Ich habe hier ein glänzendes Buch. Und auf der Straße laufen zwei Jugendliche vorbei.
Erster: „Gestern habe ich einen tollen Film angesehen, der war nur so… unrealistisch“. Zweiter: „Also modern“.
Das Buch heißt „In der Wahrheit leben“. Es ist ein Lebensmotiv. Es geht um die glänzende Textsammlung einer Persönlichkeit ersten Ranges. Und sie gehört unserer immer unrealistischer werdenden jüngeren Geschichte an. Für heutige Schulklässler ist diese Zeit so lange her wie Dinosaurier. Gut. Es geht um Ludwig Mehlhorn. Schauen wir uns die Eckdaten des Dinos an. 1950-2011. Mathematiker, Bürgerrechtler, politischer Akteur, brillanter Übersetzer, kristallklarer Essayist. Ziemlich frühes Engagement. Seit 1968. Eine Zeit, als es Kritik in der DDR noch „nicht als öffentliche wahrnehmbare Opposition“ gegeben hat (S. 31). Aktiv bei der Aktion Sühnezeichen und in der Evangelischen DDR-Studentengemeinde. Für das ihn von dort an begleitende Interesse an einer Versöhnung mit unserem Nachbarn Polen, er spricht die Sprache und kennt die Geschichte Polens, erhält er, mit einer anderen Hammer- Persönlichkeit, Wolfgang Templin, den DIALOG-Preis des Bundesverbandes der Deutsch-Polnischen Gesellschaft: vierzig Jahre später. „Vierzig Jahre“, mit dem Aus des Ostblocks ein stehender Begriff, bilden auch den Zeitkern der vorliegenden Texte.
Der Rezensent wiederholt, es sind glänzende Texte. Nun warum also. In unserer Zeit der Dauerattacken durch Selbstmordattentäter mag man schon den Begriff „Engagement“ langweilig finden. Nur hat dieses Empfinden nichts Greifbares. Es plätschert so genussvoll-gleichgültig dahin. Muss man das akzeptieren? Ludwig Mehlhorn akzeptierte das nicht. Auch die gleichgültig machenden Staatsdirektiven der DDR, vom „Ich zum Wir“ etwa, ließen alles so Seinsvergessen (Heidegger) dahin klappern. Freilich kann man auch reflektieren. Wie Mehlhorn das eben tat. Der baute daraus einen Lieblingssatz. Der sagte, wir- o.k. – aber „wir müssen konkret werden.“ (S. 28) Occupy herrschte also schon damals. Geht es nicht um dieses „Konkrete“, um das mündige selbstbestimmte Sein, ganz aktuell in Europa? Mehlhorn gehörte zu denen, die Occupy heute sind. „Die Zeit ist reif, dass sich die Geister scheiden.“ (S. 47) Mehlhorn schrieb das im April 1987. Es geht um die „Erkenntnis“, dass „Schweigen zur Schuld führt“. Gemeint ist dabei einmal die „schweigenden Mehrheit in der Bevölkerung“, die den Machterhalt von Systemen der schlimmsten Sorte sichert. Ob man ein altes griechisches Drama aufschlägt oder die aktuelle globale Jugendbewegung verfolgt, es ist die Geschichte, für eine „erkannte Wahrheit“ einzustehen, und der rote Faden dieser Geschichte ist blutrot. So ist das jedenfalls unter Diktatoren und Mehlhorns Zeit war die Hoch-Zeit der Diktaturen. Jung wie Occupy, gewaltfrei wie Occupy, Aussöhnung die Absicht, „Brücken über Abgründe einer tragischen Vergangenheit“. Wer anders als die nicht in die politischen Exzesse verstrickte Jugend, kann das zwischen verfeindeten Völkern schaffen? Doch weder Diktatur der DDR noch die Diktatur in Polen wollten „Versöhnungsarbeit“, „anteilnehmendes Verstehen, und Solidarität“ außerhalb ihres eigenen Aktionsradius dulden. Mehlhorns Occupy war wirksam. Mehr als nur interessant und wieder einmal auf heute verweisend ist, dass „das Verlassen der verordneten Sprache eine befreiende Wirkung“ hat. Darüber hinaus erzählt Mehlhorn in einer unaufgeregten Präzision, wie sie moderner nicht sein kann. Der DDR-Staat reagierte weniger verzückt. Gegen die populäre Streikbewegung „Solidarność“ reagiert die Staatsmacht Polens im Dezember 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts. Die DDR verhängt in Richtung Polen eine „totale Ausreisesperre“ (S. 164). Das ist üblich so in geschlossenen Systemen. Die Occupy-Bewegung von heute zeigt auch den Wert der bürgerlichen Freiheiten in einer Offenen Gesellschaft, auch wenn manche schon wieder die Freiheit ankotzt (Makabrer Werbespot, vom Rezensenten frei erfunden: Freiheit oder Job auf Lebenszeit? Wählen sie Diktatur – jetzt). Die Verhinderung des gegenseitigen Anteilnehmens „entfremdet“. Auch das erlebte Mehlhorn. Auch das erkannte Mehlhorn. Und auch hier hilft das Lesen. Was durch Grenzen von dir abgeschlossen wird, kommt in Form der Bücher als „freie Öffentlichkeit“ (S. 165) zur dir. Entfremdung bedeutet das Auseinandergehen der „Schere der sozialen Erfahrung“. Mehlhorn bringt uns solche starken Erkenntnisse nahe, zeigt, dass es immer auch um die „Brücken in die Zeit danach“ geht. Die Zeit danach war die Zeit nach den letzten europäischen Diktaturen. Die hatten sich spätestens 1989 erledigt. Lange vierundvierzig Jahre nach Hitler konnte sich Verfolgung und Unterdrückung weiterhin austoben. Fragt sich, warum die schlimmen Zeiten so lange dauern, wenn sie doch so banal, sind, wie Hannah Arendt konstatiert hatte. Nun mag das Böse banal sein, die Folgen des Bösen sind es nicht. Mehlhorn schrieb: „Die kommunistischen Parteidiktaturen gründen ihre Macht auf die Usurpation des Staates und die Unterwerfung der Gesellschaft. Durch die Verstaatlichung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – Wirtschaft, Justiz, Bildung, Information u.s.w.- wurde der Bürger seiner individuellen und politischen Freiheitsrechte beraubt und die natürliche Pluralität der Gesellschaft abgeschafft…“ (S. 242). Das endlich ist weitergedachter Marx. Das ist Mehlhorn modern. Und das auch in der edlen Maske des Occupy-Musketiers.
„In der Wahrheit leben“. Texte von und über Ludwig Mehlhorn. Herausgegeben von Stephan Bickhardt, 264 Seiten, Taschenbuch. Erschienen in der „Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen“. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig.
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