In Österreichs staats(bürgerschafts)rechtlicher Souveränität – Wie es um den Doppelpass für Tiroler südlich des Brenners steht

Staatsgrenze Oesterreich, Foto: Stefan Groß

Vor gut eineinhalb Jahren deutete sich für einen Teil der sogenannten Altösterreicher eine politische Großtat an. Erstmals schien es, als könnten hundert Jahre nach Annexion des südlichen Tiroler Landesteils durch Italien (1918) Südtiroler die Chance  auf Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft erhalten, derer ihre Vorfahren mit der in St. Germain-en-Laye vollzogenen diktatfriedensvertraglichen Übereignung ihrer Heimat an den Stiefelstaat (1919) verlustig gegangen waren. Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich eine österreichische Bundesregierung dazu entschlossen, dem schon seit 2010 immer mal wieder vernehmlichen, aber meist wieder durch unwillige politische Kräfte in Wien mittels allerlei Ausflüchten zurückgewiesenen, entsagten oder zerredeten  Begehr endlich zum Durchbruch zu verhelfen.

So stellte die aus der Nationalratswahl im Herbst 2017 hervorgegangene  türkis-blaue Koalition die Möglichkeit des Erwerbs der österreichischen Staatsbürgerschaft für Südtiroler – und andere Altösterreicher – in Aussicht. Im Koalitionsabkommen, respektive Regierungsübereinkommen wurde dies unter Punkt „Doppelstaatsbürgerschaft neu denken“ näher ausgeführt: „Doppelstaatsbürgerschaft Südtirol und Alt-Österreicher: Im Geiste der europäischen Integration und zur Förderung einer immer engeren Union der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten wird in Aussicht genommen, den Angehörigen der Volksgruppen deutscher und ladinischer Muttersprache in Südtirol, für die Österreich auf der Grundlage des Pariser Vertrages und der nachfolgenden späteren Praxis die Schutzfunktion ausübt, die Möglichkeit einzuräumen, zusätzlich zur italienischen Staatsbürgerschaft die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben.“  

Dass es überhaupt zu dieser Festlegung kam, ist maßgeblich der Initiative der FPÖ zuzuschreiben. Vor allem Werner Neubauer, einer ihrer Nationalratsabgeordneten,  hatte das Thema seit Jahren  in Parlament und Öffentlichkeit  lanciert und  seinen Einfluss geltend gemacht, damit es die damalige Parteiführung in den Verhandlungen mit der ÖVP als Koalitionsbedingung  reklamierte.

Die „türkise“ Kanzlerpartei  stand dieser Frage reserviert bis ablehnend gegenüber. Gewisse „Granden“ aus dem „schwarzen“ Teil der Volkspartei suchten unter Berufung auf das Risiko einer klimatischen Störung des bilateralen Verhältnisses mit Italien das Vorhaben offen zu hintertreiben. Ablehner und Skeptiker sahen, begünstigt vom ambivalenten Verhalten der (damals neuen und oft den Eindruck einer gewissen „Italianità hervorrufenden)  Führung der (seit 1945 regierenden) Südtiroler ÖVP-„Schwester“ SVP  Gefahren  für das ethnische Neben- und Miteinander  und sagten eilfertig eine „Spaltung der Gesellschaft“ voraus. Amtsträger wie beispielsweise die Landeshauptleute  Tirols (Günter Platter) und der italienischen Provincia Autonoma di Bolzano Alto Adige (Arno Kompatscher), glichen in ihren Äußerungen gegenüber Medien oder in formellen  Verlautbarungen  bisweilen dem  je nach Lage und Situation die Farben wechselnden Chamäleon. 

In Österreich waren die Oppositionsparteien und der größte Teil der für die veröffentlichte Meinung sorgenden Medien gegen „die Doppelstaatsbürgerschaft, in Südtirol die „interethnischen“ Grünen sowie die italienischen Landtagsparteien. Und in Rom sprachen sich vom Staatspräsidenten über gewichtige Vertreter der – einander nach den Kammer- und Senatswahlen im Frühjahr 2018 ablösenden – Regierungen und Parteien, einschließlich der erstarkten und nunmehr wieder in Opposition befindlichen  Lega, auf die in Wien hauptsächlich die FPÖ setzt(e), in zum Teil drastischen Stellungnahmen gegen das Vorhaben aus. 

Ungeachtet dessen stimmte der Südtiroler Landtag mehrheitlich für den hauptsächlich von den drei deutschtiroler Oppositionsparteien getragenen formellen Antrag an Nationalrat und Regierung in Wien auf Schaffung der Möglichkeit zur Erteilung der österreichischen Staatsbürgerschaft für anspruchsberechtigte und beantragungswillige Südtiroler. Darüber hinaus verschafften 27 sogenannte „Altmandatare“ der SVP – u.a. des langjährigen Landeshauptmanns a.D. Luis Durnwalder, des vormaligen Kulturlandesrats Bruno Hosp, des früheren Parteiobmanns Siegfried Brugger, und nicht zuletzt des exponierten früheren Landtagsabgeordneten und Regionalratspräsidenten Franz Pahl – als Unterzeichner eines an Kanzler (und ÖVP-Obmann) Sebastian Kurz sowie Vizekanzler (und FPÖ-Obmann) Heinz Christian Strache gerichteten gleichlautenden Schreibens dem formellen Südtiroler Begehr ein zusätzliches Gewicht. Damit konnte  der missgünstige Eindruck geglättet werden, den die SVP-Fraktion im Bozner Landhaus  hinterlassen hatte, weil nicht alle ihre Mandatsträger den mehrheitlich zustande gekommenen und als formellen Wunsch Südtirols nach Wien übermittelten Landtagsbeschluss mitgetragen hatten. Zudem erklärten reihum die Oberen  gesellschaftlicher Gruppierungen – des Autonomen Gewerkschaftsbund, des Bauernbunds, des Heimatbunds, des Schützenbunds und anderer mehr – ihr Einverständnis und bekundeten den Wunsch nach Ermöglichung der Doppelstaatsbürgerschaft.

Dass sich Rom nicht nur querlegte, sondern geradezu ein Getöse entfachte, welches über den Alpenhauptkamm hinweg bis an die Donau Wellen schlug, war nach anfänglich eher moderater Zurückhaltung nicht in dieser Dimension zu erwarten gewesen. Doch alsbald gewannen die altbekannten Reflexe  die Oberhand, woraus im Grunde der von links bis rechts des Tibers stets vernehmbare doktrinäre, aber historisch-politisch verfehlte Anspruch wieder durchschlug, wonach alles, was Südtirol angehe, eine „rein italienische Angelegenheit“ sei. Dies trotz Pariser Abkommens, trotz Autonomie-Statuten, verbriefter Kommissionen und – UN-begünstigter sowie vertragsrechtlich  anerkannter – Schutz(macht)funktion Österreichs für Südtirol(er).

Die römische Ablehnung des Wiener Vorhabens fand ihren  Gipfelpunkt in einem Interview des  „starken Mannes“ der damaligen italienischen Regierung, Innenminister Matteo Salvini. Kurzerhand befand der Lega-Chef  seinerzeit: „Sie können nicht ohne unsere Zustimmung Pässe ausgeben“, und machte mit dem Zusatz „Eine doppelte Staatsbürgerschaft wird es nicht geben“ seine Konzilianz zunichte, die er Wochen zuvor nach einem Treffen mit dem damaligen Vizekanzler und FPÖ-Obmann Strache gezeigt hatte, als er in der anschließenden Pressekonferenz  sagte „Wir werden schon eine gemeinsame Lösung finden“.

Zu diesem Kladderadatsch (auf „österreichisch“ Palawatsch)  trug  auch eine gewisse Selbstfesselung bei, welche durch Äußerungen von Kanzler Kurz und Stellungnahmen der – auf FPÖ-Vorschlag zur Ressortchefin avancierten – parteilosen Außenministerin Karin Kneissl hervorgerufen worden war, wonach das Projekt Staatsbürgerschaft für Südtiroler „ im Einvernehmen mit Italien“ realisiert werden solle. Es hätte beiden klar sein müssen, dass sich Österreich damit seiner von niemandem beeinspruchbaren, absolut souveränen Entscheidung darüber begibt. Alle Rechtsgutachten weisen aus, dass allein Österreich für diese Angelegenheit Zuständigkeit beanspruchen kann; es ist dazu nicht einmal eine Verfassungsänderung notwendig, sondern es genügt eine durch einfachen mehrheitlichen Nationalratsbeschluss herbeigeführte Novellierung/Ergänzung des geltenden Staatsbürgerschaftsgesetzes. Im Übrigen hat gerade Italien am wenigsten Grund zum Einspruch, hat es doch schon in den 1990er Jahren allen ethnischen Italienern seiner Nachbarstaaten sowie den Nachkommen einst nach Übersee ausgewanderter Italiener, die dies wollten, seine Staatsbürgerschaft erteilt, ohne mit den betreffenden Staaten  „Einvernehmen“ darüber herzustellen – Rom hat sie nicht einmal informiert.

Die in Wien zum Zwecke der Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs eingesetzten Experten unterbreiteten ihren Auftraggebern schon nach drei Kommissionssitzungen bereits ihre Vorschläge. Das war im September 2018, mithin vor einem Jahr. Doch während des seit 1. Juli laufenden Halbjahres-EU-Ratsvorsitzes Österreichs, bei dem „Brexit“ mehr oder weniger im Mittelpunkt stand, wollte Wien – dem Usus folgend, als „ehrlicher Makler aufzutreten“ – die Angelegenheit  nicht mit (EU-Gründungsmitglied) Italien erörtern. Zudem wählten die Südtiroler im Herbst einen neuen Landtag;  aus dem Wahlkampf hielten die Parteien das Thema weitgehend heraus. Auch danach blieb die „Causa Doppelstaatsbürgerschaft“ in Wien unter Verschluss und die Gesetzesexpertise der Kommission  im Schubladen. Schließlich ließen die Wirbel um „Ibiza“, Kurz‘ (fragwürdige, weil ohne wirkliche Not getroffene Entscheidung zur) Aufkündigung der Koalition, seine kürzestlebige Wochenend-Übergangsregierung, deren parlamentarische Abwahl sowie das bis nach der Nationalratswahl  bestehende politische Interregnum einer Beamtenregierung das Thema von der Agenda verschwinden.

Ob es nach der Wahl (29. September)  wieder auf die Tagesordnung gelangt und dann auch wirklich im Staatsbürgerschaftsgesetz sowie im Staatsanzeiger seinen Niederschlag findet, wird entscheidend davon abhängen, wer die künftige Regierung bildet. Wobei schon jetzt für die Südtiroler, denen es zum österreichischen Pass verhelfen und damit auch zur Vergewisserung und Festigung ihrer Identität als österreichische Minderheit beitragen soll, der vor hundert Jahren die fremdnationale Umgebung aufgezwungen wurde, ebenso klar ist wie für alle an der Sache Interessierten:  Allenfalls unter einer neuerlichen türkis-blauen Regierungskoalition dürfte dies möglich werden.                   

 

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Über Reinhardt Olt 33 Artikel
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt war seit 1. November 1985 politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 1. September 1994 bis zu seinem Ausscheiden am 31. August 2012 mit Sitz in Wien deren politischer Korrespondent für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei. In der FAZ hat er die meiste Zeit seines beruflichen Wirkens zugebracht; daneben nahm er Lehraufträge an deutschen und österreichischen Hochschulen sowie in Budapest wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen. 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der Bundespräsident verlieh ihm im gleichen Jahr den Titel Professor. 2004 wurde er als erster von diesem mit dem "Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt"; ebenfalls 2004 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 ernannte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.) sowie Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Geboren wurde Olt 1952 als Sohn eines Bauern im Odenwald. Sein Abitur bestand er 1971 in Michelstadt. Nach Ableistung des Wehrdienstes studierte er Germanistik, Volkskunde, osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Freiburg und Gießen bis zur Promotion 1980. Es folgte an der Universität Gießen eine Assistententätigkeit. Dann begann 1985 seine Zeit in der FAZ.