„Ben Jonson verkündet: >>Wie nah am Guten liegt das Schöne!<<
Ich dagegen sage: >>Wie nah am Guten liegt das Wilde!<<
Das Leben steht im Einklang mit der Wildnis.
Das Wildeste ist das Lebendigste.
Da der Mensch es noch nicht bezwungen hat, erfrischt ihn seine Gegenwart.“[1]
Winnetou ist“a dream come true“, zumindest für den europäischen Kulturmenschen, der spätestens seit Rousseau seine Sehnsucht nach Originalität und Unberührtheit auf den Naturmenschen projiziert und dessen Idealbild der edle Wilde ist. Seit Karl May ist dieser indigene Archetypus massenverdaulich geworden und hat vor allem die Herzen der deutschsprachigen Leserschaft erobert. Wie könnte er auch nicht?
Ein langhaariger, attraktiver Apache, loyal bis in den Tod gegenüber seinem weißen Blutsbruder, mutig wie ein Löwe, weise und im Einklang mit Manitou und Mutter Natur, reitet im Laufe der Buchbände und Filmteile in seinen sicheren Heldentod. Seine Konzeption des edlen Wilden trifft den Geschmack der europäischen Leserschaft. Schon zu Lebzeiten inszeniert May sich als Marke gleich wie seinen Romanhelden Winnetou, verknüpft Werk und Person eng miteinander. So posiert er als Old Shatterhand, Winnetous bleichgesichtigen Blutsbruder, und insistiert, seine Geschichten nicht erfunden, sondern tatsächlich erlebt zu haben. May ist geschickt darin, Fiktion und Realität zu vermischen, wohl wissend, dass die reale Welt der Indigenen und die von der Zivilisation korrumpierten Wilden den Rezipienten schwer im Magen liegen, und einer geregelten Verdauung eine schöne neue Welt mit ihren edlen Wilden verträglicher ist.
„Einen Bart trug er nicht; in dieser Beziehung war er ganz Indianer. […] Das schönste an ihm waren aber seine Augen, seine sammetartigen, […]. Solch´ ehrliche, treue, lautere Augen, […] konnte nur ein Mensch haben, der eine solche Reinheit der Seele, Aufrichtigkeit des Herzens und Unwandelbarkeit des Charakters, und stete Wahrheit des Gefühls besaß wie Winnetou.“
Winnetou, der fiktive Häuptling der Mescalero-Apachen, kommt da gerade recht. Er entspricht in seiner treuen und bedingungslosen Naivität Thoreaus Traumbild eines unbefangenen Unzivilisierten, an dem die Unwissenheit manchmal nicht nur nützlich, sondern auch schön ist.[2] Der edle Wilde hat noch nicht in das Licht der westlichen Aufklärung geblickt und ist daher noch nicht verblendet von Zivilisation und Dekadenz. „Ringsum liegt unsere gewaltige, wilde, heulende Mutter, die Natur, in ihrer Schönheit und ihrer Zuneigung für ihre Kinder einer Leopardin gleich; und doch werden wir so früh von ihrer Brust entwöhnt, um der Gesellschaft anzugehören, jener Kultur, die ausschließlich aus Interaktionen zwischen Menschen besteht – einer Art fortgesetzter Inzucht, die bestenfalls einen englischen Adel hervorbringt, eine Zivilisation, der ein rasches Ende bestimmt ist.“[3] Die Welt spaltet sich in folgende Dichotomie: eine zerfallende, dekadente, pharisäische und überzivilisierte Kultur einerseits, deren Diagnostiker Nietzsche gewesen ist, und auf der anderen Seite die reine, unberührte und echte Natur Rousseaus, die sich ihrer Adaption, Absorption und Destruktion entgegensetzt. Die Welt steht im Ring, es läuft ein Kampf zwischen David und Goliath, Natur und Kultur, einer kleinen ethnischen Minderheit gegen die böse Supermacht „industrielle Zivilisation“. „Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben […].“[4]
Dass der zivilisatorische Komfort seinen Preis hat und dieser zumeist auf Kosten anderer bezahlt wird, davon legt die Situation der Indigenen Nordamerikas Zeugnis ab. Der schwelende Konflikt zwischen staatlicher Abhängigkeit und kultureller Freiheit, autodestruktivem Alkohol- und Drogenkonsum und den Spielkasinos haben es dem edlen Wilden schwer gemacht, in Erscheinung zu treten. Die Idee des „edlen Wilden“ bleibt freilich eine wohlgenährte in Platons Ideenhimmel, umgangssprachlich auch Phantasie genannt.
1996 haben die Disney Studios einen mädchentauglichen indigenen Charakter auf die Leinwand gebracht, Pocahontas. Damit konnte erstmals global anschaulich der Typus der edlen wilden Frau entstehen. Basierend auf einer historischen Persönlichkeit, wird vor allem die Liebesgeschichte von dem englischen Abenteurer John Smith und der Häuptlingstochter Pocahontas in den Blickwinkel gerückt, also einer Versöhnung zwischen Bleichgesichtern und Rothäuten. Selbst zwischen Kultur und Natur kann es leidenschaftliche Liebe geben, zumindest für eine kurze Zeit und auf der Leinwand.
„Für dich bin ich nur eine Wilde.
Es ist klar, dass du so denkst, denn du bist sehr weit gereist.
Doch sehe ich nicht ein, wenn so wild ich dir erschein´,
wie kommt´s, dass du so vieles gar nicht weißt?
Gar nicht weißt?
[…] Der Regen und der Fluss sind meine Brüder.
Der Reiher und der Otter mein Geleit.
Und jeder dreht sich mit und ist verbunden,
mit dem Sonnenrad, dem Ring der Ewigkeit. […]“[5]
Unwichtig, dass die Liebesbeziehung sowohl im Film, als auch im Original schief gegangen ist. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Der Arbeitsmarkt ist unerbittlich, die Gesundheitskosten hoch, die gegenseitigen Vorurteile, zwischen romantischen Wunschvorstellungen und pessimistischen Verurteilungen schwankend, erschweren einen neuen Zugang zueinander und zur gemeinsamen Vergangenheit und Zukunft. Fenimore lässt den weisen Tamelund im letztes Kapitel seines Buches „Der letzte Mohikaner“ sagen:
„“It is enough. […] Go, children of the Lenape, the anger of the Manitou is not done. Why should Tamenund stay? The pale faces are masters of the earth, and the time of the red man has not yet come again. My day has been too long. In the morning i saw the sons of Unamis happy and strong; and yet, before the night has come, have i lived to see the last warrior of the wise race of the Mohicans.“[6]
Keine Angst, „der“ Indianer ist nicht tot. Der Mythos des edlen Wilden lebt in den Medien, in den politischen Konfrontationen zwischen Industriegesellschaft und indigenen Gesellschaften und in den Köpfen der Kinder weiter. Diese Kinder lesen Karl May und spielen wie schon wir vorher gute Indianer gegen böse Cowboys und das mit einer Inbrunst, als ob sie auch irgendwo in sicheinen Wilden tragen, und irgendwo vielleicht auch für sie ein wilder Name verzeichnet ist.[7]
[1] Thoreau, Henry David. 2010. Vom Glück, durch die Natur zu gehen. Köln: Anaconda, S. 40.
[2] ebda, S. 61.
[3] Henry David Thoreau, Vom Glück, durch die Natur zu gehen, S. 58.
[4] Rousseau, Jean-Jacques. 1998. Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit zwischen den Menschen. Anmerkung IX. Stuttgart: Reclam, S. 115f.
[5] deutsche Übersetzung aus dem Zeichentrickfilm Pocahontas, Colours of the Wind, Music & Lyrics by Alan Menken & Stephen Schwartz, Walt Disney, 1996.
[6] Cooper, James Fenimore. 1826. The Last of the Mohicans. [k.A.], Chapter 33.
[7] Henry David Thoreau, Vom Glück, durch die Natur zu gehen, S. 57.
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