Wer weiß, wie es sich anfühlt, für das Verliebtsein alles auf den Kopf zu stellen, der wird nicht gleich an Medea denken. Aber eine der ältesten griechischen Mythen, die nichts an Gültigkeit verloren hat, ist auch in der Neuinszenierung der Salzburger Festspiele 2019, zeitlos. Wenn Medea in einer genialen Verknüpfung von Gesang, Text und modernen Elementen wie Filmsequenzen und Sprachnachrichten die Wirkung von Lebens- gesetzen auffächert, dann bleiben wir als Publikum aufgewühlt zurück. Im Innersten berührt uns der Stoff, der an seiner Aktualität am Beispiel der Isolation von Medea in der Fremde als Zurückgewiesene uns täglich begegnen kann. Die Geschichte, das Goldene Vlies zu erobern, hat die Argonauten unter der Leitung des griechischen Helden Jason bis nach Kolchis, ins heutige Georgien, geführt. Die Königstochter Medea verliebt sich in Jason, verrät ihm die Geheimnisse rund um das Goldene Vlies und flieht mit ihm nach Korinth. Was sich dort abspielt, ist der Kern der Oper von Luigi Cherubini ( 1760-1842); denn nicht die Einsicht vom optionalen Weisheitstransfer via Goldenem Vlies und den möglichen Goldschätzen lässt Medea und Jason zu höheren Mächten streben, sondern die Ehe zerbricht an der Untreue des Ehemanns Jason. Die Hochzeit mit seiner neuen Frau Dircé, meisterhaft gesungen und gespielt von Rosa Feola, lässt Schlimmes ahnen. Was sich auf verschiedenen Bühnen im Grossen Festspielhaus abspielt, zeigt, wie die Gesangskunst von Stars wie Elena Stikhina/ Medea, Pavel Cernoch/ Jason, Vialij Kowaljow/ Créon und dem Chor musikalisch ineinandergreift und die szenische Dramaturgie lebendig fassbar macht. Die Wiener Philharmoniker, unter der musikalischen Leitung von Thomas Hengelbrock, verdienen für ihre Glanzleistung das goldene Vlies, das nach einer Neuauflage förmlich schreit.
Medea und der Bezug zur Medizin mit dem innigen Bezug zum Hekate Garten dürfte viele Menschen vitalisieren. Denn sie trifft die Sehnsucht nach mehr Grün, mehr Sauerstoff und die Bekämpfung klimatischer Störfelder. So ist der langhanhaltende Applaus zum Ende der Vorstellung eine Aufmunterung, die Themen der Oper Médée von Luigi Cherubini als Kristallisationspunkte wieder zum Leuchten zu bringen. Wenn der Sonnengott Helios eine Himmelsleiter für Medea bauen würde, dann müßte sie sich nicht an de Tankstelle mit ihren beiden Söhnen das Leben nehmen. Sie könnte den heute so eminent wichtigen Auftrag innovativer Strategien mit inhaltsreichem Content ausführen und das Goldene Vlies wieder zum Leben erwecken.
Die Renaissance der menschlichen, geistigen Werteskala steigern und die heutigen Möglichkeiten der Hightech Welt nützen: Rache, Habsucht, Zorn, Armut, Zerstörung der Natur und Armut, Unterdrückung und Sklaverei sollten dann defacto der Vergangenheit angehören. Ein Sittengemälde, das den Ideen der Argonauten entspringen könnte. Welche Überlegungen die gut betuchten Gäste der Oper an derem letzten Médée – Spieltag mit nach Hause, in die Bar oder ins Hotel mitnehmen, welche Sprachnachrichten gemailt werden, das kann man nur erahnen. Freilich trägt jede Besucherin, jeder Besucher, aus der Medea Schatulle etwas mit sich herum und wird es weitergeben. Im Falls der Autorin dieses Textes hat sich die Fortsetzung des Opernabends am Odeonsplatz in München/ U-Bahn Untergeschoss um 1.30 Uhr zugetragen: Von allen Seiten wurde mit Schläuchen gespritzt. Was wie ein Feuerwehreinsatz nach dem Brand der Selbstmordattentäterin Medea auf der Salzburger Bühne nachwirkte, war plötzlich Realität. Denn bei Betriebsschluß gab es eine Durchsage: „Bitte verlassen Sie den Bahnhof sofort“. Wer das weiß, wird sich vorher schon darauf einstellen können. Wer normalerweise an einem Montag nicht bis 1.30 Uhr unterwegs ist, der kann also so manche Überraschung erleben, auch wenn der Theatervorhang im Großen Festspielhaus in Salzburg schon vier Stunden vorher zugezogen worden ist. Die Cherubini Orchestrierungen der faszinierenden Melodien klingen nach, und die Impressionen auf der Bühne werden plötzlich wahre Wirklichkeit. Die Theaterwelt hat ihren Ursprung im Unfassbaren, das Gestalt annimmt und sich ausdrücken möchte. Und die Realität mit ihren Biodiversitäten sucht offensichtlich noch immer nach dem Goldenen Vlies.
Die Liebe, so heißt es, ebnet einen Weg dazu. Wie kann man Medea anders verstehen als dass sie auch heute unserem Zeitgeist etwas Konstruktives vermittelt. „Für die ganze Welt bin ich nur eine Fremde“. Dieses Gefühl der Ohnmacht sollte im Nachklang die Herausforderung beinhalten: „Und mein Schicksal kann neu beginnen“.
Oper in drei Akten (1797)
Libretto von Francois-Benoit Hoffmann
nach den Tragödien Medea ( 431 v. Chr.) von Euripides
und Médée (1635) von Pierre Corneille
Koproduktion mit dem Teatr Wielki – Opera Narodowna/ Polish National Opera, Warsaw
Die letzte Vorstellung während der Salzburger Festspiele war am 19. August 2019 um 19.00 Uhr