Es hat noch allen geschadet, die höher hinaus, besser: hinauf wollten als es ihre Kräfte zuließen. Wer hoch hinauf kam, musste damit rechnen, nicht nur herunter, sondern tief zu fallen. Wenn er nicht gleich ins Grab sank. Adieu, du schöne Welt! „Tutto finisce, alles endet, o filia!“, tröstet Simon Boccanegra sich und die nach Jahren wiederentdeckte Tochter Amelia, als er, zu deren böser Überraschung, seinem langsamen Sterben ein Ende setzen musste. Das Gift, das ihm sein Kumpel und späterer Gegner Paolo (André Heyboer) ins Trinkwasser gemischt hatte, ließ eine halbe Ewigkeit auf Wirkung warten. Es dauerte bis zum Finale, dass Luca Salsi, der in der Salzburger Festspiel-Neuinszenierung der politischsten aller Verdi-Opern, „Simon Boccanegra“, die Titelpartie sang, den Frieden mit sich und – nein, nicht mit der Welt, jedoch – mit seinem ärgsten Widersacher, dem Patrizier Jacopo Fiesco sowie dem zu seinem Nachfolger bestimmten Geliebten Amelias, Gabriele Adorno, schließen konnte.
Mit der anrührenden, tranig geratenen Sterbeszene des noch im besten Mannesalter stehenden Simon – seine „Kinder“ rufen ihm wehmütig „Padre! Padre!“ nach – endet, was eigentlich in einen intimen Raum statt in eine ausgeleuchtete Riesenhalle gehörte: das Leben eines machthungrigen Plebejers, der schon von Geburt nicht auf einen Dogenthron passt. Salsi stellt einen saftigen, gütigen, kraftvollen Möchtegern-Aufsteiger vor, dem er wie nicht so leicht ein zweiter seiner Fachkollegen klangsatt die Vokalstruktur eines Edelbaritons leiht. Seinem pyknischen Typ nach ist er väterlich und versöhnlich, freilich auch unnachgiebig und zielstrebig, was seine lebenspartnerschaftlichen Bestrebungen betrifft. Dass er ausgerechnet auf Maria, die Tochter Fiescos, ein Auge geworfen hatte, war sein Pech. Daher rührt seine Feindschaft mit dem stände-stolzen Genueser Edlen Fiesco, der für den Korsaren Boccanegra als Schwiegersohn nur Verachtung zeigte.
Amelia, die aus der Verbindung Maria-Simon hervorging, begegnet Boccanegra erst 25 Jahre später. Das hohe „F“ beim Ausruf „Filia!“ hätte man sich vom Padre weicher, inniger, nicht nur pianissimo gewünscht. O ja, dieser Verdi ist kompliziert. Gesanglich wie inhaltlich. Regisseur Andreas Kriegenburg hatte leider nicht das von ihm gerade in Salzburg, das mit Hochachtung seiner „Lady Macbeth“ 2017 gedenkt, gewohnte „leichte“ Händchen für diesen verworrenen Rache-Schinken. In die von Harald B. Thor errichtete Trump Tower-Kälte eines Machtzentralbunkers mit zwei Mauerschlitzen für Meer-Blick und einem ins Eck neben einen Bösendorfer gepflanzten Waldstück lässt er Smartphone-Ritter in schnieken Nachtblau-Outfits ihr schickes, groteskes Netzwerk-Unwesen treiben. Die Lacher, die Salsi einstecken musste, der sich bei der Premiere noch auf den Flügel zu legen hatte, blieben in der (für diesen Report besuchten) zweiten Folgeaufführung aus. In eine politisierende Familientragödie gehören nichts als Hiebe und Stiche mit Schwert und Dolch, dazu ein wenig Blutvergießen, Schmerzbewältigung und späte Enthüllungen von Geheimnissen.
Maestro Guiseppe Verdis unübertroffene musikalische Psycho-Zeichnung hat mit dieser poetisch getexteten Boito-Oper beinah schon die Wucht des „Don Carlo“ erreicht. Ihre letzte Umarbeitung erfuhr sie 1881. Dieser Fassung stimmte Dirigent Valery Gergiev zu. Sein Zugriff: so feinfühlig für die leisen Soli, so draufgängerisch und oft berstend vor Energie für die Tutti-Stellen – und da waren sowohl die Chormassen-Szenen der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor unter Ernst Raffelsberger, sondern ebenso die Herren-Ensembles etwa bei der Versammlung im Dogenpalast bestens bedient. Mit den Erste-Sahne-Sängern hatte Gergiev ebenso wenig Probleme wie mit den ohnehin einschlägig bewanderten Wiener Philharmonikern. Die Chemie schien zu stimmen. Das Dunkle und Abgründige der Partitur mied, zu ihren Gunsten, Marina Rebeka, die der Amelia im meerblauen Hänger ihren leuchtend-blühenden Sopran schenkte, der zu heftigen Ausbrüchen fähig ist, lieber als zu zarten Tönen, die die Lettin aber nicht versteckte. Ihren Angebeteten gab engagiert und selbstbewusst der kommende Star auf allen Brettern, die Tenöre brauchen, der US-Amerikaner Charles Castronovo. Unerreicht, was Klangkultur und Basses-Balsam betrifft, auch Verdi-Grandezza und zurückhaltende Italianità: der stilsichere Dresdener René Pape als Fiesco.
Wenn schon finster – ein finsterer Verdi existiert nicht – dann sollte auch die Bühne mitspielen. Die aber blieb bis zum Schluss so hell wie kahl und kalt, bis in den letzten Winkel, sogar im gut choreografierten Vorspiel, das Kriegenburg geschickt „verschleierte“, dennoch verstehbar machte. Fazit: Für Klassikmännerstimmen-Fans ein gefundenes Hör-Fressen.