Flüchtig

Eiszeit, Spuren im Schnee, Foto: Stefan Groß

„Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben“, so reimte und komponierte 1652 der Lehrer und Kirchenlieddichter Michael Franck. Und seine Worte fanden Gehör. Wieder und wieder wurden sie vertont, zuletzt von dem blutjungen Johann Sebastian Bach.

Doch obwohl sich damals die Menschen ihrer Flüchtig- und Nichtigkeit wohl bewusst waren, schufen sie Werke, die nicht nur die Jahrhunderte überdauerten, sondern bis heute Quelle von Inspiration und Erbauung sind. Ob in der Architektur oder der Malerei, der Musik oder der Dichtkunst und selbst in den Naturwissenschaften leisteten sie Staunenswertes.

Heute scheint sich das Verhältnis von Schöpfer und Werk umgekehrt zu haben. Die Menschen wollen von ihrer Flüchtig- und Nichtigkeit nichts mehr wissen und sind nur allzu bereit, irdischen Ewigkeitsphantastereien Raum zu geben. Umso flüchtiger und nichtiger sind ihre Werke. Was wird die nächsten Generationen erreichen von Müllbergen, übersäuerten Ozeanen, abgeholzten Waldflächen und ausgebrannten Atommeilern einmal abgesehen? Selbst die Verfallsdaten technischen Fortschritts werden immer kürzer. Was wird also bleiben?

Die Frage stellt sich mit wachsender Dringlichkeit. Was hinterlässt die heutige Generation den nach ihr Kommenden? Werden diese, so wie wir dies heute tun, wenn Gemälde von Raffael, Rembrandt und anderen ausgestellt werden, zu Hunderttausenden in Museen strömen, um sich Strichmännchen anzuschauen oder „gelbe Punkte auf schwarzem Grund“?

Welche Bauten werden von uns Zeugnis geben? Zerkrümelnde Autobahnbrücken und verfallene Bahntrassen, Wohnsilos im Kölner Chorweiler oder im Münchner Neuperlach? Werden die Nachgeborenen eine Vorstellung davon bekommen, wie und was wir kommuniziert haben? Was wird von unseren Datenclouds überdauern? Wo sind in ihnen Liebesgedichte und -briefe archiviert?

Was hinterlassen unsere Wissenschaft, Philosophie und Religion? Bei Licht besehen leben wir Heutigen doch noch immer in den Denk- und Gefühlswelten der Altvorderen. Aber die sind dabei zu verblassen. Was tritt an ihre Stelle? Welche philosophischen oder religiösen Systeme geben uns und den nach uns Kommenden Halt und Orientierung?

Mitunter könnte der Eindruck entstehen, wir Heutigen hätten es geradezu darauf abgesehen, möglichst wenig von Dauer zu schaffen und unsere Spuren zu verwischen. Geben wir uns Rechenschaft über den Müll, den wir produzieren, über die Dinge, die im Grunde keiner braucht, und die deshalb mit aberwitzigem Aufwand an die Frau oder den Mann gebracht werden müssen?

Wer hat ein wirkliches Interesse daran, dass einmal Geschaffenes möglichst lange Nutzen und Freude stiftet? Die Produzenten sicherlich nicht. Und die Konsumenten? Sie gieren nach Neuem und Trendigem. Nein, wir singen nicht mehr „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“. Wir leben es. Flüchtigkeit ist zur Essenz unseres Daseins geworden. In gewisser Weise war sie das zwar immer. Aber ohne es zu wollen, zelebrieren wir sie.