Was bleibt, aber
stiftet der Dichter, sagt Hölderlin, was stiftet der Moralpädagoge? Sie
sprechen von unserer Zeit als einer, in der die Zeiten des Glücks etwas weniger
geworden sind! Was können wir dagegen tun und wo sehen Sie die Ursachen?
Unter anderem, indem ich versuche das ständige „Was wird das
Ausland sagen?“ zu bekämpfen sowie die Art, sich von Israel ständig erpressen
zu lassen, wie ich das in meinem Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem. Über
Deutschland und Israel“ dargestellt habe. Heute muss aber vor einem neuen
deutschen Hochmut gewarnt werden, mit seinen dummen antieuropäischen
Konsequenzen.
Etwas dagegen tun könnte man beispielsweise in der Presse.
Anstatt nur negative Meldungen zu verbreiten, wäre es doch weitaus besser und
würde das Glück befördern, wenn man mehr über positive Ereignisse berichten
würde. Dieses Positive allein begegnet einem in der öffentlichen Medienwelt
allerdings sehr selten. Etwas Böses hingegen findet sich immer wieder. Und um Freude
zu verbreiten, bräuchte man auch einen Begriff, dass es Freude geben kann und Freude
geben soll. Aber der Geist der Zeit ist Anti-Freude.
Was macht Ihrer
Meinung den Geist der Verzeihung aus? In der heutigen Welt, so scheint es, Ihre
persönliche Geschichte hat Sie etwas anderes gelehrt, ist die Verzeihung aus
der Mode gekommen!
Ich bin gar nicht zu sehr für Verzeihen. Ich bin zuerst
einmal dafür, dass man begreift, dass der Andere vielleicht auch Recht gehabt
hat. Ich bin dafür, dass man den Anderen nicht personifiziert, es gibt keine
Kollektivschuld, es gibt solche und andere Deutsche. Um eine Anspielung auf das
Buch „Das Amt“ zu machen; es gibt Diplomaten die so oder anders waren; jede Verallgemeinerung ist etwas, für das man
sich erst einmal entschuldigen sollte. Ich glaube, das Verzeihen ist grundsätzlich
sehr schwierig, wenn man nicht selbst gelitten hat. Deswegen ist das
gegenseitige Verzeihen vor allen Dingen erst dann wirklich und echt, wenn man
das Leiden des Anderen erst einmal verstanden und akzeptiert hat.
Beispielsweise können heute die Israelis den Palästinensern nicht verzeihen,
weil sie sie nicht verstehen.
Was beeindruckt
Sie an Emmanuel Levinas? Sie haben eine tiefe Affinität zu Camus, warum?
Levinas, er beeindruckt mich, weil er die Ethik über alles
stellt, über jede Metaphysik. Es kann keine Politik geben, ohne eine moralische
Begründung, ob die nun gut oder schlecht ist. Und es gibt zuerst eine Moral und
die Sicht des Anderen bestimmt diese Moral weitgehend. Als ich 65 wurde,
stifteten mir ehemalige Studenten und Kollegen ein Buch mit dem Titel „Der
Andere“ und Levinas ist jemand, der das Gesicht des Anderen verherrlicht. Ich
glaube, das ist wesentlich. Meine Begeisterung für Camus besteht seit Anfang
an, weil er menschlich ist, weil er andere versteht. Ein Beispiel: er plädiert,
dass der extrem rechte Schriftsteller Robert Brasillachnicht
erschossen wird, er ist doch erschossen worden, nicht weil er Anhänger dieser
Ideen ist, sondern weil er gegen die Todesstrafe ist. Er ist systematisch gegen
die Todesstrafe – auch gegen die Todesstrafe der Feinde. Übrigens kenne ich
sehr wenige Menschen, die im Rückblick sagen, man hätte in Nürnberg niemand
verurteilen können, wenn sie auch gegen die Todesstrafe sind.
Sie plädieren für
die Mäeutik des Lernens und der Wissensvermittlung im sokratischen Sinne! Was
bietet diese Methode für Vorteile für Studierende? Sie haben immer jene Form
von Wissenschaft kritisiert, die sich im Elfenbeinturm verschließt.
Ich habe immer versucht, sokratisch zu sein, ich gehe auf
den anderen ein – „Du sagt das, Du sagst
das Gegenteil – siehst Du nicht den Widerspruch“; dann kommt im Gespräch die
Konsequenz, die man nicht gewollt hat und über die es wieder nachzudenken gilt.
Das ist die sokratische Methode. Ich habe diese immer wieder mit meinen Studenten
vollzogen, die sich darüber geärgert haben. Aber ich selbst wurde von einem Philosophieprofessor
beeinflusst, diese sokratische Einstellung zu haben.
Warum muß man
gegen Mythen ankämpfen, lebt es nicht schöner mit diesen?
Ja, das würde ich, wenn ich bösartig wäre, von Religionen
sagen, da aber meine Frau sehr gläubig ist, werde ich es nur halb sagen. Mythen
können positiv sein. Beispielsweise war der Élysée–Vertrag von Anfang an ein
Scheitern. Charles De Gaulle hat
gesagt, er sei tot, es ist wenig daraus entstanden, außer dass der Mythos 50
Jahre später eine große Wirkung und viel bewirkt wird, weil sich tausende
Menschen gegenseitig begegnen im Namen eines Vertrages, der zum Mythos geworden
ist. Also ich bin nicht gegen alle Mythen, aber ich versuche immer Mythen zu
zerstören, denn mit Mythen baut man auch Fanatismen auf.
Was kann der
moralisierende Einzelgänger leisten?
Es ist ein freudiges Einwirken auf andere, es ist ein
freudiges Ein-sich-lassen auf sich selbst, man soll wissen, wer man ist, sich also
nicht selbst aufgeben, in dem Willen, andere zu beeinflussen. Ich will
beeinflussen und will mich beeinflussen lassen. Ich glaube, dieser Austausch
ist unglaublich wertvoll. Einer meiner Freunde, ein großer Jesuit sagte, ich
möchte, dass der andere sei, d.h. eine Persönlichkeit habe und das er anders
sei als ich. Und ich tue diese Arbeit, wenn ich zu den Gymnasiasten in
Deutschland und Frankreich gehe und schöne Dialoge führe, weil diese jungen
Menschen nie eine dumme Frage stellen – im Gegensatz zu den Erwachsenen.
Ihre
Autobiographie „Die Freude und der Tod“ beginnen Sie mit dem ausdrücklichen
Hinweis auf eine, Ihre, glückliche Existenz, aber auch vom Tod ist die Rede.
Gibt es da eine Dialektik? Wo steht der Aufklärer, dem jede Metaphysik fremd
ist?
Nein, das Ende ist der Tod, dies habe ich entdeckt als ich
neun war und mein Vater gestorben ist. Man darf keine Zeit vergeuden. Mit
vielen Christen verbindet mich, dass man die Zeit nicht für Kleinigkeiten
verschwenden soll. Der Tod ist für mich das endgültige Ende, weder hoffe ich
auf mehr noch habe ich Schrecken davor. Es bleibt wenig Zeit, heute mit 88
setze ich alles daran, die Zeit intensiv zu nutzen.
Wie sehen Sie das
deutsch-französische Verhältnis zur Zeit? Wie beurteilen Sie die Beziehungen
zwischen Hollande und Merkel?
Da muss man zwischen unterer und oberer Ebene unterscheiden.
Auf den unteren Ebenen, auf der Universität, der Schul- und Städteebene geht es
sehr gut – hier gibt es viele Austauschprogramme in ganz Frankreich und auch
die Forschungskooperationen sind besser als je zuvor. An der Spitze hingegen
geht es nicht gut. Weil Hollande nicht den Mut hat das zu tun, was die
Kanzlerin vorschlägt, nämlich zu sparen. Da ist der Name Schröder was
Furchtbares, denn Schröder weißt darauf hin, das man weniger Lohn zahlen und
die Altersgrenze nach oben schrauben und viele Einschränkungen machen muss. Wenn
man auf Deutschland blickt, sollte man sagen, dass es bessere Verhältnisse zwischen
den Gewerkschaften und den Unternehmern in Frankreich geben soll, man sollte
mittelständische Unternehmen wie in Deutschland fördern, ebenso die Forschung
und nicht nur sparen. Hollande – bedrängt von seiner Linken innerhalb und
außerhalb der Partei – hat nicht den Mut, etwas durchzusetzen. Und die
Kanzlerin ihrerseits besteht auf einen Standpunkt, den heute niemand mehr
teilt. Man kann nicht sagen, die Menschen in Spanien, Portugal und Griechenland
sollen sich zu Tode sparen. Wo kommt denn das Geld her, damit sie wieder einen
wirtschaftlichen Aufschwung erleben, um ihre Schulden zu bezahlen? Sie sollte
wenigstens ein paar Worte des Mitleids zum Ausdruck bringen, des Verstehens für
das große Leiden zum Beispiel der Jugendlichen in Spanien, von denen ein
viertel arbeitslos ist, für die Spanier und Griechen also, bei denen die Gehälter
um 40% gekürzt wurden. Da sehe ich ein immenses Leiden, eine immense
Hoffnungslosigkeit – dafür Verständnis zu zeigen, dies ist der Kanzlerin bis
heute nicht gelungen.
Sie haben immer
für Europa gekämpft, ist die „Alternative für Deutschland“ eine Gefahr oder ist
diese Partei nur eine vorübergehende Episode? Ist die Euro-Zone zu groß geworden?
Nein, es ist keine vorübergehend Episode. Es gibt eine gewisse
neue Deutschlandfeindlichkeit oder Merkelfeindlichekit. Auch mit Blick auf die
Wahlen im September hat die Kanzlerin, zusammen mit Cameron, den Anti-Europäer,
in Brüssel gesagt, dass man noch mehr sparen muss, für einen Haushalt, der
sowie so schon so winzig ist. Wo man doch einen enormen anderen Haushalt
bräuchte, einen europäischen Haushalt unter europäischer Kontrolle, der überall
investiert, damit die Wirtschaft wieder aufwärts geht. Aber solch einen Fond
gibt es nicht und die Bundesrepublik wird ihn nie zugeben.
Ihnen ist soeben der
Theodor Wolff Preis für Ihr Lebenswerk zugesprochen worden. Was bedeutet das
für Sie?
Nicht nur die schöne Anerkennung von Seiten des Zeitungsverbands, wo ich doch
nicht nur als Professor, sondern als Journalist gewirkt habe. Aber vor allem
habe ich ja jahrzehntelang, in all meinen Vorlesungen über Weimar, von dem
großen, von mir bewunderten Journalisten Theodor Wolff gesprochen, der 1933 aus
seiner Zeitung hinausgeworfen wurde, während seine Bücher auf dem
Scheiterhaufen landeten. Er ist von Frankreich nicht gut behandelt worden,
wurde von den Italienern der Gestapo ausgeliefert und starb in einem KZ. Er
glaubte wie mein Vater an die tiefe deutschjüdische Verbundenheit.
Herzlichen Dank für das Gespräch, das Dr. Dr. Stefan Groß
führte.
Prof. Dr. Alfred Grosser, 1925, war Prof.em. am Institut
d’études politiques, Paris, Präsident des CIRAC (Centre d’information et de
recherche sur l’Allemagne contemporaine),
Politischer Kolumnist für La Croixund Ouest-France, Friedenspreisträger (1975) des deutschen Buchhandels
als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen,
Europäern und Menschen anderer Kontinente“. Veröffentlichungen u.a.Verbrechen und Erinnerung, Mein
Deutschland,Wie anders sind die
Deutschen? Wie anders ist Frankreich?; Von Auschwitz nach Jerusalem. Über
Deutschland und Israel, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Grosser
erhielt u.a.: Grosses Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband, Grosskreuz des
Ordre national du Mérite,Grand Officier
de la Légion d’Honneur.