Rüdiger Safranski im Gespräch mit Hans-Martin Esser: Über die Kunst des Privatlebens und über Gutes und Böses

Rüdiger Safranski Foto: Stefan Groß

„Es gibt eine große Tradition der politischen Apokalyptik in Deutschland, die Politik der Erlösung. So etwas hat es in den 1920er Jahren gegeben. Es war übrigens dies eine Voraussetzung, warum die Nazis bei Intellektuellen Erfolg hatten. Die stellten sich als halbreligiöse Einrichtung zur Rettung der Menschheit dar.“

„Als politische Kultur war Deutschland da nicht begabt, jedenfalls galt das für lange Zeit, bis zum Nationalsozialismus und darüber hinaus. Diese Art von Deformation des politischen Diskurses zeigt sich sehr stark in dieser ökologischen Weltrettungsdebatte.“

Sehr geehrter Herr Professor Safranski, Sie sind Philosoph und Biograph und als solcher Goethe-Experte. Stellen wir uns für einen Moment vor, Goethe lebte heute und wäre Leiter eines der Goethe-Institute. Ist das denkbar? Würde er ein solches Angebot überhaupt annehmen, Goethe-Institutsleiter zu werden?

Also Goethe selbst in seinem Leben war in seinen späteren Jahren fast schon so etwas wie eine Institution. Der große Arnold Gehlen sagte mal sehr geistvoll, Goethe war eine Institution in einer Person. Was er damit meinte, war etwas, das Goethe in seinen späteren Jahren selbst auch auffiel. Er sagte nämlich, er sei eine Vielfalt von Personen, sinngemäß: „Ich habe so viele Metamorphosen durchlebt, auch gleichzeitig so viele Dinge gemacht, dass ich mehr bin als eine Person. Ich bin ein Bündel von Personen“. Da ist etwas dran. Insofern ist es nicht unpassend, dass wir ausgerechnet Goethe-Institute haben. Es passt schon auch zu Goethe. Goethe hätte so etwas gewiss nicht abgelehnt.

Meine Frage zielte in eine gewisse Richtung. So merke ich, dass besonders Goethe, aber auch Luther anlässlich seines Jubiläums 2017, hergenommen werden, um als Vehikel von Zeitgeistthemen zu dienen. Die Frage, was Goethe oder Luther heute meinen möchten usw. So wird der west-östliche Divan bemüht, um heutige Fragen zu beantworten, ob Kulturen Gemeinsamkeiten haben. Dabei gibt es auch immer eine gewisse Stoßrichtung dessen, was als erwünscht angesehen wird, in den Goethe-Instituten, wie ich es zumindest sehe. Junge Buchautoren haben insofern eine Ahnung, was sie publizieren oder meinen sollten, um weiterhin vom Goethe-Institut als relevant und der Einladung würdig angesehen zu werden. Ist an dieser Beobachtung vielleicht etwas dran, dass man den Namen Goethe bisweilen verwendet, um damit im Grunde politisch wünschenswerte Diskurse zu leiten, vielleicht gerade, weil Goethe so vielfältig ist und im Grunde jedem Zeitgeist Futter liefert?

Also, ich muss sagen, wenn ich aus meinen eigenen Erfahrungen mit dem Goetheinstitut spreche, da meine Bücher besonders auch in Südamerika, also der spanisch sprechenden Welt sehr viel gelesen werden, noch stärker als in der englisch sprechenden, ist das positiv. Da war ich deshalb besonders mit dem Goethe-Institut viel in Südamerika unterwegs. In allen größeren Städten, insgesamt acht bis neun Mal in Südamerika. Meine Erfahrungen sind, dass die Goethe-Institute doch schon eine recht eindrucksvolle Rolle spielen. Das beginnt damit, dass zum Beispiel in Chile das Goethe-Institut zur Zeit der Diktatur ein Schlupfloch, ein Asyl, war für oppositionelle Kräfte, die es unter Pinochet schwer hatten. In Buenos Aires war es ganz ähnlich. Es wurde da ganz löbliche Arbeit geleistet. Also, das ist großartig. Das Zweite ist, dass Goethe-Institute ein Gespür dafür haben, was kulturelle Themen sind, die aus Deutschland kommen und für diese Länder auch besonders interessant sein könnten. Nehmen wir das Beispiel Romantik – eine deutsche Affäre. Ein Goethe-Institutsmitarbeiter merkt natürlich, dass dieses Buch auch etwas fürs Ausland wäre. Gerade mit dem Buch war ich viel unterwegs, um dann eben zu bemerken, dass deutsche Kultur aus dem heraus definiert wird, was in Deutschland selbst fast schon ein bisschen anrüchig ist, zum Beispiel Romantik, das Dunkle, das Phantastische, will sagen, Habermas ist vielleicht großartig, mag sein, aber vom Ausland gesehen eigentlich kein typisch deutsches Phänomen, da sind eigentlich Heidegger und Nietzsche sowie Schopenhauer interessanter. Die verkörpern eher das spezifisch Deutsche, mit dem es im Lande ein Problem gibt. Die Goethe-Institute haben schon bemerkt, dass es ein Thema ist. Gerade in Südamerika, Russland und China war ich damit unterwegs. Das Dritte ist, dass ich zum Teil erschrocken war über die defensive Haltung bezüglich der eigenen Sprache. Es gab eine Zeit, in der in Goethe-Instituten zum Teil Englisch gesprochen wurde. Das geht natürlich nicht. Da muss gerade das Goethe Institut etwas für die Wissenschaftssprache Deutsch tun, mit aller Zähigkeit. Da fehlte es manchmal. Ich hatte aber den Eindruck, dass man da auch ein bisschen zurückgekommen ist auf den ursprünglichen Auftrag. Die Hauptsache ist es in Goethe-Instituten, Sprachkurse zu erteilen. Das tun sie sehr gut. Zum Teil gab es in spanischen Goethe-Instituten einen Konflikt. Vor fünf bis sechs Jahren waren die Deutschkurse überlaufen. Es gab also Bedenken, nicht zu viele abzuwerben, weil sie ja im Lande gebraucht werden. Es sind da bisweilen politische Differenzen. Um jetzt auf Ihren Punkt einzugehen, die Zeitgeistanfälligkeit. Natürlich – das ist da. Man greift Themen auf, die in der Luft liegen. Aber man muss sagen, dass sie mit ortsansässigen Institutionen kooperieren. Sie machen nie Sachen ganz allein, sondern versuchen immer, Partner im Land zu binden. Da ist man natürlich auch auf die vor Ort vorhandenen Partner angewiesen. Ich will da gar nicht klagen, bin froh, dass es die Goethe-Institute gibt. Ich würde mir wünschen einen stärkeren Offensivgeist bezüglich der Tradition, nicht nur das ganz Aktuelle in der Kultur, sondern auch auf die Tradition, auf die wir in Deutschland aufbauen.

Sie erwähnten ja die Problematik des Romantikbegriffes. Vor zwei Jahren gab es eine Debatte um Simon Strauß, den Sohn von Botho Strauß. Er hatte einen kurzen Roman (Anm.: Sieben Nächte, Verlag Blumenbar) angefertigt. Man hatte ihm gegenüber einen Vorwurfs-Gestus, dass er Neu-Romantiker sei. Ist es das, was Sie meinten?

Das ist der zentrale Punkt, über den wir immer noch eine Auseinandersetzung führen müssen. Ich bin 68er. Meine Generation hat an den Universitäten mitzuverantworten, was die jetzigen Lehrer so vermitteln. Und da muss man sagen, dass die Impulse von der Spät-68er-Zeit in Bezug auf deutsche Literatur und Kultur fatal waren in der Konsequenz. Das muss man schlankweg sagen.

Inwieweit?

Insofern, dass es unter den heutigen Lehrerinnen und Lehrern ziemlich viele gibt, die bei Romantik gleich den Faschismusverdacht haben. Deswegen ist es in das Alltagsbewusstsein der Allgemeinbildung eingegangen dieses törichte Vorurteil, Romantik sei gefährlicher Irrationalismus und dergleichen. Der Nationalsozialismus wirkt immer noch, und nach 1968 noch verstärkt, als Feuerwand, was davor liegt steht unter Verdacht. Also ein Traditionsbruch.

Ist diese Maßlosigkeit im Urteil derjenigen, die über die Romantik dermaßen urteilen, nicht auch selbst romantisch? Ist jemand, der so maßlos argumentiert, nicht selbst Romantiker, indem er überschwänglich ist?

Naja, ich würde sagen, dass es auch eine Überschwänglichkeit im Bornierten gibt. Die romantische Haltung, ist speziell. Wenn der Begriff nicht ganz zerfließen soll, sollte man ihn so , wie in der Hochzeit der Romantik um 1800 er von solchen Autoren wie Novalis gebraucht wurden, verwenden. Da verstand man das Romantische als Versuch, in der Wirklichkeit das Geheimnis wiederzuentdecken. Im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche, der Entzauberung den Zauber zurückzugeben. Das ist das Romantische. Es hat Gewicht. So habe ich es in meinem Buch beschrieben. Die Romantik als historische Romantik ist die Fortsetzung der geschwächten Religion mit ästhetischen Mitteln, die Rückgewinnung von so etwas wie Transzendenz in einer säkularisierten Epoche. Deswegen war es um 1800 ein Geniestreich. Wir sind einerseits in der Zeit der Aufklärung, zugleich sind wir in einer revolutionären Zeit. Und diese Revolution in Frankreich wirkt in Deutschland als Ermunterung an das schöpferische Ich, die Wirklichkeit mindestens in der Wahrnehmung zu revolutionieren, das heißt, in ihr die Ambivalenz und Komplexität zu entdecken. Es gibt so etwas wie die revolutionäre Romantik, wo die Wirklichkeit wenigstens in der Wahrnehmung verändert wurde, weil damals in Deutschland praktisch nicht viel zu machen war. Romantik ist eine Art Protest gegen einen verflachenden eindimensionalen Pragmatismus und Rationalismus.

Zu der Zeit war ja auch die industrielle Revolution im Anflug. Alles wurde sozusagen standardisiert – Produkte, Prozesse, Arbeitstage. Möglicherweise ist es kein Wunder, dass gerade hier die Romantik als Gegenbewegung auftaucht.

Damals war es noch nicht so ganz weit mit der industriellen Entwicklung, sie war zu erahnen, in England aber schon im Gange. Umso interessanter sind die Antizipationskräfte in der Romantik, man ahnte, was da auf die Menschen zukam. Es gibt von Novalis und von Eichendorff und Schelling wunderbare Passagen, wo sie die Verrechnung des Wirklichen, die Ökonomisierung und Instrumentalisierung, bei der nur noch nach dem Nutzen gefragt wird, schon thematisierten. Dass die Natur eben nicht nur ein Objekt unserer Ausbeutung sein darf, sondern dass wir gewissermaßen ein dialogisches Verhältnis – bei Novalis ein geradezu erotisches Verhältnis – zur Natur haben, auch zur inneren Natur, was Adorno später so interessierte. Die Romantik antizipiert schon sehr viel. Ein Jahrhundert später, wenn wir das Jahr 1900 schreiben, und in Deutschland die industrielle Entwicklung ja mächtig eingesetzt hatte, die ökonomische Durchherrschung des gesamten Gesellschaftskörpers weit fortgeschritten war, da ist es dann auch nicht zufällig, dass es eine neoromantische Bewegung gibt, Jugendstil und so weiter, die versuchte, die Alternative wieder stark zu machen. Ziel war, die Überwindung des Ökonomismus. Das Leben ist mehr als der ökonomische Nutzen, hieß es. Wenn man über deutsche Romantik spricht, sollte man über zwei Aspekte reden. Einerseits die Epoche um 1800, wo der romantische Geist seine klassische Vollendung gefunden hat, und das Romantische als Haltung und Protest gegen eine zu enge Modernisierung und als Suche nach Alternativen. Das Romantische als Haltung ist nicht beschränkt auf die Romantik als Epoche.

Jetzt ein thematischer Schnitt. Eine Freundin ermutigte mich, in einem Gespräch mit Ihnen unbedingt den Begriff des Bösen, den Sie philosophisch analysiert hatten, anzusprechen. Nun hatte ich mich durch mein Nebenfachstudium der Politikwissenschaft während der Jahrtausendwende intensiv mit der Rhetorik des damaligen US-Präsidenten George W. Bush beschäftigt. Der Begriff evil (das Böse) spielt ja seither eine zunehmende Rolle im Politikbetrieb. Anfangs hatte man es im politischen Raum als kindisch belacht, wenn man von „Achse des Bösen“ sprach. Nun jedoch hat es in den vergangen 15 Jahren Konjunktur. Auch Greta Thunberg, die Klimaaktivistin, verwendet diesen Begriff regelmäßig. Die Aufteilung des politischen Raumes in zwei Lager ist länderübergreifend Struktur und Problem geworden. Hat das von Ihnen philosophisch Böse irgendeine Verbindung zum politisch-rhetorischen Figur des Bösen?

Die Unterscheidung „gut“ und „böse“ gehört zur Grundausstattung der Trennungen. Man benötigt also keinen entfalteten Begriff vom Bösen, um diese Trennung vollziehen zu können. Das ist geradezu Alltagssprache. Diese Einteilung ist da, sie ist im politischen Raum mächtig. Wenn man aber über das Böse nachdenkt, gerät man in eine andere Dimension. Dazu komme ich gleich. Zunächst aber zur politisch gut einteilbaren Kategorie. Da sollte man im Hinterkopf behalten, dass wir zur Zeit der Ost-West-Spaltung eine ganz übersichtliche Einteilung hatten. Das Böse war also damals Stalinismus, Kommunismus, vorher war es ja Nationalsozialismus. Durch die Ost-West-Spaltung hatte man ein einfaches Bild von „gut“ und „böse“. Es war eine übersichtliche Weltlage. Dann bricht der Ostblock zusammen. Was geschieht nun mit den Energien, die Welt in gut und böse aufzuteilen? Die docken jetzt an anderen Themen an, weil man die Übersichtlichkeit benötigt. In aktuellerer Zeit sind die Bösen die sogenannten Klimaleugner, die skeptisch sind. Dann wird natürlich auch klar, wer die Guten sind. Diese Einteilung in gut und böse wird ja gern vollzogen, um den Mehrwert des Gutseins einzustreichen. Dann gibt es die Willkommenskultur. Wer skeptisch ist, ist der Böse. Einfach die Grenze zu öffnen, ist ja an sich keine moralische Tat. Wenn man möglicherweise das eigene Gemeinwesen damit ruiniert, ist das nicht unbedingt ein moralischer Gewinn. Es ist ja alles immer ganz schön fragwürdig. Gut und böse ist auch so ein Thema bei der EU-Debatte. Gut ist, wer den Brüssel-Kurs unterstützt, böse der andere. Gut ist, wer den Bundesstaat Europa anstrebt, böse, wer dies nicht tut. Das ist auffällig. Die Energien der Feinderklärung aus dem Ost-West-Gegensatz, haben sich auf andere Themen übertragen. In einer insgesamt unübersichtlichen Situation macht man sein Geschäft mit der Gut-Böse-Einteilung in diesem Sinne, wie ich es gerade kurz skizziert hatte. Das ist ein Problem. Es handelt sich – Luhmann hätte es so genannt – um eine dramatische Reduktion der Komplexität. Weil man es mit der Vieldeutigkeit und der Komplexität nicht so recht aushält, muss man die Welt natürlich übersichtlich machen. Das gelingt nur durch eine dramatische Unterbietung der Komplexität.

Bis zum 11.September 2001 und dem Begriff von George W. Bush war die Welt eher in Kategorien von „richtig“ und „falsch“ und nicht „gut“ und „böse“ eingeteilt. Heute erscheint es wie eine Karikatur.

Sie haben recht. Und man merkt an den Problemfeldern, wie befreiend es für Diskursfelder wäre, wenn man statt gut und böse stattdessen richtig und falsch sagte. Das ist wirklich ein Problem, dass die Moralisierung den Diskurs lähmt. Es wäre fast wie eine Utopie des gelingenden Diskurses, wieder auf die Unterscheidung in richtig und falsch zurückzukommen. Das wäre ein großes Ziel. Sie hatten die Banalisierung des Begriffes des Bösen angedeutet, was wir gerade vertieft hatten. Ich will nun ein paar Begriffe zum philosophischen Begriff des Bösen erläutern. Mit säkularen Mitteln will ich daran erinnern, worum es eigentlich geht, nämlich um die Sündhaftigkeit des Menschen. Das gehört zum Genie des Christentums gewesen, das Bewusstsein dafür geweckt zu haben, dass die Sünde eine elementare Tatsache ist, dass wir als freie Wesen Optionen ins Negative haben. Das ist das Interessante. Wir sind für uns selbst ein Risikofall, indem wir uns auch selbst vernichten können. Ganze Populationen können andere vernichten. Mit der Atomwaffe umso mehr. Wir tun gut daran, an die alte Einsicht, an das Gefährdet-Sein des Menschen durch sich selbst, zu erinnern. Bei einer solchen Fragestellung taucht das Böse auf. Dabei bemerkt man auch die Verflachung des aktuellen Diskurses. Da kommen die Psychologen und reden vom Destruktionstrieb und von schlechter Kindheit. Das ist Rousseauismus: Eigentlich wäre ja der Mensch gut. Die Gesellschaft macht ihn schlecht. Also bauen wir die Gesellschaft um, damit die Güte des Menschen zum Vorschein kommt. Das ist die rousseauistische Option. Davon sind wir jetzt sehr geprägt, von dieser verharmlosenden Sicht auf den Menschen. Ein bisschen mehr Hobbes wäre eigentlich ganz gut. Das war immer die Alternative. Hobbes oder Rousseau. Hobbes gemäß ist der Mensch ja dem Menschen ein Wolf. Deshalb braucht er die Ordnung, die Institution, Formen und Disziplin. Das alles braucht er, um nicht an sich selbst zugrunde zu gehen. Das ist immer noch mein Thema beim Bösen. Wir müssen wegkommen von der rousseauistischen Option und etwas mehr Hobbes in unser Denken implementieren.

Sie gelten als Philosoph, Essayist und Biograph. Ist eine Biographie eher etwas Literarisches oder Kulturphilosophisches?

Biographie ist schon eine literarische Form. Ich will jetzt keine Geschichte der Biographie referieren. Man kann an Plutarch erinnern. Das ist vielleicht der Ahnherr des biographischen Schreibens. Das waren Biographien, die noch ganz vom Vorbild oder Schreckbild handelten. Dies ist in Spurenelementen noch vorhanden, was gut so ist. Aber Biographie ist vielmehr als nur Vorbilder und Schreckbilder zu präsentieren. In der biographischen Form selbst steckt ein gewisser Protest gegen die Sichtweise, Prozesse würden allein durch Strukturen vollzogen, seien es anonyme historische Gesetze oder materialistisch-evolutive Gesetze. Also, Biographie ist in sich selbst ein Protest gegen das Abräumen von Subjektivität in einem mächtigen Sinne. Ich weiß noch, als ich mein erstes Buch über E.T.A. Hoffmann schrieb, noch im Kontext der Germanistik damals….

…Anfang/Mitte der 1980er Jahre war das.

Anfang der 80er war es. Da war Biographie an und für sich etwas fürs Populäre, aber nicht für die ernsthafte Beschäftigung mit Literatur. Denn da obsiegte der Strukturalismus, besonders Michel Foucaults These vom Verschwindens des Autors. Da merkt man, dass allein schon im Biographischen ein Protest gegen diese Sichtweise steckt. Der Einzelne wird wieder wichtig genommen, auf ihn kommt es an. . Als Joachim Fest damals seine Hitler-Biographie schrieb, war das natürlich auch ein Stück Protest gegen die damalige historische Forschung, die immer mehr auf anonyme Prozesse abgestellt hat, nicht so sehr auf Täter. Mit Fests Hitler-Biographie ggeriet ein Täter ins Fadenkreuz der Aufmerksamkeit, natürlich läuft dabei unterschwellig die These mit, auch Menschen machen Geschichte, manchmal sogar einzelne Menschen. So etwas würde man ja auch bei Napoleon nie ableugnen. Es ist übrigens kein Zufall, dass gerade in napoleonischer Zeit der deutsche Idealismus mit Fichte auf die Idee kam, dass das Ich als die absolut mächtige Instanz anzusehen ist. Im Hintergrund hatten sie nämlich das Super-Ich Napoleon. Der hatte ihnen vorgemacht, dass in manchen Konstellationen ein selbstbewusstes Ich eine ganze Weltkarte verändern kann. Ohne Napoleon hätte es den Deutschen Idealismus nicht gegeben. Kurzum, Biographie entspringt einer elementaren Intuition.. Es mag allgemeine Verhältnisse geben, aber eine Person kann dennoch eine große Rolle spielen.

Da möchte ich zwei Anmerkungen machen. In meinem Buch (Anm.: Die große Klammer – eine Theorie der Normalität, Kulturverlag Kadmos) nenne ich diesen also Paradigmatiker (in Anlehnung an Thomas Kuhn), denjenigen nämlich, der ein Paradigma ändert, das bisher Normale zum Tanzen bringt. Er steht in Rückkopplung mit denjenigen, die ihn tragen, sich mitreißen und ihn später vielleicht fallen lassen, Mit dem Umfeld also interagiert er. Als Ökonom könnte ich ja demgemäß sagen, dass es Aktion und Umfeld gibt, gemäß dem Gebet „Herr, hilf mir zu ändern, was ich ändern kann (gemeint ist der aktive Mensch, der Paradigmatiker) und hinzunehmen, was ich nicht ändern kann (die äußeren Umstände) und zwischen beiden Fällen zu unterscheiden.“ Könnte man dementsprechend sagen, dass der Biograph etwas genuin Westliches ist? Wer ist es schon wert, eine Büste oder eine Biographie gewidmet zu bekommen? Diejenigen, die heraustreten, die Paradigmatiker eben. Ist das ein westliches Konzept?

Es ist nicht ganz abwegig, das so zu sehen, aus einer gehörigen Distanz. Wenn man es auf eine kurze Formel bringen will, was der Geist Europas ist, dann wäre meine Antwort schon die Entdeckung des Individuums. Die Bedeutungssteigerung des Individuums steckt schon im Christentum. Es ist ja ein bemerkenswerter Umstand, dass das Christentum einen Gott herausgebildet hat, der die Menschen mit „Du“ anredet. Hoppla. Das ist die Bedeutung des Individuums und deswegen auch die Vielfalt der politischen Szenen in Europa. Deshalb ist es ja so wichtig, das zu bewahren und es eben nicht herunterzubügeln. Da liegt ein besonderer Wertakzent drin. Dies spiegelt sich auch in der Form der Biographie wider. Wie man im Wissenschaftsbetrieb darüber auch denken mag – als populäre Form fürs Publikum ist sie nie untergegangen. Man könnte sagen:Biographie ist das individualisierte Allgemeine. Das Individuum ist die Verdichtung allgemeiner Strukturen, es spiegelt sie wieder und antwortet darauf. Für mich ist derjenige, der das eindringlich formuliert hat, Jean Paul Sartre mit seinem grandiosen, 3000 Seiten umfassenden Buch über Flaubert, wo er den ehrgeizigen Versuch unternommen hatte, in dieser Figur die Verinnerlichung einer ganzen Struktur und ihre Veräußerlichung im Werk darzustellen. Das Individuum als Durchlauferhitzer globaler Mächte, die aber eine individuelle Form bekommen. Da ist was dran. Ich erwarte das von Biographien. Wir werden dort vertraut mit den Lebensentwürfen und den Dramen einer Person, wir werden aber auch vertraut mit dem Handgemenge überindividueller Mächte, die zurückgewiesen oder anverwandelt werden oder unter denen man zusammenbricht. Das sind eigentlich die Geschichten, die Biographien erzählen.

Wäre es mit der Heiligenverehrung in der katholischen Kirche vergleichbar. Sie, die Heiligen, haben ja die Funktion eines pars pro toto einer Tugend. Katharina steht wie Sebastian für Duldsamkeit, Georg für Ritterlichkeit, Josef für Gleichmut usw. Wären Heilige dann auch Frühformen der Heldenbüsten oder Entwürfe, die es wert sind, in Form einer Biographie skizziert zu werden? Wäre das übertrieben?

Nein. Sie heben den alten, traditionellen Aspekt, dass eine Person repräsentiert oder symbolisiert, hervor. Eine gewisse Totalität, eine Ganzheit, die sich im Einzelnen zeigt. Es ist altes Denken, das ernst zu machen versucht damit, dass etwas Überindividuelles im Individuum konzentriert dastehen kann. Das sagt sich so leicht. Es ist aber nicht so selbstverständlich. Es setzt eine ganze Tradition voraus. Nicht zufällig ist das Christentum eine Verkörperungsreligion. Aus Gott ist ein Individuum geworden: Jesus als der Christus. Da haben wir das Drama der Individualisierung in der höchsten Form. Gott ist nicht das Allgemeine, der allgemeine Geist oder wie bei Spinoza die allgemeine Substanz, sondern eine einzelne Person, in der sich das verkörpert. Das ist natürlich eine Absurdität.Sie kann nur geglaubt werden. Als eine solche Absurdität wurde sie schon in der frühen Zeit bei den Gegnern des Christentums auch empfunden. Gleichwohl, die ungeheure Bedeutungssteigerung des Individuums steckt im Verkörperungsgedanken des Christentums. Deswegen tun wir gut daran, an dieser Individualisierung festzuhalten.

Jetzt zu einer – polemisch ausgedrückt – modernen Heiligenfigur. Sie waren 2014 im Rahmen der Phil Cologne in Köln, diskutierten zum Thema Heidegger. Er war ja Naturfreund und Wanderer. Hätte Heidegger Begeisterung an der heutigen Ökobewegung? Eine moderne Heilige ist ja Greta Thunberg. Hätte Heidegger Freude an ihr?

Naja, es gibt auf den ersten Blick gesehen, in seinem späten Denken frappierende Übereinstimmungen mit dem ökologischen Denken, ganz eindeutig. Eine bei Heidegger vorhandene Naturfrömmigkeit. Der frühe Heidegger war Existenzialist, um es einfach zu sagen. Bei ihm geht es stets darum herauszufinden, wo es die Intensität des Seins zu erfahren ist. Der frühe Heidegger als Existenzialist argumentierte: „Tu, was Du willst, aber das mit ganzer Entschiedenheit“. Vor 1933 hätte es da keine eindeutige Anweisung ergeben durch diesen Satz – sollte man in die SA oder in den Widerstand? Was meinte Heidegger mit diesem Satz denn? Er meint: es kommt nicht auf das Was an sondern allein auf das Wie: eigentlich oder uneigentlich. Dieser Ansatz, Seins-Intensität durch Aktivismus ist also der frühe Heidegger. Der späte Heidegger ist das Pastorale. Nicht mehr das Tun, sondern das Lassen, das Gewähren-Lassen, das Sich-Einbetten in die Kreisläufe. Alles in allem ein ländlich pastorales ein seinsfrommes Denken. Da gibt es eine Berührung mit den Grünen. Die Grünen, wie sie jetzt dastehen sind eine Mischung: das ökologische Denken von Herbert Gruhl mit seinem Buch Ein Planet wird geplündert einerseits. Er kommt von der konservativen CDU. Gruhl hat den späten Heidegger zitiert. Aber zahlreiche Gründungsfiguren der Grünen kommen eigentlich andererseits aus dem Laden, in dem ich in den 1970er Jahren auch war, nämlich aus den K-Gruppen, diesen zumeist maoistischen Sekten. Bis 1974 war ich da unterwegs. Viele meiner damaligen Genossinnen und Genossen haben dann die Grünen mit aufgebaut. Viele haben sich verändert, so auch Trittin, der in Norddeutschland beim kommunistischen Bund war. Also, deshalb sind die Grünen voller linker und linksdogmatischer Züge. Das passt nun gar nicht zum seinsfrommen Heidegger. Eine zweite Sache ist da noch wichtig. Es ist das Apokalyptische. Also, es ist mit Händen zu greifen, nachdem wir vorhin über Moralisieren sprachen, dass wir bei den Grünen von einer Art innerweltlichen Religiosität sprechen müssen , die dort jetzt Platz greift, in einer Situation der Schwäche der herkömmlichen Religion. Die Esoterik gedeiht -– über heiße Asche in der Toskana gehen und so fort. Manche sitzen in ihren religiösen Hobbykeller und bastelt sich da etwas zusammen. Aber als mächtige Institution verschwindet das Christentum fast, oder wie man es bei den Protestanten sieht, wechseln sie ganz in das Lager der ökologischen Weltrettung hinüber. Auffällig ist, dass diese krypto-religiöse Apokalyptik doch mehr eine deutsche Spezialität ist. Das ist in Frankreich nicht so, schon gar nicht in England. Wir sprachen bereits über die deutsche romantische Tradition. Es gibt eine große Tradition der politischen Apokalyptik in Deutschland, die Politik der Erlösung. So etwas hat es in den 1920er Jahren gegeben. Es war übrigens dies eine Voraussetzung, warum die Nazis bei Intellektuellen Erfolg hatten. Die stellten sich als halbreligiöse Einrichtung zur Rettung der Menschheit dar, vor dem Hintergrund des drohenden Untergangs. Dieser Messianismus und diese Apokalyptik sind Elemente, die in der deutschen politischen Kultur immer ziemlich stark gewesen sind. Das hängt natürlich damit zusammen, wenn man in die geschichtliche Tiefe geht, dass der der herrschende Diskurs in Deutschland so wenig pragmatisch war. Ich nehme zum Vergleich gerne den herkömmlichen Fotoapparat. Dort gibt es ein Objektiv für die Ferne, eines für das ganz Nahe, dann eines für die mittlere Distanz. So war der politische Diskurs in Deutschland schon im 19. Jahrhundert, aber auch im 20. Jahrhundert großartig phantasievoll für die Ferne. Wenn es darum ging, Geschichtsphilosophien im großen Maßstab zu entwickeln. Dann hatten die deutschen Intellektuellen ein Objektiv für das ganz Nahe. Der freudsche Blick in die eigenen Abgründe, ganz aus der Nähe ganz in die Tiefe, auch großartig im einzelnen. Aber für die mittlere Distanz, dort, wo pragmatische Vernunft eine Rolle spielt und eben „richtig und falsch“ statt „böse und gut“ eine Rolle spielt, da war das deutsche Sensorium unterentwickelt. Der politische Diskurs in Deutschland war dafür nicht sonderlich begebt, das Objektiv für die mittlere Distanz fehlte, jedenfalls galt das für lange Zeit, bis zum Nationalsozialismus und darüber hinaus. Dieses Defizit bei der pragmatischen Vernunft zeigt sich jetzt wieder sehr stark in dieser ökologischen Weltrettungsdebatte. Greta als eine Johanna von Orléans der Klimarettung passt dazu. Die Wochenzeitung DIE ZEIT hat ihr auf den Knien ihres Herzens gehuldigt.

Meine Beobachtung als Ökonom ist die, dass diese Fridays for future Bewegung mit Greta Thunberg durchweg wie Controller mit Kennzahlen argumentieren. Soll-Ist-Abgleiche wie in der BWL der 1990er Jahre. Man fühlt sich dort an die Bereiche Innenrevision und Controlling erinnert, wie sie redet. Es ist das Gegenteil der Verzauberung durch die Natur wie in der Romantik, es ist der Sieg des Metrischen. 1,5-Grad-Ziele, Giga-Tonnen CO2, Deadlines, Maßband, Countdown mit Stoppuhr bis 2030. Alles Begriffe, wie sie sich ein Werksleiter mit BWL-Ausbildung zur Erklärung der Umgebung heranzöge. Fridays for Future als Religion mit Mitteln des Neoliberalismus sozusagen. Gerade in diesem politischen Spektrum, dem Grünen, hat das Metrische seinen größten Triumph. Besonders, weil unbewusst metrisch argumentiert wird, ist das Statistische also endgültig Kulturgut geworden, ausgerechnet im Milieu der Anhänger der Frankfurter Schule. Nicht zuletzt durch Greta Thunberg, getragen von einer Jugend, die mit Smartphones und Algorithmen groß geworden ist.

Ich denke, das ist eine gute Beobachtung. Es steckt in all dieser Apokalyptik und all dieser Moralisierung eine eigenartige Form von technischem Mittelpunktsbewusstsein. Als könne man mit dem Weltklima wie mit einem Thermostat umgehen, man einigt sich auf 1,5 Grad, höchstens auf 2 Grad, so, als könnten wir da etwas ausrichten. Es ist eine Hypertrophie des Macherbewusstseins, des Ingenieurbewusstseins. Sie sagen neoliberale Denkweise. Ja, es hat etwas davon. Es ist jedenfalls ein Ausdruck von hoffnungsloser Selbstüberschätzung, man könnte sogar auf den Gedanken kommen, dass die bisweilen hysterische Beschwörung des Selbstgemachten bei der Klimaveränderung sich einer Verdrängung verdankt. Man wagt nicht den Gedanken zu denken, dass unser Planet und wir Erdenwürmer darauf ein Spielball ungeheurer kosmischer Mächte sind. Wir sind Stabilitätsnarren. Dabei wurde schon Newton von der beunruhigenden Vorstellung gepeinigt, dass es mit dem wohlgeordneten Kosmos vielleicht doch nicht so weit her ist. Der Blick auf die Erdgeschichte lehrt uns, welche Kataklysmen und Katastrophen hier eine Rolle gespielt haben. Wer weiß, vielleicht sind wir mitten in einer solchen ungeheuren meterologischen Veränderung und beruhigen uns mit dem tröstlichen Glauben, wir hätten sie allein verursacht. Gleichwohl, da es immer gut ist, noch ein Apfelbäumchen zu pflanzen, fände ich es gut, wenn z.B. die CO2-Steuer eingeführt würde. Man muss etwas tun, aber die begleitenden Vorstellungen, seien wir ehrlich, verdanken sich einer maßlosen Vereinfachung von Komplexität und sie nimmt schon fast wieder religiöse Formen an: wir haben gesündigt, das CO2 ist des Teufels , tut Buße und zahlt den Ablass. Es gilt eben doch: Wer nicht an Gott glaubt, glaubt nicht etwa an nichts, sondern an alles mögliche….

Wir sind hier in Badenweiler. Das ist ein Ort, fernab der großen Städte. Muss man es sich als Intellektueller leisten können, nicht in Berlin wohnen zu müssen? Ist es ein Privileg?

Ja, doch, ich empfinde es als Privileg, wie es überhaupt ganz neue Arten von Privilegien gibt. Zum Beispiel nicht sich gezwungen fühlen, an den Twitter- und in den Facebook-Netzen zu hängen und seine kostbare Lebenszeit zu verplappern. Hier in der Provinz zu leben und nicht nur in der Stadt, ist gewiss auch ein Privileg. In mehr als einer Welt leben zu können, ist ein Privileg. Deswegen haben wir auch noch eine Wohnung in Berlin. Wenn mich die Sehnsucht nach den Stadtneurotikern treibt, fahren wir nach Berlin. Das ist eine Weile lang auch schön. Es ist aber gut, wenn man einen Rückzugsort hat. Privilegien werden neu definiert werden. Ein Privileg ist es, wenn der Zwischenraum zu dem lieben Nachbarn größer ist. Die Nicht-Erreichbarkeit ist ein Privileg, die Stille ist ein Privileg. Ein Luxus ist es, sich in ein Buch vertiefen zu können, ohne Werbeunterbrechung. Überhaupt etwas tun können, ohne zu unterbrechen oder unterbrochen zu werden. In Badenweiler sein zu dürfen, ist auch ein Privileg. So empfinde ich das.

Erlauben Sie eine letzte Frage. Welches Buchprojekt würde Sie noch reizen?

Ich bin jetzt dabei, mein Hölderlin-Buch herauszubringen. Das erscheint Ende Oktober, eine Biographie. Es heißt im Untertitel: „Komm ins Offene, Freund.“. Dies ist eine Gedichtzeile von Hölderlin. Da setze ich meine biographischen Arbeiten mit dieser Zeit fort. Gleichzeitig wird auch ein Gesprächsbuch erscheinen, das Michael Krüger, mein ehemaliger Verleger, und Martin Meyer, lange Zeit im Feuilletonchef der NZZ, mit mir führten. Das also ist bereits fertig. Noch nicht fertig bin ich mit einem Projekt, das mein Globalisierungsbuch fortschreibt, unter dem Titel „Der Einzelne“. Das ist das Thema, welches wir hier in unserem Gespräch bereits berührt haben. Es geht um die Schwierigkeit, die Aufgabe und das Abenteuer, ein Einzelner zu sein und das auch ernst zu nehmen. Neo-Existentialismus also, wo alles von Vernetzung schwafelt und die Statistik und die Algorithmen die neue Transzendenz darstellen. Ein wenig knüpfe ich auch an Heideggers treffende Bemerkung an: „Jeder ist wie der andere, und keiner ist er selbst“.

Ich danke Ihnen für das Interview, sehr geehrter Herr Professor Safranski.