„Jeder meiner Fäden führt zu einem Massengrab.“ – Die Büchner-Preisrede von Lukas Bärfuss

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Am 2. November 2019 wurde dem Dramatiker Lukas Bärfuss in Darmstadt von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Georg-Büchner-Preis 2019 verliehen. Zu diesem Anlass hielt der Preisträger eine Dankrede, die in der „FAZ“ vom 4. November 2019 abgedruckt wurde. In dieser Zeitung findet sich die Überschrift: „Jeder meiner Fäden führt zu einem Massengrab“. Diese Formulierung geht auf einen Satz in der Rede von Lukas Bärfuss zurück, der wie folgt lautet: „Welchen Faden ich auch immer aufnehme, hinter der nächsten oder spätestens der übernächsten Ecke führt er zu einem Massengrab.“

„Meine besten Jahre verbrachte ich mit dem Studium der Gewalt.“

Die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Phänomen der Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk von Lukas Bärfuss. Die Laudatorin bei der Preisverleihung, die Dramatikerin Judith Gerstenberg, würdigte das Gesamtwerk von Lukas Bärfuss: 26 Theaterstücke, drei Romane, zwei Essay-Bände, zahlreiche Erzählungen, Hörspiele, Reden und Artikel. In seinen Theaterstücken geht es um Liebe und Hass, um Sexualität und Tod, um Ungerechtigkeit, Aggression und Gewalt, Mord, Totschlag und Suizid. Sein Debütroman „Hundert Tage“ (2008) handelt vom Völkermord in Ruanda. Den Suizid seines Bruders beschreibt er in seinem zweiten Roman „Koala“ (2014). In seinem jüngsten Roman „Hagard“ (2017) geht es um Stalking. Es ist also gut nachvollziehbar, wenn Lukas Bärfuss in seiner Rede sagte:

„Ich habe in den letzten Jahrzehnten eine Existenz mit, durch und auf dem Leid errichtet, auf Mord und Totschlag, Folter und Vergewaltigung. Meine besten Jahre verbrachte ich mit dem Studium der Gewalt, und nicht etwa bloß abstrakt und theoretisch, nein, ich habe meinen Figuren eine Existenz geschenkt, um diese Existenz anschließend in ein einziges Leiden, in eine große Pein zu verwandeln. Jeden Charakter, der meine Aufmerksamkeit erregte, muss man aufrichtig bemitleiden.“

„Zeugnisse für die menschliche Niedertracht und Grausamkeit“

Zu Beginn seiner Rede besinnt sich der Dramatiker auf die Anwesenheit seiner Familie und seiner Kinder, denen gegenüber er ein Erklärungsbedürfnis hat:

„Ferner bringt mich dieser Preis der Anwesenheit meiner Familie, besonders meiner Kinder, wegen in Verlegenheit. Als Vater will ich ihnen Zuversicht und Vertrauen schenken, aber mein Werk ist in weiten Teilen ein Zeugnis für die menschliche Niedertracht und Grausamkeit, und ich werde den Kindern wohl oder übel erklären müssen, was hier genau ausgezeichnet wird.“

Kindheit im Kalten Krieg

Der Eiserne Vorhang, die Spannungen zwischen Ost und West, der Kalte Krieg und das nukleare Wettrüsten haben die Kindheit von Lukas Bärfuss überschattet. Wenn er über das wohlgeordnete Leben in seinem Schweizer Geburtsort Thun hinausdachte in die große weite Welt, wurden ihm diese Gefahren bewusst. Je mehr er sich mit den aktuellen Welt-Nachrichten beschäftigte, desto größer wurde das Bedrohungsgefühl:

„Aufgewachsen bin ich in einer Zeit, die man den Kalten Krieg nennt, bloß eine weitere unter den vielen freudlosen Epochen der Menschheitsgeschichte. Durch den Kontinent, von Nord nach Süd, verlief eine Grenze, bewehrt mit Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Minenfeldern. Auf beiden Seiten standen Hunderte, tausende Raketen, jede bestückt mit einem Nuklearsprengkopf. Jeden Tag rechneten wir mit der Möglichkeit der augenblicklichen und vollständigen Vernichtung dessen, was man menschliche Zivilisation nennt, entweder durch Irrtum oder Vorsatz, was im Ergebnis dasselbe bleibt. Es gab nicht die kleinste Aussicht, dass sich in unserer Lebenszeit etwas ändern könnte. Die Verhältnisse waren betoniert, der Hass der beiden Lager existentiell und so unüberwindlich wie der Eiserne Vorhang.“

Der Fall der Mauer 1989 – eine „Sternstunde der Menschheit“

Auch der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang gingen einmal zu Ende. Im Jahr 1989 fielen in Berlin die Mauer und in ganz Deutschland die Stacheldrahtzäune. Lukas Bärfuss schildert dies in seiner Dankrede wie folgt:

„Doch es kam ein gewisser Herbst, und da geschah etwas, ein ganz und gar unvorhergesehenes Ereignis, ohne Ankündigung, von einem Moment auf den anderen war alles, einfach alles verändert, was der Definition eines Wunders ziemlich nahe kommt. Die Menschen jenseits der Grenze, im Osten, verloren die Angst, die sei fast ein halbes Jahrhundert geknebelt und gefesselt hatte, und sie erhoben sich. Ein Imperium fiel, ohne Gewalt, friedlich, über Nacht, die Mauern fielen wie die Grenzen, die Raketen wurden überflüssig, und alle, die es erlebt haben, werden ein Leben lang mit Rührung und mit Stolz an diese Sternstunde der Menschheit denken, in diesen Tagen vor genau dreißig Jahren, und sie werden, sie müssen, sie dürfen den Menschen in Leipzig, in Dresden und in Berlin für immer dankbar sein.“

Von Danton zu Auschwitz und Srebrenica

Natürlich widmete sich Lukas Bärfuss in seiner Dankrede auch dem Namensgeber des ihm verliehenen Preises – dem Schriftsteller Georg Büchner. Eines von dessen Hauptwerken – „Dantons Tod“ hat für Lukas Bärfuss Vorbildcharakter. Seine großen existentiellen Themen sind dort bereits enthalten: Massenmorde und Massengräber, Gewalt, Grausamkeit und Niedertracht. Der Revolutionär George Danton wird als „Schlächter“ dargestellt, der die Septembermorde mit den zahlreichen Toten zu verantworten hat. Danton versucht sich aus der Verantwortung und Schuld zu stehlen, sucht nach Rechtfertigungen. Er tut so, als hätten Notwehr, Sachzwänge oder ein Befehlsnotstand ihn zu seinen schicksalshaften Handlungen getrieben. Von den Morden in der Französischen Revolution und Georg Büchner schlägt Lukas Bärfuss in seiner Rede eine Brücke zur Gegenwart: Er erinnert an die Massenmorde in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern sowie an die Massengräber im Bosnienkrieg:

„Man sah es morgens, mittags, abends, eintausendvierhundertfünfundzwanzig Tage lang, elftausend Leben blieben liegen in einer einzigen Stadt, Bosnien ein einziges Schlachthaus, hunderttausend Tote, und dieses, mein Europa, vor kurzem befreit, noch trunken vor Freude, war außerstande, etwas gegen Massenmord und Vertreibung zu unternehmen. In den Hauptstädten der freien Welt rollte man Mördern den roten Teppich aus, und wie jeder feige Mörder vor ihnen rechtfertigten sie sich mit Notwehr.“

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ (Eli Wiesel).

Im Schlussteil seiner Rede hält Lukas Bärfuss ein flammendes Plädoyer für die Erinnerung und gegen das Vergessen. Hier wird seine Rede sehr politisch und hoch aktuell. Er erinnert an die Kontinuität des Gedankengutes der Nazis und sieht Parallelen zum aktuellen Populismus und Rechtsradikalismus. In seiner Rede ruft er mahnend wie folgt zur Erinnerung:

„Eigentlich hatte ich es gewusst, natürlich, aber irgendwann, man weiß nicht, wie und warum, ging einfach vergessen, dass die Kontinuität der nationalsozialistischen Eliten nach 1945 ungebrochen war. Ich hatte vergessen, dass die NSDAP im Mai 1945 7,5 Millionen Mitglieder hatte, und ich hatte vergessen, dass es bis ins Jahr 2006 vor deutschen Gerichten nur zu 6500 Urteilen gegen Nazis gekommen war. Von 1000 Parteimitgliedern blieben also 999 ganz ohne Strafe. In der Armee, in der Erziehung, in der Kunst, in der Politik machten sie sich nützlich, jeder auf seine Weise. Keine Staatsämter, auch nicht die höchsten, blieben den Nazis verwehrt…. Sie sind also nicht plötzlich wieder da, die Nazis und ihr Gedankengut sind überhaupt nie weg gewesen, und jeder Demokrat, der darüber staunt, sollte sich vielleicht fragen, warum er es vergessen hat, und vor allem, wer uns all dies in Zukunft ins Gedächtnis rufen wird.“

„Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.“

Lukas Bärfuss erinnert an wichtige Zeitzeugen, die im Holocaust in Konzentrationslagern waren und diese Zeit trotz schlimmster Tortur und Folter überlebt haben. Er erwähnt Esther Bejarano, Ruth Klüger, Primo Levi, Imre Kertész und Richard Glazar. Sie sind die letzten großen Zeitzeugen, die vor kurzer Zeit noch gelebt haben oder bald verschwinden werden. Die große Bedeutung, die die Erinnerung an diese Zeitzeugen hat, kann nach Bärfuss gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:

„Sie waren nicht nur meine Lehrer, sie haben nicht nur mir die Richtung gezeigt, sie gaben jedem Demokraten, jenseits der politischen und weltanschaulichen Differenzen, die Orientierung. Wir werden in Zukunft ohne sie auskommen müssen, und die Unruhe, die Beliebigkeit und die innere Zerrüttung, die unsere Zeit bestimmen und die wir alle spüren, sie rühren auch daher. Es ist die Angst vor dem Vergessen, vom Verlust der Orientierung. Es bleibt die Aufgabe und Verantwortung meiner Generation, die Erinnerung lebendig zu halten. Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.“

Die Laudatio von Judith Gerstenberg und die Dankrede von Lukas Bärfuss können auf der Homepage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung nachgelesen werden. Eine Druckfassung wird demnächst im Wallstein-Verlag erscheinen.

Literatur:

Bärfuss, Lukas (2008) Hundert Tage. Roman. Wallstein, Göttingen

Bärfuss, Lukas (2014) Koala. Roman. Wallstein, Göttingen

Bärfuss, Lukas (2017) Hagard. Roman. Wallstein, Göttingen

Bärfuss, Lukas (2019) Jeder meiner Fäden führt zu einem Massengrab. Dankesrede zum Büchnerpreis. FAZ vom 4.11.2019

Csef, Herbert (2019) Der Rebell. – Lukas Bärfuss erhält den Georg-Büchner-Preis. Tabularasamagazin vom 22. Juli 2019

Gerstenberg, Judith (2019) Laudatio. Georg-Büchner-Preis. Lukas Bärfuss. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef     

Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

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Über Herbert Csef 150 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.