zustimmung jedenfalls so hoch wie nie zuvor.

Wie bewerten Sie die Aufnahme von Griechenlands und Italiens?

Griechenland war falsch, Italien war notwendig, auch wenn Italien immer wieder Probleme macht. Das italienische Problem ist ökonomisch nicht so gravierend, weil die implizite Staatsschuld in Italien – also alles, was an sozialen Beschlüssen erst noch auf uns zukommt, geringer ist als in Deutschland.

Befindet sich die EU durch den Brexit in Auflösungserscheinungen?

Nein. Großbritannien war immer ein ambivalenter Partner. 1945 war Churchill für die europäische Union unter Einschluss Großbritanniens, später war er wieder dagegen. Das hat sich immer fortgesetzt. In den 60er Jahren wollten sie rein, was de Gaulle verhindert hat. Nach dessen Tod kamen sie dazu, bei Maastricht haben sie sich wiederum eine Exit Klausel verschafft. Dann kam es durch die völlig falsche Strategie von Cameron zu dieser Entscheidung, die sicherlich einige Jahre dauern wird.

Sie glauben, dass Großbritannien eines Tages wieder an der Tür der EU anklopfen wird?

Ja, ich glaube, dass in zehn, 15 Jahren eine junge Generation das wieder revidieren wird, was Boris Johnson und Nigel Farage angerichtet haben.

Hat der Brexit zu einer Stärkung oder Schwächung der Union geführt, wenn Sie an die verbliebenen Länder denken?

Zu einer Stabilisierung, was schon mal wichtig ist. Es ist doch ein Riesenerfolg, dass dieses Europa heute nicht nur aus Westeuropa besteht, sondern auch Mittel- und Osteuropa ebenfalls dazugehören. Bei allen Schwierigkeiten, die wir in Polen, Ungarn, Rumänien oder Bulgarien haben, ist es doch ein großes Glück, dass sie nicht mehr unmittelbar dem Machtstreben von Putin ausgesetzt sind. Aber, dass ein Europa mit 27 / 28 Mitglieder schwieriger zu handeln und zusammenzubringen ist als ein Europa der sechs, das liegt doch auf der Hand. Und trotzdem ist es eine Erfolgsgeschichte und wir leben doch in diesem Europa geradezu in einer Glückszone, wenn man sich die verrückten rings um Europa herum betrachtet.

Die CSU hat mit Ihnen, aber auch weiteren Politikern eine große Tradition an Europa-Befürwortern. Mit Manfred Weber stellte Ihre Partei bei den letzten Wahlen auch den Spitzenkandidaten der EVP. Durch Taktieren im Hinterzimmer ist er nicht Kommissionspräsident geworden.

Ja, das war in der Tat schade, aber damit muss man fertig werden. Ich habe Manfred Weber in den letzten Tagen mehrfach erlebt und er hat mit tollen Reden wieder sein Engagement für Europa gezeigt. Er wird in Europa bleiben, das ist das Wichtige. Es kommt im Leben nicht immer darauf an, wie sich eine Konstellation ergibt. Ich wollte damals Ministerpräsident von Bayern werden. Heute glaube ich, dass es besser war, dass ich 9,5 Jahre Minister der Finanzen war. Und so bleibt uns auch Manfred Weber erhalten, ich welcher Konstellation auch immer.

Das trägt doch letztlich zur Europas-Skepsis der Bürger bei.

Was die Taktierer damals von Macron bis Orban gemacht haben, hat der Demokratie nicht gut getan. Daher müsste man erreichen, dass der künftige Präsident der Kommission aus der Mitte des Parlaments bestimmt wird. Es muss nicht immer der Spitzenkandidat sein, aber er sollte aus der Mitte des Parlaments kommen und somit über eine demokratische Legitimation verfügen.

Die letzten Finanzminister, allen voran der Christdemokrat Wolfgang Schäuble aber auch Sozialdemokrat Olaf Scholz haben die schwarze Null wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Sind Sie eigentlich manchmal eifersüchtig in Anbetracht der Möglichkeiten, die die Niedrigzinspolitik den Finanzpolitikern heute bietet?

Eifersüchtig nicht. Aber, wenn ich es im Spaß sagen darf, halte ich es für eine grobe Ungerechtigkeit, dass ich während der Wiedervereinigung 8 ¾ Prozent zahlen musste und heute bekommt der Finanzminister das Geld nachgeworfen. Die Finanzminister profitieren natürlich von der Niedrigzinspolitik und das macht über die Jahre gesehen hunderte von Milliarden aus. Sie tun sich wesentlich leichter als meine Kollegen und ich in den 90er Jahren.

Politiker der Großen Koalition sind in den letzten Jahren durch Verteilen von vielen kostspieligen Geschenken an die jeweilige Wählerklientel aufgefallen. Halten Sie die Verteilung für sinnvoll?

Meines Erachtens hätte man ein Teil des Geldes dem Steuerzahler zurückzugeben müssen, da die Sparer in eine schwierige Situation gekommen sind. Auf der anderen Seite wäre es wichtig gewesen, einen Zukunftsfonds anzulegen, um damit die demographischen Herausforderungen der Zukunft besser abfedern zu können.

Beispielsweise in Form der Abschaffung des Soli, den Sie damals eingeführt hatten?

Sie können eine Abgabe, die nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz eingeführt wurde, nicht 30 Jahre lang aufrecht erhalten. Ich glaube, dass das Bundesverfassungsgericht bei einer erneuten Prüfung die Verfassungsmäßigkeit des Soli nicht mehr feststellen würde.

Sind Sie für das Aufweichen der schwarzen Null?

Nein, es gibt genügend Spielraum, man muss nur andere Prioritäten setzen. Ich will die schwarze Null nicht aufweichen, ein ausgeglichener Haushalt kann schon wichtig sein. Aber es gibt auch Situationen, wo eine antizyklische Finanzpolitik notwendig ist. Wir haben zum Beispiel durch die automatischen Stabilisatoren dann, wenn es der Konjunktur nicht gut ging, gute Erfahrungen gewonnen.

Sie haben gerade das Thema Zukunft angesprochen. Haben Sie eigentlich Sympathien für Fridays for Future?

Da gefällt mir nicht alles, aber ich muss doch respektieren, wenn junge Menschen auf die Straße gehen und für die Zukunft protestieren. Genau so hat es mir imponiert, wie Pulse for Europe vor einigen Jahren auf die Straße gegangen ist und in ganz Europa für Europa demonstriert hat. Das macht mich nicht zu einem kompletten Anhänger aller Dinge, die von Greta Thunberg und anderen kommen. Aber ich halte es für wichtig in der Politik, die jungen Leute ernst zu nehmen und sie zu verstehen. Sonst geht die junge Generation den Traditions- und Volksparteien verloren.

Dies scheint bereits durch viele Entscheidungen der Großen Koalition passiert zu sein; Stichwort Mütterrente.

Mir fehlt in der Tat die Jungendbezogenheit. Bei allen Etat- und Haushaltsberatungen müsste eigentlich die implizite Staatsschuld mit berücksichtigt werden. Das ist die Staatsschuld, die nicht in der Bilanz ausgewiesen wird, sondern das, was schon alles beschlossen ist und unweigerlich auf uns zukommt. Dann liegen wir in Deutschland nicht bei 60, sondern 130 Prozent des BiP. Und das wird mir zu wenig debattiert, was das für die kommende und übernächste Generation bedeutet.

Mit Blick auf die neue Ostpolitik von Willy Brandt haben Sie einmal gesagt, dass die Union es versäumt hatte, die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas, die aufkommenden Strömungen und Kräfte wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. Trifft das nicht auch aktuell auf die Umweltpolitik zu?

Ja, das stimmt schon. Wir haben damals diese Ansätze zu skeptisch, zu negativ bewertet. Es war richtig, dass Helmut Kohl und Franz Josef Strauß dann 1982/83 sehr bewusst auf die Sowjet Union zugegangen sind und das Gespräch mit Gorbatschow gesucht haben. Das offene Gespräch zu suchen, aber auf der anderen Seite die klare Werte-Entscheidung für den Westen, für die NATO, auch den NATO-Doppelbeschluss, das waren damals klar überlegte, flexible Möglichkeiten, auf die Weltpolitik damals zu reagieren. Heute stehen wir in Sachen Klima vor ähnlichen Herausforderungen. Wer es leugnet, dass ein Teil der Klimaveränderung von Menschen gemacht ist, der lügt die Menschen bewusst an. Und da kann ich über die AFD nur den Kopf schütteln. Das ist ein politisches Verbrechen.

Ihr jüngster Sohn ist seit einigen Jahren aus der Schule heraus. Hätten Sie ihm die Teilnahme an den freitäglichen Demos empfohlen?

Ich hätte ihm gesagt: „Wenn Du das einmal machst, haben wir keine größere Diskussion.“ Aber jeden Freitag hätte ich ihm sicher nicht empfohlen.

Sind Sie durch die Gespräche mit Ihrem jüngsten Sohn eigentlich am Puls der heutigen Jugend?

Das empfinde ich wirklich toll. Es kommen immer wieder Freunde meines Sohnes, sie schauen Fußball und machen Feste zusammen und ich finde es schön, dass die mich als Älteren auch akzeptieren, mit mir diskutieren. Das ist wichtig im Leben eines jeden Politikers, dass er das Gespräch mit der Jugend nie aufgibt, nie vergisst. Da muss man immer wieder dran denken: auch wir waren frech, auch wir waren aufmüpfig. Auch uns hat vieles nicht gepasst. Daher bin ich ein entschiedener Gegner von der Nostalgie, der guten alten Zeit zu reden.

Reden Sie nicht davon?

Komme mir niemand mit der guten alten Zeit. Ich mag weder die Theologie der 50er und 60er Jahre mit unsäglichen Dingen. Ich erinner mich: alles was ich bei meiner ersten Beichte gebeichtet habe war keine Sünde. Die Theologie der Angst, die Pädagogik der Angst, der Schläge, das habe ich alles miterlebt. Die Verdrängung der Wahrheit, die Unwahrhaftigkeit mit dem Umgang mit der Vergangenheit. Kein Lehrer, kein Hochschullehrer hat zugegeben, wie sehr er sich in den 30er Jahren geirrt hat, sondern man hat verdrängt. Insofern ist dieser offene Umgang, dieser offene Umgang mit den Fakten bei allen Problemen unserer Zeit sehr positiv. Was mich besorgt macht ist der Umgang mit Fakes und den Hasstiraden in den sozialen Medien. Das ist eine neue Dimension, wo eine neue Verantwortung kreiert werden muss. Dass niemand Gemeinheiten von sich geben darf, ohne, dass er belangt werden kann.

Das hat auch im politischen Umgang miteinander stark zugenommen.

Das ist wahr. Man müsste doch mit den technischen Möglichkeiten einen Weg finden, dass jeder, der sich im Netz bewegt, auch für das, was er da postet, zur Verantwortung gezogen werden kann.

Gibt es eine politische Entscheidung, die Sie im Nachhinein bereuen?

Ich habe mal einen Staatssekretär von mir gefragt, was wir falsch gemacht haben. Er antwortete mir: „Herr Minister, wir haben fast alles richtig gemacht.“ Im Nachhinein gibt es natürlich Dinge, die ich heute anders entscheiden würde. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die großen Entscheidungen richtig waren.

Welches war ihr größter Erfolg?

Der größte Erfolg war der Abzug aller russischen Streitkräfte von deutschem Boden. Den Überleitungsvertrag, der das geregelt hat, den habe ich unterzeichnet, den habe ich verhandelt, vor allen Dingen mit meinem Staatssekretär Horst Köhler, der das glänzend gemacht hat. Wenn man sich vorstellt, dass rund 500.000 Sowjetsoldaten, fast eine Millionen Menschen, die im Umfeld dabei waren, zehntausende Panzer, Atomraketen alles von deutschem Boden zurück kam, dass ganz Deutschland der NATO angehört und wir für das Ganze 12 Milliarden DM bezahlt haben, dann was das keine schlechte Leistung.

Das war wohl nur mit Gorbatschow machbar?

Ja, das war definitiv nur mit Gorbatschow machbar. Es war ein Riesenglück damals. Man muss aber auch sagen, dass sich sein Nachfolger Jelzin an alles gehalten hat, was wir mit Gorbatschow vereinbart haben. Deshalb haben wir allen Grund, auch ihm dankbar zu sein, bei allen Schwächen die er hatte.

Wenn wir über die Zeit der Wiedervereinigung sprechen, kommt einem recht schnell Bundeskanzler Helmut Kohl in den Sinn. Welchen Stellenwert hat er für Sie?

Helmut Kohl war ein großartiger Bundeskanzler und ein verlässlicher Freund. Auf ihn konnte man sich verlassen und ich habe keine Situation erlebt, wo er mir etwas zugemutet hätte, was ich nicht tun wollte. Er war auch immer kameradschaftlich, hat sich angehört, wenn man anderer Meinung war. Er hat die CSU als eigenständige Partei respektiert und er hat mit einem unglaublichen Gespür 1989/1990 alles richtig gemacht.

An welche persönliche Begebenheit erinnern Sie sich am liebsten?

Da gibt es insbesondere zur Zeit der Wiedervereinigung viele Begebenheiten. Aber ich erinnere mich, wie wir in den Kaukasus flogen und dort auf einem großen Maisfeld landeten. Zwei schön gekleidete Landarbeiterinnen übergaben ihm und Gorbatschow einen Laib Brot und Salz. Gorbatschow bestreute das Brot mit Salz und gab es uns zum Gruß weiter. Und dann machte Helmut Kohl zunächst ein Kreuz auf den Brotlaib und sagte, dass seine Mutter das immer so gemacht hatte. Das hat auch den Gorbatschow, obwohl er Agnostiker war, nicht irritiert. Auch in einer solchen Situation ist er zu seinem ich, seiner Überzeugung und insbesondere seiner religiösen Überzeugung gestanden.

Wie bewerten Sie die Erinnerungskultur, die wir derzeit an Helmut Kohl in Deutschland haben?

Ich glaube, dass insgesamt ein sehr gutes Bild über ihn besteht. Die Fehler, die er im Zusammenhang mit der Spendenaffäre gemacht hat, sind Fußnoten. Sie werden als solche registriert, aber sie schmälern nicht die große Leistung, die er 16 Jahre in der Regierung erbracht hat.

Bis heute hält sich das Gerücht, dass die Zustimmung zum Euro der Preis war, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten. Was ist dran an der These?

Nein, das ist absolut dummes Zeug. Erstens gab es die Vorläufer zur gemeinsamen Währung bereits viel früher. 1979 haben Helmut Schmidt und Giscard d`Estaing ein gemeinsames Währungssystem in Europa etabliert, es gab den Beschluss, die gemeinsame Währung voranzubringen. 1988 gab es in Hannover eine Regierungskonferenz der einzelnen Staatschefs und dort wurde die Einsetzung der Delors Kommission beschlossen. Und der Kommissionsvorsitzende hat im März 1989 seinen Bericht abgeliefert. Damals haben wir uns erstmals damit beschäftigt. Damals hatte niemand eine Vorstellung, dass anderthalb Jahre später die deutsche Einheit stattfinden würde. Die letzte Entscheidung für den Euro fiel am 2. Mai 1989 und zu dem Zeitpunkt mussten Bundesrat und Bundestag zustimmen. 1988 hätte niemand jemandem zusagen können, dass zehn Jahre später eine Zweidrittel Mehrheit im Bundestag und Bundesrat bereitsteht. Der Zusammenhang ist konstruiert. Richtig ist eines: Helmut Kohl und wir haben den europäischen Prozess nicht unterbrochen, als der deutsche Prozess Fahrt aufgenommen hat. Und das war wichtig für unsere Nachbarn, weil damit Missstimmungen, Ängste und Befürchtungen vor einer neuen Rolle Deutschlands minimiert werden konnten.

Insgesamt stand damals nur ein kleines Zeitfenster für die Realisierung der Widervereinigung zur Verfügung.

Heute weiß man, dass wir eineinhalb Jahre Zeit hatten. Nach dem Sturz von Gorbatschow wäre das in der Form wohl nicht mehr möglich gewesen.

Aljoscha Kertesz

Finanzen