Verhaltenskapitalismus und Überwachungskapitalismus – Ein Vergleich zweier Deutungen einer Entwicklung des Kapitalismus

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  • Der Verhaltenskapitalismus betrachtet die Abschöpfung und Nutzung von Verhaltensdaten als logische kapitalistische Weiterentwicklung in historischer Kontinuität und damit als zwangläufige Entwicklung.
  • Der Überwachungskapitalismus trennt zwischen Verhalten, das zur Optimierung der vorhandenen Leistungen benötigt wird und den Daten, die dafür nicht benötigt werden. Er betrachtet die Nutzung von „Verhaltensüberschüssen“ als eine von Menschen explizit erschaffene, nichtzwangsläufige und entartete Form des Kapitalismus, deren Ziel letztendlich die Akkumulation von Macht, Reichtum und Einfluss ist.  
  • Verhalten ist für den Verhaltenskapitalismus schon immer ein Rohstoff gewesen, der durch die technische Entwicklung zum Produktionsfaktor wurde.
  • Beim Überwachungskapitalismus wurde der sogenannte „Verhaltensüberschuss“ durch Google entdeckt und von diesem und anderen Unternehmen fortan unentgeltlich ausgebeutet.
  • Der Verhaltenskapitalismus sieht sowohl die Chancen als auch die Risiken dieser Entwicklung.
  • Der Überwachungskapitalismus wird dagegen ausschließlich negativ gedeutet.
  • Der Verhaltenskapitalismus steht in einem Kontext, aus dem er nicht gerissen werden kann und die Kenntnis dieser Zusammenhänge ist für den Umgang mit ihm und dessen Verständnis unabdingbar.
  • Der Überwachungskapitalismus ist ein isoliertes, letztendlich vor wenigen Jahren erzeugtes Konstrukt, deren Urheberschaft unter anderem bei Google zu finden ist und daher auch so bekämpft werden kann. 

Einleitung

Die technologische Entwicklung hat innerhalb einer sehr kurzen Zeitperiode neue Geschäftsmodell ermöglicht, Machtverhältnisse verschoben und damit am Ende eine neue Form des Kapitalismus geschaffen. Diese Entwicklung wird vielfach kritisch gesehen, aber bislang fehlt es dieser Debatte noch an einer Struktur und an Modellen, mit denen eine gezielte und auch einfache Einordnung, als Basis für eine breite Diskussion, erfolgen kann. Dabei gibt es bereits erste Versuche, diese zu etablieren und mit zwei Deutungen dieser Evolution soll sich in der Folge beschäftigt werden.

Diese sind das Konzept des Überwachungskapitalismus und das Modell des Verhaltenskapitalismus. Unterschiedliche Ansätze, die gegenübergestellt werden sollen, um letztendlich aufzuzeigen, dass nicht von dem Etablieren neuer Geschäftsmodelle zu sprechen ist, sondern von einer neuen Form des Kapitalismus, die unserer vollen Aufmerksamkeit bedarf, da sie die Gefahr mit sich bringt, einen gravierenden Einfluss auf das soziale, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben auszuüben, der bis in den intimsten Bereich des Individuums reicht. Diese Macht kann und darf sich nicht im Schatten verstecken, sondern muss Teil einer öffentlichen Diskussion sein, die durch eine strukturierte Darstellung dieser Entwicklung des Kapitalismus massiv erleichtert werden würde. 

Die Grundzüge des Überwachungskapitalismus wurden dabei von Shoshana Zuboff in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ dargelegt.[1] Besagtes Werk dient als primäre Grundlage für die Auseinandersetzung und den Vergleiche zwischen dem Konzept des Überwachungskapitalismus und dem des Verhaltenskapitalismus. Zur Methodik sei noch anzumerken, dass sich Zitate und damit auch die Seitenzahlen auf die deutsche Version des Werkes beziehen.[2] Dieses rechtfertigt sich dadurch, dass das Buch zeitlich zuerst in deutscher Sprache erschienen ist und ergänzende Interviews oder Berichte in einer größeren Zahl vorliegen.[3] Etwaige englischsprachige Besprechungen sind allerdings in die Gesamtbetrachtungen ebenso miteingeflossen, wie die nicht-englischsprachigen.

Dem gegenüber werden eigene Forschungsergebnisse gestellt, deren Veröffentlichung allerdings noch jüngerer Natur ist und erst noch den Weg der Etablierung und der Akzeptanz gehen müssen.

Die Ziele dieser Schrift sind daher:

  1. 1)      Zwei grundsätzliche Deutungen der Entwicklung des Kapitalismus gegenüberzustellen
  2. Einen Beitrag dazu zu leisten, dieses neue Phänomen beschreibbar zu machen und ihm eine vermittelbare Struktur zu geben
  3. Eine Diskussionsgrundlage für die Chancen und Risiken der kapitalistischen Entwicklung zu schaffen

Dabei sei von Anfang an darauf verwiesen, dass der Autor dieser Schrift zugleich der Verfasser der Abhandlungen über den Verhaltenskapitalismus ist.

  1. 1.       Definitionen und Ursprung

Shosana Zuboff fasst die moderne Entwicklung im Kapitalismus unter dem Begriff „Überwachungskapitalismus“ zusammen. Hierfür bietet sie eine längere Definition, die Schritt für Schritt betrachtet und der des Verhaltenskapitalismus gegenübergestellt werden soll:

„[..] [Der Überwachungskapitalismus ist eine] Neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert.“ [4]

Im Überwachungskapitalismus hat der Mensch letztendlich die Rolle eines Feldes inne, das von den Technologiekonzernen abgeerntet wird, um am Ende mit den gewonnenen Produkten Geld zu verdienen, sowie Macht und Einfluss zu gewinnen.

Parallel dazu wird darauf verwiesen, dass der Überwachungskapitalismus durch seinen Einfluss auf das gesellschaftliche, persönliche, soziale, politische und wirtschaftliche Leben als neue Marktform bezeichnet werden kann.

Dem gegenübergestellt sei die Definition des Verhaltenskapitalismus, die einige Ähnlichkeiten und noch viel mehr Unterschiede aufweist:

„Unter Verhaltenskapitalismus versteht man eine Spielart des Kapitalismus, in der menschliches Verhalten zum zentralen Faktor für die Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wird.“[5]

Die Definition des Verhaltenskapitalismus ist weiter gefasst, den sie stellt lediglich den Rang des „Verhaltens“ als Produktionsfaktor in den Mittelpunkt. Der Verhaltenskapitalismus geht allerdings ebenfalls davon aus, dass es sich um eine neue Form des Kapitalismus handelt. In diesem Punkt sind sich beide Modelle daher einig. Ein interessanter Unterschied ist aber, dass sie menschliches Verhalten in den Mittelpunkt rückt und nicht die Erfahrung. Dabei wird Verhalten folgendermaßen definiert:

„Unter Verhalten versteht man sowohl Handeln, dulden, als auch Nichthandeln. Die

Vorgänge können bewusst oder unbewusst sein. Es wird durch Reize beeinflusst und

erzeugt. [..] Der zentrale Produktionsfaktor des Verhaltenskapitalismus ist menschliches Verhalten.“[6]

Ob es sich allerdings nur um eine sprachliche Unschärfe handelt, muss dabei offenbleiben, in der graphischen Übersicht („Die Entdeckung des Verhaltensüberschuss“; Seite 121) in Zuboffs Buch, ist von Erfahrung nicht mehr die Rede. Eventuell sind die Begriffe hier synonym zu verstehen.

Im Verhaltenskapitalismus wird dagegen bewusst von Verhalten gesprochen, da sich dieser an die Theorie der Reizgesellschaft anlehnt, die von einer Entwicklung zu einem Homo Stimulus ausgeht.[7]

Ursprung des Überwachungskapitalismus

Deutlicher treten die Unterschiede hervor, wenn man die weitere Definition des Überwachungskapitalismus betrachtet. Dieser wir von Zuboff als [8] bezeichnet.

Der Überwachungskapitalismus ist aber nicht nur eine Anomalie, sondern wurde von wenigen Menschen Anfang in jüngster Vergangenheit bewusst geschaffen und dazu gebraucht, die eigene Macht stetig zu mehren:

„Der Überwachungskapitalismus beginnt mit der Entdeckung des Verhaltensüberschusses [..][9] Wir müssen uns vor allem eines vor Augen halten: Erfunden wurde der Überwachungskapitalismus von einer spezifischen Gruppe von Menschen, zu einem spezifischen Zeitpunkt, an einem spezifischen Ort. Er ergibt sich zwangsläufig weder aus der digitalen Technologie noch aus dem Informationskapitalismus. Er wurde bewusst geschaffen [..][10]

„Google hatte Anfang der 2000er-Jahre im Online-Geschäft erste Erfolge erzielt und prognostizierte dann Klickraten für maßgeschneiderte Anzeigen. Aber die Überwachung ist mittlerweile nicht mehr auf Online-Werbung beschränkt. Die Produkte, die durch die Überwachung entstehen, werden zunehmend lukrativer als traditionelle Produkte und Dienstleistungen. Unternehmen aus allen Bereichen konkurrieren um unsere Verhaltensdaten, damit sie Vorhersagen darüber treffen können, was, wann und wie wir handeln, fühlen, wollen und kaufen werden.“ [11]

„Der Überwachungskapitalismus ist ein historisches Phänomen, keine technologische Zwangsläufigkeit. Er wurde um das Jahr 2001 herum erfunden, von einer Firma namens Google.“ [12]

Es ist daher nur verständlich, wenn Überwachungskapitalismus letztendlich negativ betrachtet wird, denn er ist das

„[..] parasitäres [..] Fundament und Rahmen einer Überwachungsökonomie [..] Der Ursprung einer neuen instrumentären Macht, die Anspruch über die Gesellschaft erhebt und die Marktdemokratie vor bestürzenden Herausforderungen stellt.[..] Zielt auf eine neue kollektive Ordnung auf der Basis totaler Gewissheit ab.[..] Eine Enteignung kritischer Menschenrechte, die am bestens als Putsch von oben zu verstehen ist – als Sturz der Volkssouveränität.“[13]

Ursprung des Verhaltenskapitalismus

Der Verhaltenskapitalismus sieht die Entwicklungen im Kapitalismus, im Gegensatz zum Überwachungskapitalismus, nicht als einen menschengemachten Plan, sondern als logische und zwingende Weiterentwicklung des Kapitalismus an sich.

Nicht Google & Co. haben ein Geschäftsmodell entwickelt, sondern der Zeitenwandel[14] hat dem Kapitalismus eine neue Richtung eröffnet, welche von den Technologiekonzernen lediglich eingeschlagen wurde.

Daher war es auch nicht notwendig, dass irgendein Unternehmen im Hinterzimmer eine Form des Verhaltens entdeckt, sondern Verhalten war schon immer ein Rohstoff. Ein Musterbeispiel hierfür ist die Versicherungsbranche, die das Verhalten der Kunden schon lange vor dem Internetzeitalter erforschte, auswertete und nutzte, um die aktuellen Versicherungsprodukte zu optimieren und neue zu generieren. Er war im Grunde genommen, zumindest in diesen Bereichen, schon immer ein Produktionsfaktor und mit genau diesem Gedanken wird es uns möglich, sich dieser neuen Form der Kapitalismus anzunähern, denn die Erkenntnis, dass Bedürfnisse und Verhalten potentieller Kunden eine wichtige Komponente sind, um Produkte und Dienstleistungen wirkungsvoll anbieten und veräußern zu können, ist weder originell, noch bedarf es hierfür tieferer Ausführungen.

Durch neue Technologien, die Etablierung der Reizgesellschaft und die Möglichkeiten der maschinellen Abschöpfung entsprang dem reißenden Hauptstrom des Kapitalismus aber ein kleiner Nebenfluss, der sich mit der Zeit ebenfalls zum gefährlichen Gewässer entwickelte. Eine Evolution, die wir bereits beim Finanzkapitalismus erleben durften. Auch hier war das Kapital zwar von Anfang ein wichtiges Mittel, löste sich später aber, und gründete eine eigenständige Spielart des Kapitalismus. Die Frucht war zwar am Baume entstanden, aber der Samen fiel zu Boden und wuchs dort im erstaunlichen Tempo heran.  Es wundert daher kaum, mit welcher Geschwindigkeit große Technologiekonzerne, wie z.B. Amazon, Facebook oder Google entstanden und begannen Daten zu sammeln, alsbald es die Möglichkeiten dazu gab. So war es nur folgerichtig, Verhalten nach kapitalistischen Methoden zu nutzen und den Menschen Stück für Stück einzubetten. Algorithmen und Automation machten das möglich, wozu Menschen gar nicht fähig gewesen wären und aus dem Rohstoff und bloßem Produktionsmittel wurde der Produktionsfaktor eines neuen Kapitalismus: Verhaltenskapitalismus.


[1] Zuboff, Shoshana, The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for the Future at the New Frontier of Power Profile Books; 31. 01.2019

[2] Zuboff, Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag 4. Oktober 2018; 04.10.2018

[3] Dass hier kleinere Abweichungen bei der Rückübersetzung ins Englische möglich sind, wird eingeräumt.

[4] Die Definition ist einleitend zu finden und hat daher keine gesonderte Seitenzahl.

[5] Herteux, Andreas, Der Verhaltenskapitalismus -Eine neue Spielart des Kapitalismus gewinnt Macht und Einfluss

[6] Herteux, Andreas, Der Verhaltenskapitalismus -Eine neue Spielart des Kapitalismus gewinnt Macht und Einfluss

[7] Herteux Andreas, Die Reizgesellschaft – Auf dem Weg in das Zeitalter des kollektiven Individualismus;

„Unter einer Reizgesellschaft versteht man ganz allgemein einen Zusammenschluss von Individuen, die in starker Frequenz beeinflussenden, in der Regel künstlich erzeugten, Reizen ausgesetzt ist und sich diesen nur schwer oder nicht entziehen kann bzw. zum Teil auch nicht möchte. [..] Es entsteht der Homo stimulus, der Reizmensch.“

[8] Die Definition ist einleitend zu finden und hat daher keine gesonderte Seitenzahl.

[9] Seite 121

[10] Zuboff, Seite 108

[11] Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 07.11.2018; https://www.sueddeutsche.de/digital/shoshana-zuboff-ueberwachungskapitalismus-google-facebook-1.4198835

[12] Interview mit dem Wochenmagazin „Der Freitag“ vom 02.04.2019; https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/tyrannei-die-sich-von-menschen-ernaehrt

[13] Die Definition ist einleitend zu finden und hat daher keine gesonderte Seitenzahl.

[14] Herteux Andreas, Konzept des Zeitenwandels

  • Funktionsweise

Nach der Betrachtung von Definition und Ursprung sollen nun die Funktionsweisen beider Beschreibungen gegenübergestellt werden.

Überwachungskapitalismus

Die Funktionsweise des Überwachungskapitalismus wird dabei von Zuboff folgendermaßen erläutert:

„Der Überwachungskapitalismus beansprucht einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten [..]“ [1]

An dieser Stelle wird davon ausgegangen, dass der Überwachungskapitalismus, der letztendlich nur das Werkzeug weniger ist, dazu benutzt wird, um die Erfahrung ohne Gegenleistung von Menschen abzuschöpfen.[2] Ein ganz wesentlicher Punkt, denn in der Idee eines Überwachungskapitalismus ist das Individuum lediglich die Kuh im Stall, die konstant gemolken und am Ende, metaphorisch mit dem Verlust der Freiheit, geschlachtet wird. Einwände, wie der, dass derjenige, der eine Suchanfrage eingibt, als Gegenleistung eine Auflistung von Ergebnissen erhält oder, dass auch eine verdeckte Abschöpfung der Bedürfniserkennung dienen könnte, werden dabei nicht akzeptiert.

„Es ist schwierig, unsere tatsächliche Position in dieser Konstellation zu erfassen. Zunächst wurde uns gesagt, wie glücklich wir sein könnten, dass wir kostenlose Dienstleistungen bekommen. Als wir dann erfahren haben, dass die Unternehmen Daten über uns sammeln, waren wir „das Produkt“. Und uns wurde gesagt, dass das ein fairer Tausch sei. Aber wir sind nicht das Produkt, sondern vielmehr die Quelle, das frei zugängliche Rohmaterial. Das wird wiederum zu Produkten verarbeitet, die den Interessen derer dienen, die von unserem zukünftigen Verhalten profitieren.“[3]

„Sie erklärten, sie hätten das Recht, sich unsere private Erfahrung anzueignen, sie in Daten zu verwandeln, um sie als Privateigentum zu besitzen. Google begann damit, einseitig zu behaupten, das World Wide Web gehöre ihm und seiner Suchmaschine. [..] Einst haben wir Google durchsucht, jetzt durchsucht Google uns. Früher glaubten wir, digitale Dienstleistungen seien frei verfügbar, heute denken Überwachungskapitalisten, wir seien frei verfügbar.“[4]

Der Überwachungskapitalismus deutet daher das Verhältnis zwischen Überwachungskapitalisten und Nutzern nicht nur als einseitig und parasitär, sondern warnt auch deutlich vor einer weiteren Verschärfung dieses Missverhältnisses:

„Diese Operationen [sind] geheim und kaum zu entschlüsseln [..] Aber auch deshalb, weil eine solche parasitäre Entwicklung die Grundlage für einen lukrativen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts geworden ist. Es gibt nun eine beispiellose Konzentration von Wissen und Macht, die frei von demokratischer Kontrolle ist und unsere individuellen Einflussmöglichkeiten übersteigt. Der Überwachungskapitalismus baut auf historisch unvorstellbaren Wissensasymmetrien auf. Überwachungskapitalisten wissen alles über uns. Wir wissen sehr wenig von dem, was sie tun oder was sie wissen. Sie nutzen ihren Wissensvorsprung, um unser Verhalten zu beeinflussen. Das ist eine völlig neue Art von Macht.[5]

Nach der Abschöpfung erfolgt eine Teilung der gewonnenen Daten:

„Ein Teil dieser Daten dient der Verbesserung von Produkten und Diensten, den Rest erklärt man zur proprietärem Verhaltensüberschuss, aus dem man mithilfe fortgeschrittener Fabrikationsprozesse, die [..] unter der Bezeichnung „Maschinen oder künstliche Intelligenz“ zusammen  [gefasst werden können], Vorhersageprodukte fertigt, die erahnen was sie jetzt, in Kürze oder irgendwann tun. Und schließlich werden diese Vorhersageprodukte auf einer neuen Art von Marktplatz für Verhaltensvorhersagen gehandelt, [..] [der als] Verhaltensterminkontraktmarkt.“[6]

An dieser Stelle wird es etwas unscharf, da nicht immer klar unterschieden wird, ob der Überwachungskapitalismus nun nur die Nutzung des, der als „neues Produktionsmittel“[7] bezeichnet wird, beschreibt oder aber auch die der Verbesserung. Vom Wortlaut her müsste beides gemeint sein.

Die Frage, ob es nicht eine der grundlegenden Eigenschaften des kapitalistischen Wirtschaftens ist, dass aus Überschüssen an Produktionsmitteln neue Produkte, Dienstleistungen und Innovationen generiert werden, wird dagegen offengelassen. Gleiches gilt für die Überlegung, ob nicht die Ermittlung der Bedürfnisse und des Bedarfs, die letztendlich nichts anderes ist, als Marktforschung mit modernen Mittel, nicht die Geschäftsgrundlage eines jeden Unternehmens sein muss, dass nicht auf einem Verkäufermarkt, unter staatlicher Protektion oder im Oligopol bzw. Monopol agieren kann.

Die Trennung verursacht auch gerade deswegen Probleme, weil Zubuff im Besonderen jene Daten, die nicht für die Optimierung benötigt werden, also den „Verhaltensüberschuss“ besonders kritisch sieht:

„Es werden mehr Verhaltensdaten gerendert, als zur Verbesserung des Dienstes nötig sind. Dieser Überschuss versorgt ein neues Produktionsmittel das Vorhersagen aus dem Nutzerverhalten produziert. Diese Produkte werden an Geschäftskunden auf neuen Verhaltensterminkontraktmärten verkauft. Der Verhaltenswert-Reinvestitionszyklus ist dieser neuen Logik unterworfen. [8]

Ist es aber nicht so, dass die genutzten Daten für Optimierung und Vorhersage nicht in großen Teilen identisch sein dürften? Und für wen entstehen die neuen Produkte? Nur für Geschäftskunden? Nicht für den Kunden selbst? Ist der Markt zudem nicht viel größer, als hier beschrieben? Es wirkt ein wenig wie der Versuch zwischen guten neuen Kapitalismus („Optimierung von Diensten“) und schlechtem neuen Kapitalismus („Nutzung und Generierung von Verhaltensüberschüssen) unterscheiden zu wollen, doch macht diese Differenzierung wirklich Sinn?

Diese Fragen mögen irrelevant sein, wenn man lediglich einen Ausbeutungsmechanismus, der außerhalb der kapitalistischen Norm, zum Zwecke der Akkumulation von Macht, Einfluss und Reichtum von einigen wenigen, geschaffen wurde, darstellen möchte, allerdings werden sie relevant, wenn eine Gesamtstruktur eines neuen Kapitalismus gesucht wird und genau das ist das Ziel dieser Schrift: Das Unscheinbare im Schatten sichtbar und allgemein verständlich machen.


[1] Zuboff, Seite 22

[2] Ein gewissen Problem entsteht hier erneut, durch die Verwendung des unscharfen Begriffes „menschliche Erfahrung“. Wird mit der Eingabe eines Begriffes in eine Suchmaschine „Erfahrung“ abgeschöpft? Oder doch nur das Verhalten, also die Eingabe. Werden, wenn Daten von einem Facebook-Profil verwendet werden, um diese auszuwerten Erfahrungswerte herangezogen? Nein, letztendlich ist es nur das Eingabeverhalten beim Erstellen und Pflegen des Profils.

[3] Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 07.11.2018; https://www.sueddeutsche.de/digital/shoshana-zuboff-ueberwachungskapitalismus-google-facebook-1.4198835

[4] Interview mit dem Wochenmagazin „Der Freitag“ vom 02.04.2019; https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/tyrannei-die-sich-von-menschen-ernaehrt

[5] Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 07.11.2018; https://www.sueddeutsche.de/digital/shoshana-zuboff-ueberwachungskapitalismus-google-facebook-1.4198835

[6] Zuboff, Seite 22

[7] Zuboff, Seite 121

[8] Zuboff, Seite 121

Verhaltenskapitalismus

Abschöpfung von Verhaltensdaten

Das Verhalten ist heute auch ein zentraler Produktionsfaktor für den klassischen und den Finanzkapitalismus und ergänzt Arbeit, Boden und Kapital.

Der Verhaltenskapitalismus basiert auf den Rohstoff und Produktionsfaktor Verhalten, der durch Reaktion des Individuums auf Reize entsteht. Diesen muss er erst durch Abschöpfung gewinnen.  Derartige Versuche gab es schon immer, allerdings ermöglichte erst der durch den Zeitenwandel getriebene technologische Fortschritt das automatisierte Abernten in großen Mengen. Der Abschöpfungsprozess kennt drei Varianten, deren Übergänge fließend sein können:

  • Offene Abschöpfung
  • Dialogische Abschöpfung
  • Versteckte Abschöpfung

Umwandlung in der Verhaltensfabrik

Die gewonnenen Datenmengen werden nun in der Verhaltensfabrik, eine Metapher, um einen komplizierten und dezentralen Verarbeitungsprozess plastischer darzustellen, gelagert und in Teilen zu Produkten verarbeitet. Dabei werden Prognoseprodukte, als auch Befriedigungsprodukte hergestellt.

Ein Befriedigungsprodukt zielt darauf ab, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen.

Ein Prognoseprodukt sagt künftiges menschliches Verhalten voraus.

Verhaltensdaten können auch ohne Weiterverarbeitung gehandelt werden.

Prognoseprodukte dienen dabei dazu, das künftige Verhalten eines Individuums abzuschätzen. Ein typisches Beispiel wäre ein Nutzer eines sozialen Netzwerkes, der sich für Wandern interessiert, entsprechende Fotos darbietet und die Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen dokumentiert. Der Algorithmus kann diese Daten nun auslesen, sie durch andere Angaben wie Alter, Wohnort, Markenneigungen, Stil usw. ergänzen. Gepaart mit der Auslesung des Browserverlaufes, der auch dann geschehen kann, wenn man gar nicht mehr in dem entsprechenden Netzwerk angemeldet ist, entsteht ein Prognoseprodukt, dessen Ergebnis es beispielsweise sein könnte, dass genau dieser User mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut im Sommer zu entsprechenden Touren aufbrechen wird. Es würde daher Sinn machen, ihn kurz zuvor mit passenden Dienstleistungen (z.B. Reiseangebote) oder Produkten (z.B. Wanderschuhe) virtuell zu konfrontieren. Das Prognoseprodukt öffnet für eine gezielte Ansprache damit die Tür.

Befriedigungsprodukte zielen dagegen ganz konkret auf die Befriedigung von erkannten Bedürfnissen ab. Nicht in der Zukunft, sondern zeitnah in der Gegenwart. Interessant dabei ist, dass ein Befriedigungsprodukt sich sowohl auf einen Bedarf beziehen kann, der dem Nutzer bewusst ist, als auch einen, den er noch nicht reflektiert hat, sich aber aus der Analyse des Verhaltens ergibt. Damit haben gerade Befriedigungsprodukte, aber auch Prognoseprodukte auch die Funktion der Offenlegung der inneren Bedürfnisse des Individuums und können damit ein wichtiges Element der Selbstverwirklichung sein.

Handeln auf dem Markt

Sowohl Prognose- und Befriedigungsprodukte als auch das Verhalten selbst können durch den Datensammler selbst genutzt oder veräußert werden. Hier entstehen massive Gewinne, die in der Regel wiederum reinvestiert werden. Nicht unbedingt nur in das bisherige Geschäftsmodell, sondern auch auf in andere Felder, die zur Vernetzung einladen. Für den Markt ergeben sich daher folgende Möglichkeiten:

  • Offerieren passender Angebote

Die Daten werden dazu genutzt, dem Individuum passende Angebote anzubieten. Diese kann aus eigenen Diensten und Produkten bestehen, kombiniert, werden diese aber in der Regel mit der Werbung für Dritte. Hier ist heute noch das Kern des Geschäftsmodells zu sehen.

Insgesamt geht man davon aus, dass inzwischen 25% der weltweiten Werbeumsätze durch Facebook und Google, zwei der Musterbeispiele für angewandten Verhaltenskapitalismus, generiert werden. 2016 waren es noch 20%. Tendenz steigend.

  • Neue Angebote

Das Verhalten macht es nötig, ganz neue Produkte zu konzipieren, um die daraus erkannten Bedürfnisse zu befriedigen. Die Idee aus der Marktbeobachtung notwendige Innovationen und Weiterentwicklungen abzuleiten ist so alt, wie das Wirtschaften selbst, aber dank der neuen Abschöpfungsmöglichkeiten eines zuvor schwer förderbaren Rohstoffes, hat es sie eine völlig neue Dimension erreicht.

  • Optimierung der eigenen Angebote

Die eigenen Angebote werden durch Verhaltensprodukte und entsprechendes Feedback verbessert und angepasst. Dieses gilt sowohl für die Sammler der Daten als auch für deren Kunden. Im Besondern die lernende Maschine ist auf diese Reaktionen angewiesen, um sich stetig in ihren Funktionen zu verbessen.

  • Veräußerung auf dem Markt

Die Datenmengen werden Dritten roh oder bereits als verarbeitende Produkte zur eigenen Geschäftstätigkeit zur Verfügung gestellt. 

  • Einbettungsoptimierung

Der kollektive Individualismus kennt die Einbettung des Menschen die Schaffung einer individuellen Realität. Dazu trägt der Verhaltenskapitalismus durch einen stetigen Kreislauf der Verhaltensabschöpfung bei.

3.  Abwägung

Der Verhaltenskapitalismus ist eine Spielart des Kapitalismus, die analog des Finanzkapitalismus, in seiner Wirkung nur schwierig identifiziert werden kann und daher in der öffentlichen Wahrnehmung und auf der politischen Agenda nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dieses nutzt er geschickt, um sich weiterzuverbreiten und zu festigen, was sich im Kapitalismus häufig durch das Entstehen von Monopolen oder Oligopolen kennzeichnet. Die reale Lage der Technologiekonzerne und ihre Marktmacht belegt dies eindrucksvoll.

Der Verhaltenskapitalismus hat sich daher inzwischen fest etabliert, ohne jedoch als solcher wahrgenommen zu werden. Modernste Technik ermöglicht dabei eine nie gekannte Einbettung, die bis in die intimsten Bereiche des Individuums vordringen kann. Eine Entwicklung, die eine genauere Betrachtung von Nöten macht und sich nicht weiter im Schatten abspielen darf, denn ein entfesselter Verhaltenskapitalismus wäre eine noch stärkere Kraft, als es der Finanzkapitalismus jemals war. Er wäre ein Mittel zur Herrschaft.

Die letzten beiden Absätze hätte man auf eine ähnliche, wenn nicht sogar identische Art und Weise auch über das Konzept des Überwachungskapitalismus schreiben können, allerdings sind die Unterschied unterhalb der Oberfläche unverkennbar, denn während der Überwachungskapitalismus die Entwicklung als etwas abnormales, menschengemachtes und letztendlich – einseitig – böses betrachtet, das auch nur schlechtes gebiert, ist die Darstellung des Verhaltenskapitalismus bewusst neutral, denn er erkennt, dass es sich um eine normale Entwicklung des Kapitalismus handelt und Chancen, als auch Risiken bietet. Die Herausforderungen werden durch Zuboffs Werk hervorragend und akribisch dargestellt; vielleicht so überzeugend, wie das niemals zuvor gelungen ist. Die Chancen nicht. Diese werden sogar verneint.

Dabei ist die schrittweise Einbettung des Individuums in einer eignen Welt zugleich eine Möglichkeit, nicht nur Bedürfnisse zu erfüllen, sondern zugleich diese erst zu ermitteln. Dieser Prozess lässt sich aber, anders als es Zuboff nahelegt, nicht vom kapitalistischen Prozess abtrennen. Er braucht die Innovationen und Optimierungen.

Zudem übersieht sie ein wichtiges Detail: Die Bevölkerung eines Landes ist in Milieus, die zudem immer schneller zerfallen unterteilt, die teilweise völlig unterschiedliche Ansichten, Wertvorstellungen oder Lebensentwürfe besitzen. Ein beachtlicher Teil dieser Milieus wäre jederzeit bereit, Elemente wie Demokratie oder auch nicht wahrgenommene Freiheiten gegen eine bedürfnisbefriedigende Einbettung zu tauschen.

Diese Erkenntnis mag erschrecken und doch beschreibt sie die Tatsachen. Wenn Zuboff daher von „seid Sand im Getriebe“[1], dem „Unwillen der Bürger und Journalisten [..] der Wissenschaftler [..] der gewählten Volksvertreter und politischer Entscheidungsträger [..] und der junge[r] Menschen [..]“[2], oder von einem allgemeinen Gefühl der „Entrüstung“[3], dass sich entwickeln müsste, spricht, ist anzumerken, dass dieses nur im Interesse eines Teils der Bevölkerung sein wird. 

Das aber ist nur solange ein Problem, solange die Entwicklung als isolierte Monstrosität betrachtet wird, die man mit Gewehr und Peitsche unter Kontrolle bekommen würde. Tatsächlich steht der Verhaltenskapitalismus nicht nur in geschichtlicher Kontinuität, sondern er ist selbst nur ein Teil eines Übergangs in eine Ära des kollektiven Individualismus, der zusammen mit Milieukämpfen und dem Verschieben der globalen Machtverhältnisse, die Zukunft prägen wird. 

Der Gedanke diesen großen Kräften der Veränderung mit einigen Einschränkungen bei der Geschäftstätigkeit westlicher Technologiekonzernen begegnet werden kann, mutet interessant an, ist aber wenig zielführend, denn würde das dann nicht bedeuten, dass das Feld letztendlich Baidu, Tencent, Alibaba & Co überlassen wird, hinter denen oft die Autorität des chinesischen Staates steht? Eine wichtige Frage, die es zu diskutieren gilt:

Die dunklen Seiten des Verhaltenskapitalismus sind ein gigantisches Problem, doch überlassen wir den Markt nicht vielleicht viel gefährlicheren Kräften, wenn wir die westlichen Konzerne schwächen, während wir auf die östlichen keinen Einfluss ausüben können? Es bedarf daher eines umfassenden Lösungskonzeptes, wie wir es im Modell der Alternativen Hegemonie (AH-Modell) finden, welches an dieser Stelle aber nicht Thema sein soll.

Zum Ende hin

In dieser Schrift ging es letztendlich um:

  1. Zwei grundsätzliche Deutungen der Entwicklung des Kapitalismus gegenüberzustellen
  2. Einen Beitrag dazu zu leisten, dieses neue Phänomen beschreibbar zu machen und ihm eine vermittelbare Struktur zu geben
  3. Eine Diskussionsgrundlage für die Chancen und Risiken der kapitalistischen Entwicklung zu schaffen

Shoshana Zubuff ist dabei eine herausragende Darstellung der negativen Seiten des Verhaltenskapitalismus gelungen. Eine wahre Pionierarbeit. Eine systematische Darstellung einer neuen Spielart des Kapitalismus war dabei wohl niemals ihr ureigenes Ziel, sondern nur ein Mittel zum Zweck, um der Warnung vor den Gefahren einer neuen Ära des kollektiven Individualismus Ausdruck zu verleihen.

Eine systematische Beschreibung und Einordnung, die als breite Diskussionsgrundlage dienen kann, bietet das Modell des Verhaltenskapitalismus.

Referenzen

Zuboff, Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag 4. Oktober 2018; 04.10.2018

Herteux, Andreas, Erste Grundlagen des Verhaltenskapitalismus: Bestandsaufnahme einer neuen Spielart des Kapitalismus, Erich von Werner Verlag, ISBN 978-3981900651

Herteux, Andreas, Der Verhaltenskapitalismus – Eine neue Spielart des Kapitalismus gewinnt Macht und Einfluss (German), DOI 10.13140/RG.2.2.18058.62402, August 2019

Herteux Andreas, Concept of the Change of Times

Herteux Andreas, Die Reizgesellschaft

Interview with the weekly magazine „Der Freitag“ from 02.04.2019; https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/tyrannei-die-sich-von-menschen-ernaehrt

[1]Interview with the Süddeutsche Zeitung of 07.11.2018; https://www.sueddeutsche.de/digital/shoshana-zuboff-ueberwachungskapitalismus-google-facebook-1.4198835


[1]Zuboff, Seite 593

[2] Zuboff, Seite 596

[3] Zuboff, Seite 595

Dieser Beitrag von Andreas Herteux wurde zuerst auf der offiziellen Präsenz der Erich von Werner Gesellschaft und in der Wochenzeitung „Der Freitag“ veröffentlicht. Er findet sich auch unter den DOI: 10.13140/RG.2.2.28837.65764 (German) und 10.13140/RG.2.2.32319.25768  (englisch) in den bekannten Wissenschaftsportalen. Weiterhin fand er auch Aufnahme in der Monographie „Erste Grundlagen des Verhaltenskapitalismus: Bestandsaufnahme einer neuen Spielart des Kapitalismus“, erschienen im Erich von Werner Verlag, ISBN 978-3981900651. Die DOI-Nummern lauten 10.5281/zenodo.3469587 und 10.5281/zenodo.3469568.

Quelle: Andreas Herteux