Wäre sie doch dem Florentiner Fra Angelico erschienen. Doch sie kam Jahrhunderte später. Und hatte offenbar nicht vor, ein Kunstwerk zu werden. Warum aber die „Kommodenheiligen“ dennoch mehr sind als nur Kitsch
Meine erste Lourdes-Madonna habe ich als kleiner Junge im Haus von Rheingauer Weinbauern gesehen; meine Eltern probierten unten in der Wohnküche Wein, während mir die Tochter des Hauses, die so alt war wie ich, die Zimmer im oberen Stockwerk zeigte. Das Schlafzimmer ihrer Eltern lag in feierlicher kühler Erstarrtheit da, die Plumeaus waren enorm aufgeschüttelt, fest wie mit Zement gefüllt, die Kopfkissen hatten einen scharfen Knick in der Mitte, der ihnen zwei steife Hasenohren gab, und auf der Kommode gegenüber dem Bett, da stand sie, in der Frostigkeit dieser Umgebung wie eine Eisprinzessin, aber seltsam lebendig mit ihrem kleinen zart geschminkten Puppengesicht. Meine Mutter lächelte ironisch, als ich ihr von der mir sehr schön erschienenen Figur erzählte: Sie sei eine „Kommodenheilige“.
Aber bald sah ich an anderem Ort die nächste Lourdes-Madonna, etwas größer als die aus der bäuerlichen Schlafstube, dann eine ganz kleine, kaum größer als eine Schachfigur, aber immer mit derselben Neigung des Kopfes und den fließenden Falten des weißen Gewandes, das kein Kleid war und keine antike Tunika, überhaupt nicht etwas, das man hätte ablegen können, sondern mit dem Körper verwachsen. Ich lernte, dass die einzelne Lourdes-Madonna, die mir begegnete, Abgesandte eines großen Madonnenvolkes war, das auf der ganzen Erde siedelte.
Ihr Körper hatte seltsame Proportionen, die Beine mussten überlang sein wie von William Blake oder Füßli entworfen, der Oberkörper war flach, da bauschte sich nichts Weibliches. Das Gesicht war kindlich, mit blanker hoher Stirn und von raffaelitischem Ebenmaß – vermutlich eine kleine Spur zu ebenmäßig, denn man weiß ja, dass auch die schönsten Gesichter niemals ganz symmetrisch sind.
Der blaue Gürtel wehte leicht, die Falten des Gewandes wurden gleichfalls wie durch einen Luftzug an den Körper gedrückt, das gab der Gestalt etwas Bewegtes, als schwebe sie dem Betrachter entgegen. Und man sah zwar Füße in Pantöffelchen unter dem Rocksaum, aber eigentlich glich die Figur jenen japanischen Hofdamen, die ihre Füße verbergen und auf den Säumen ihrer Kimonos laufen. Obwohl alle Statuen, die mir begegneten, mit fetter Ölfarbe wie ein Karussellpferd bemalt waren, bestand kein Zweifel über ihr Material: Gips, und oft genug waren sie ein wenig angestoßen, dann guckte der weiße Gips bröselig trocken hervor.
In den alten während der Revolution ausgeraubten Kirchen Frankreichs, die im neunzehnten Jahrhundert oft mehr schlecht als recht wiederhergestellt worden waren, fand sich immer wieder ein gipsernes Völkchen, das an den Wänden die zerschlagenen gotischen Plastiken ersetzen sollte: Dort gab es Ludwig den Heiligen, den Pfarrer von Ars, die Jungfrau von Orleans und natürlich die Lourdes-Madonna, hier hatte sie eine Gesellschaft, in die sie sich einfügte, aber in den deutschen Barockkirchen mit erhaltener prunkvoller Dekoration oder in den modernen Betonkirchen war sie ein Fremdkörper, meist etwas verschämt in einem Seitenkapellchen nahe am Eingang aufgestellt; die Leute schienen diese Verlegenheit übrigens nicht zu bemerken, es brannten meist zu viele Kerzen vor ihr. Gips war nicht ihr einziges Material, es gab die Lourdes-Madonna auch aus Plastik und sogar aus Glas als Flasche für Lourdes-Wasser, der Stöpsel war als Krone ausgebildet.
In Klosterkorridoren blühten zu ihren Füßen ein halbvertrocknetes Usambara-Veilchen und ein dankbarer Kaktus, aber ihre eigentliche Heimstätte war eine künstliche Grotte, eine Nachfahrin der barocken Muschelgrotten fürstlicher Schlösser, denn Unsere liebe Frau von Lourdes war der kleinen Hirtin Bernadette wie eine antike Quellnymphe in einer Grotte erschienen, die nun an vielen Orten aus Bimsstein nachgebaut worden war: Landschaftsarchitektur wie für eine elektrische Eisenbahn. Überall Lourdes-Grotten, nicht nur im Vatikan neben Renaissance-Palazzetti, sondern auch mitten im Herzen wilder gewalttätiger Metropolen: in Kairo und New York, in Seoul und Bogotà, meist auf den Kirchhöfen, auf denen das Dauerhupen des nicht abreißenden Verkehrsstroms etwas gedämpfter klang, eine Naturcollage vor Hochhauswänden.
Und vor diesen Höhlen standen immer ein paar Leute, auch wenn die Kirche selbst geschlossen war, rote Nelken in Zellophantüten hingen an dem Zaun, der die Grotte umgab, auch hier brannten Kerzen und die Leute blickten in das Höhlendämmer, wo hoch oben die weißlackierte Statue stand wie eine katholische Königin Luise von Preußen. Der große blaue Mantel der klassischen Marienbilder war auf den hellblauen Gürtel zusammengeschrumpft, wie das blaue Band, mit dem man die weißen Windeln der ganz kleinen Mädchen verzierte, bevor das amerikanische Rosa für Mädchen aufkam. Warum, so fragte ich mich, ist Unsere liebe Frau von Lourdes nicht schon ein paar Jahrhunderte früher dem größten aller religiösen Maler, dem Florentiner Fra Angelico erschienen? Was hätte Fra Angelico aus einem weiß fließenden, blau gegürteten Gewand machen können – sieht man es nicht vor Augen? Aber sie kam später, eigentlich schon in unserer Epoche, denn ihre Sendung war eine andere. Jedenfalls hatte sie offenbar nicht vor, ein Kunstwerk zu werden.
Das ironische Lächeln meiner Mutter damals hatte es mir angekündigt: In unserem Milieu, unter gebildeten, kunstliebenden, lesenden Menschen wurde die Lourdes-Madonna nicht ernst genommen. Das war Kitsch. Kitsch ist bis heute ein beliebtes Wort, ein im ästhetischen Urteilen geradezu unentbehrliches.
Es ist kein sehr altes Wort, es taucht erst gegen 1860 auf – gab es vorher noch keinen Kitsch? Sollte es im achtzehnten Jahrhundert etwa noch nichts schwächlich Nachgeahmtes, Geschmackloses, seelenlos Epigonales, Verlogenes, Unwahres gegeben haben? Das alles gab es vielleicht, aber es war noch kein Kitsch. Es gehört zum Kitsch das vorerst endgültige Ende handwerklicher Geschmackssicherheit, eines gleichsam ererbten Geschmacksinstinkts, der aus dem eh und je vertrauten Material die darin wohnenden Gesetze der richtigen Proportion herauszuhören vermag. Eine industrielle Herstellung, die an keine Materialgesetzlichkeit mehr gebunden ist, hat die Herrschaft übernommen.
Aber der Mensch ist langsamer als die technische Entwicklung, mit seinen Träumen und seinen Maßstäben bleibt er noch lange, im Grunde bis heute, den sich in grauer Vorzeit verlierenden vorindustriellen Jahrtausenden verhaftet. Er wiegt sich in verführerischen Ideen: Ist der Abschied von der überlieferten Schönheitsvorstellung, der organisch aus dem Material erwachsenen Proportion denn gar so endgültig? Könnte man nicht die Vorteile der alten mit denen der neuen Zeit geschickt kombinieren? Mit der Maschine, die doch per se gar nicht schönheitsfeindlich sein müsste, im alten Sinne Schönes, womöglich gar Kunst herstellen? Mit viel weniger Mühe, in viel größerer Perfektion? Und für viel mehr Menschen als früher, wo Kunst in unguter Exklusivität nur für die Wenigen da war? So begann dann das massenhafte Pressen, Gießen und Stanzen von Lourdes-Madonnen und keineswegs nur von ihnen.
Es ist ein Erlebnis, wenn man, in einem der tausend Devotionalienläden von Lourdes, zum ersten Mal auf solch eine Madonnenherde stößt: ein geklontes Volk aus innigen Beterinnen, zwei Meter bis zwei Zentimeter groß. Zu meinem Erlebnis gehörte aber nicht nur das leichte Gruseln bei diesem Anblick, sondern dann auch die Erkenntnis, dass diese Madonnenfülle der Madonnenerscheinung eigentlich keinen Abbruch tat, im Gegenteil. Tritt uns die Madonna in der katholischen Welt nicht ohnehin vervielfältigt entgegen? Die verschiedenen schwarzen Madonnen und die von Guadelupe, von La Salette, von Altötting, von Kevelaer und von Pilar, von Pompeji und von Loreto – immer eine andere und immer dieselbe? Zum Unterschied: Ich hatte beim Besuch einer großen Bildhauerwerkstatt in Carrara die Gelegenheit, den David des Michelangelo in Originalgröße zwölffach in fleckenlosem Carrara-Marmor hintereinander stehen zu sehen, die Bestellung einer amerikanischen Hotelkette – der David war damit für mich vernichtet, er hat sich von dieser grausamen Kur immer noch nicht erholt. Man sieht, es ist mit dem Kitsch eine komplizierte Sache. Er ist ein Symptom für vieles, auch für gesellschaftliche Ängste.
Der bürgerliche Aufsteiger – und wer wäre das nicht – fürchtet den Kitsch, weil er sich in seiner Geschmacksunsicherheit entlarvt sehen könnte – unsere pauperistischen und minimalistischen Interieurs sprechen auch von der Sorge, durch größere Opulenz womöglich in eine Kitschfalle zu geraten und sich von Geschmacksrichtern der Kleinbürgerlichkeit überführt zu sehen; das kann einem in einem leeren Raum natürlich nicht passieren. Aber der Kitsch ist stark und überlebt in unserer Welt auch die rigidesten Vorsichtsmaßnahmen. Längst kennen wir den kahlen Kitsch, den sauren Kitsch, den grünen Kitsch, den Betroffenheitskitsch und den Authentizitätskitsch und jede dieser Spielarten ist viel schwieriger aufzuspüren und bedarf eines erheblich geschliffeneren Geschmacks zu ihrer Entdeckung als die Lourdes-Madonna in ihrer ungeschützten naiven Unschuld. Sie schützt sich nicht, die Lourdes-Madonna, aber sie kann beschützen. Cordelia Spaemann, die verstorbene Frau des Philosophen Robert Spaemann, sagte, dass der Devotionalienkitsch der Wallfahrtsorte, an der Spitze die Lourdes-Madonna, der Schutzwall sei, mit dem die blasierten Ästheten – sie sprach von „Ästhetenpack“ – dem Heiligtum ferngehalten würden.
Schieben wir also die gesamte Frage des Kitsches bezüglich der Lourdes-Madonna mit der angemessenen Grobheit zur Seite und schauen wir dem nackten Faktum ins Auge, dass es im ganzen zwanzigsten Jahrhundert nicht eine einzige künstlerische oder kunsthandwerkliche Schöpfung gab, die derart eindeutig, allgemeinverständlich, nationen- und kulturenübergreifend funktional im liturgischen Sinn und identifizierbar katholisch gewesen wäre wie die Lourdes-Madonna. Ihr anonymer Schöpfer besaß dieselbe formstiftende Genialität wie der Zeichner der Mickey Mouse und der Entwerfer des Coca-Cola-Schriftzuges.
Wo die Lourdes-Madonna steht, ist die katholische Kirche. Angesichts solcher Durchsetzungsgewalt – und wie sanft ist diese Gewalt! – schnurrt jedes Geschmacksurteil über sie zum höchst belanglosen persönlichen Schön- oder Hässlichfinden zusammen.
Die lateinische Kirche hat sich zu Beginn ihres zweiten Jahrtausends zunächst allmählich, dann aber immer schneller und nachdrücklicher von der Tradition der Bilder der alten Kirche gelöst. Es lohnt sich, die Schritte dieses Weges in knappen Worten noch einmal zu rekapitulieren. Man hat sich gewöhnt, diesen Weg als große Befreiung aus dem Gefängnis von Vorschriften und Beschränkungen anzusehen; man hat die Entwicklung der religiösen Kunst geradezu als Fortschrittsgeschichte gefeiert. Am Anfang stand die Ikone und die Ikone unterlag strengen Gesetzen. Sie legte die Erscheinung der Heiligen, an der Spitze die der Panhagia und des Erlösers, in rigiden, unumstößlichen Regeln fest und entzog sie jeder subjektiven Interpretation. Sie verzichtete weitgehend auf die in der hellenistischen Malerei längst errungene Räumlichkeit und Plastizität der Darstellung, sie strebte Zweidimensionalität an.
Ihre Farbigkeit war gleichfalls festgelegt: Was Christusfarben und was Marienfarben waren, welche Farben der Welt des Alten und welche dem Neuen Bund zukamen, welcher Faltenwurf welcher Darstellung in welcher Situation entsprach, welches Begleitpersonal, welche Requisiten und Wahrzeichen auftauchen durften oder vielmehr aufzutauchen hatten, das entzog sich ebenso der persönlichen Entscheidung des Malers wie die Gebete, die er beim Reiben der Farben oder beim Auftragen der Farbschichten auf die Holztafel sprechen musste.
Diese Ikonen waren keine fromme Dekoration einer Kirche, sondern sichere Zeichen göttlicher Gegenwart von gleichem Rang wie die Anwesenheit der konsekrierten Hostie im Tabernakel. Ihre Zweidimensionalität war kein künstlerisches Unvermögen, sondern Abzeichen, dass die dargestellte Figur nicht mehr der Sphäre der sinnlichen Tastbarkeit angehörte, sondern durch das Fenster des Ikonenrahmens aus der Ewigkeit in die Zeitlichkeit hereinblickte.
Lassen wir auf sich beruhen, aus welchen Gründen die lateinische Kirche die Gemeinschaft der Bildtradition mit der griechischen Kirche aufgab – genug, sie tat es und begab sich auf den Weg eines großen erregenden Abenteuers, das die Malerei zu immer neuen Triumphen führte – ob das auch für das liturgisch gebundene Bild von Vorteil war, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Jeder kennt die Stationen dieser Befreiung: Giottos Erobern einer neuartigen Körperlichkeit leitet einen Prozess ein, in dem über die Jahrhunderte hinweg alle Phasen zeitgenössischer Anverwandlung biblischer Stoffe und biblischer Gestalten durcheilt werden. Die Künstler werden zeitweise zu eigenwilligen Theologen, die ihre persönliche Deutung der heilsgeschichtlichen Ereignisse zur Grundlage ihrer Bilder machen. Sie werden Erzähler, die auch das Anekdotische nicht scheuen. Sie nehmen den biblischen Stoff als bloßen Vorwand für immer brillantere Malerei. Sie werden Theater- oder gar Opernregisseure, die die Stationen des Lebens Jesu modisch inszenieren. Sie sublimieren oder sie banalisieren die Heiligenleben, sie lassen sie auf Wolkenbühnen oder in Kellerlöchern stattfinden.
Und nachdem alles ausprobiert worden war und das, was man Emanzipation vom kirchlichen Auftraggeber nennt, längst und gründlich stattgefunden hatte, kam es dann auch zum offiziellen Bruch: Die westliche Kunst verabschiedete sich von ihrem bis dahin großzügigsten und geduldigsten Mäzen und wandte sich anderen Aufgaben zu. Zurück blieb eine eingeschüchterte und verwirrte Kirche, die sich vom ästhetischen Hauptstrom der Zeit unversehens weggedrängt sah und sich auf Restbestände von Kunstgewerbe blassen Spiegelungen der jeweiligen Tagesmoden verwiesen fand.
Dass das Ende des westlichen Sonderweges der religiösen Kunst gekommen war, dass die Freigabe kirchlicher Kunst und ihre Auslieferung an Individualismus und Subjektivismus schließlich zu einer grundsätzlichen Lösung der Kunst von der Kirche geführt hat, ist in den oberen Etagen der Hierarchie, Päpstlichen Räten für die Kunst und ähnlichen ehrwürdigen Institutionen nach weit über hundert Jahren einer entsprechenden Entwicklung immer noch nicht so richtig angekommen, dabei aber mindestens ebenso lang beim gläubigen Volk.
Ohne dass irgendwelche Parolen und Devisen hätten ausgegeben werden müssen, hat dort jene Wende der Bilderverehrung stattgefunden, die man als „Reikonisierung“ bezeichnen könnte. Das multinationale Volk der Katholiken hat sich den heiligen Bildern zugewandt, die keine Kunstwerke sind und es auch nicht sein wollen. Goethe wusste nicht, wie recht er hatte, als er in den „Römischen Elegien“ in hämischem Unterton schrieb: „Wundertätige Bilder sind meist nur schlechte Gemälde.“ Idole sind eben keine Kunstwerke, und wenn sie es dennoch sind, wie die großen Ikonen von Byzanz und Russland, dann sind sie es nur nebenbei.
Die Lourdes-Madonna eine Ikone zu nennen, würden die Orthodoxen sich vermutlich verbitten, dem steht für sie schon entgegen, dass es sich um eine Statue handelt, denn die Orthodoxie bezieht das alttestamentarische Bildverbot gerade auf die „Simulacra“, die plastischen Götterbilder. Aber im untechnischen Sinn darf man die Lourdes-Madonna eben doch eine Ikone nennen, die Ikone des Westens, von anonymer Hand geschaffen, einen Typus begründend, eine Erscheinung perennierend, in ihrer Eigenschaft als Massenartikel radikal unindividualistisch, geradezu antisubjektivistisch. Von der großen alten Kunst Europas ist sie genauso weit entfernt wie von der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, für avancierte Kunstkritiker des neunzehnten Jahrhunderts war sie Dienstmädchenkunst, für westeuropäische Liturgieexperten des zwanzigsten Jahrhunderts ist sie nur für Polen und Afrikaner tauglich. Das ist ein gutes Zeichen für ihre Lebensfähigkeit.
In: VATICAN-magazin 5/2012, S. 9-15
www.vatican-magazin.de
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