Kant und der Sozialstaat – Eine rechtsphilosophische Untersuchung zur normativen Basis von Kants ‚Rechtslehre’.

1.Einleitung

Es gib gute, wenn nicht sogar zwingende Gründe, die bisher vorherrschenden Interpretationen von Kants Eigentumstheorie zu revidieren. So soll aufgezeigt werden, dass Kants Moral-, Rechts- und Staatsphilosophie sehr wohl in einem systematischen Zusammenhang stehen und aufeinander aufbauen. Der Eigentumstheorie kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu. Sie entwickelt eine Dynamik, die zum einen die Notwendigkeit aufzeigt, von einem vorrechtlichen in einen rechtlichen Zustand überzugehen, zum anderenenthält siegrundlegende gerechtigkeitstheoretische Prinzipien legitimen staatlichen Handelns. Zudem beinhaltet Kants Eigentumstheorie bereits den Gedanken, dass legitime Eigentumsrechte auch zwischenstaatlicher Rechtsnormen auf globaler Basis bedürfen.

Um die systematische Bedeutung von Kants Eigentumslehre ermessen zu können, soll zunächst das Verhältnis von Moral und Recht skizziert und im Anschluss Kants Eigentumstheorie eingehender dargestellt werden. Von besonderem Interesse ist hierbei die systematische Bedeutung der Eigentumslehre für Kants Staatstheorie, die im Begriff des Weltbürgers ihren Abschluss findet.

2.Das Verhältnis von Moral und Recht

Moral hat nach Kant die Aufgabe, rein moralische Gesetze nur mittels des Gebrauches der reinen praktischen Vernunft zu ermitteln. Die moralischen Gesetze sollen frei von allen heteronomen Beweggründen sein, da sie Grundsätze für den Gebrauch der Freiheit beschreiben, die für alle vernünftigen Wesen verpflichtend sind.[1]

Als grundlegendes moralisches Gesetz formuliert Kant das allgemeine Grundgesetz der praktischen Vernunft. Weil die Menschheit sowohl über praktisches Vernunftvermögen als auch über kontingente Neigungen verfügt, ist das allgemeine Grundgesetz der praktischen Vernunft immer den Charakter einer Sollensforderung. Wegen seiner normativen Verbindlichkeit wird das Gesetz der praktischen Vernunft zugleich als kategorischer Imperativ formuliert. Die strikte Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs, die uns nötigt etwas zu tun oder zu unterlassen, wird von Kant auch moralische Pflicht genannt.[2]
Bei der moralischen Pflicht handelt es sich immer um einen Selbstzwang, der der eigenen moralischen Gesetzgebung entspringt. Im Gegensatz zum Selbstzwang der moralischen Gesetzgebung steht der äußere Zwang des Rechts. Irritierend und erschwerend zugleich ist Kants Unterteilung der Gesetzgebung in eine innere moralische und äußere rechtliche. Beide Gesetzgebungsformen sind zwar einerseits miteinander verbunden, begründen aber andererseits die Differenz von Legalität und Moralität. Die innere Gesetzgebung, die eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht gleichzeitig zur „Triebfeder“ der Handlung macht, ist „ethisch“. Die äußere Gesetzgebung, die nur die Handlung zur Pflicht macht und sich zur Triebfeder der Handlung völlig indifferent verhält, ist dagegen „juridisch“.[3] Kant unterteilt die Pflichten nach Art ihrer Gesetzgebung in Tugend- und Rechtspflichten. Während die Tugendpflichten einer inneren Gesetzgebung entspringen, die dem kategorischen Imperativ verpflichtet sind, werden die Rechtspflichten durch eine äußere Gesetzgebung bestimmt. In der Einleitung zur Rechtslehre findet sich aber auch der Hinweis Kants, dass aus dem kategorischen Imperativ auch der Begriff des Rechts entwickelt werden kann.[4]
Kant weist durch die Methode der doppelten Negation nach, dass der Rechtszwang ethisch zulässig und erforderlich ist. Der Ausgangspunkt von Kants Argumentation ist das allgemeine Rechtsprinzip, das jede Handlung erlaubt, die in Übereinstimmung mit der Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz steht. Dagegen ist jede Handlung unrecht, die den zulässigen Gebrauch von Freiheit behindert. Alle Handlungen, die Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz behindern, dürfen wiederum durch Rechtszwang verhindert werden. Wegen des Zieles unrechte Handlungen zu unterbinden, ist der Rechtszwang eine ‚Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit’und befindet sich in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Rechtsprinzip. [5]
Warum aber soll der Mensch das allgemeine Rechtsprinzip achten? Die Antwort auf diese Frage entwickelt Kant durch seine Neuinterpretation der ulpianischen Rechtsregeln. Aus dem Gebot der Selbstzweck-Formel des kategorischen Imperativs leitet Kant das unbedingte Gebot ab, immer darauf zu bestehen, für andere nie Mittel zu sein, sondern stets als Selbstzweck geachtet zu werden. Jeder Mensch ist durch den kategorischen Imperativ verpflichtet, sich als Rechtsperson zu behaupten. Kant formuliert die erste Rechtspflicht: ‚Sei ein rechtlicher Mensch’.[6]
Die Selbstzweck-Formel gebietet ebenso alle anderen Menschen als Selbstzweck zu achten. Rechtsansprüche, die ein Mensch a priori für sich selbst einfordern darf, muss er auch jedem anderen zugestehen. Deshalb fordert die zweite Rechtspflicht: ‚Tue niemandem Unrecht’. Aus der ersten und zweiten Rechtspflicht kann die dritte Rechtspflicht abgeleitet werden. Die gegenseitige Anerkennung als Rechtsperson erfordert, immer in rechtlicher Form in Gemeinschaft mit anderen zu treten: ‚Tritt in eine Gesellschaft mit anderen, in welchem jedem das Seine erhalten werden kann’. [7]
Das ‚Seine’ ist zunächst die angeborene Freiheit, die im Gegensatz zur Freiheit der Moral nicht ein positives Vermögen ist, sondern lediglich die Unabhängigkeit von der Nötigung durch eines anderen Willen bezeichnet. Die angeborene Freiheit erlaubt deshalb auch alle Handlungsweisen, auch amoralische, die mit dem allgemeinen Rechtsprinzip zu vereinbaren sind. Der angeborenen Freiheit ist das Prinzip der Gleichheit subordiniert, da jeder Mensch über den gleichen naturrechtlichen Anspruch auf Freiheit verfügt.
Zwischen der inneren moralischen Freiheit und der äußeren rechtlichen Freiheit gibt es einen qualitativen Unterschied. In Kants Moralphilosophie ist die Freiheit des Menschen die Befähigung, die unbedingte Verpflichtung der moralischen Gesetze zu erkennen und ihnen folgen zu können. Dagegen ist die Freiheit im Recht lediglich an die Pflicht gebunden, das Freiheitsrecht des anderen zu achten. Das Recht erlaubt alle Handlungen, auch die heteronomen Ursprungs, die der berechtigten Freiheit des anderen keinen Abbruch tun. Dies hat zur Konsequenz, dass rechtskonformes Handeln zwar eine vollkommene Pflicht ist, der alle Rechtspersonen unterworfen sind, die Handlungsgebote des Rechts aber niederschwelliger sind als die Handlungsgebote der ethischen Selbstgesetzgebung, die auch den Tugendpflichten des kategorischen Imperativs verpflichtet sind. Das Recht hat die Aufgabe, die benötigte Freiheit der Willkür im äußeren Handlungsraum zu gewährleisten, dem Einzelnen somit das Handeln nach ethischen Prinzipien zu ermöglichen, aber die Wahl der Maximen der inneren Freiheit des einzelnen zu überlassen.
Der naturrechtliche Anspruch auf die angeborene Freiheit wird von Kant auch als das ‚innere Mein und Dein’ bezeichnet und lediglich in der Einleitung zur Rechtslehre behandelt. Das ‚äußere Mein und Dein’, das den Inhalt des positiven Rechtes ausmacht, wird dagegen ausführlich im Hauptteil der Rechtslehre untersucht.

3.Die Eigentumslehre
3.1 Das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft

Der Grund für die knappe Behandlung der angeborenen Freiheit dürfte die Einschätzung Kants gewesen sein, dass die Evidenz des naturrechtlichen Freiheitsanspruchs keiner weiteren Analyse bedarf. Die Legitimität des äußere Mein und Dein war dagegen für Kant ein nicht unerhebliches Problem. Das äußere Mein und Dein wird, sofern es sich um einen Rechtsanspruch handelt als ‚bloß-rechtlicher (intelligibler) Besitz’ bezeichnet. Kant verwendet den Begriff des bloß-rechtlichen oder intelligiblen Besitzes als ein Synonym für einen modernen verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff, der sowohl Rechtsansprüche auf Sachen als auch gegenüber Personen beinhaltet.[8]

Für Kant bestand das Problem der Eigentumsbegründung weniger darin, dass der äußere Freiheitsgebrauch auch das Recht des Zugriffs auf physische Gegenstände beinhaltet, sondern vielmehr in dem Nachweis, dass es einzelnen Menschen erlaubt ist, anderen Menschen den Gebrauch äußerer Gegenstände zu verbieten. In Kants Eigentumslehre gilt a priori vor jeder staatlichen Ordnung, dass die Erde von Anbeginn im Gesamtbesitz aller Menschen ist. Kant führt für diesen Sachverhalt den vernunfttheoretischen Begriff des ursprünglichen Gesamtbesitzes ein.[9]
Erst in der Druckfassung der Rechtslehre, nicht in den Vorarbeiten zur Rechtslehre, verwendet Kant die apagogische Beweisführung für das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft. Weil der Anspruch aller Menschen auf dasselbe Stück Land zur gegenseitigen Verhinderung von Freiheitsgebrauch führt, ist die einseitige Besitznahme durch das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft erlaubt. Der Gebrauch des rechtlichen Postulates ist aber auch an die Pflicht gebunden, in einen ursprünglichen und a priori vereinigten Willen einer gemeinsamen Gesetzgebung überzugehen.[10]
Viele Kant-Forscher neigen zu der Auffassung, das provisorisch Erworbene würde durch dieallgemein-synthetische Gesetzgebung quasi automatisch zu einem formellen Eigentumsrecht werden. Diese Interpretation bezieht sich auf Kants Argumentation, dass das provisorisch Erworbene die ‚Präsumtion’ für sich habe, durch die Vereinigung mit dem Willen aller zu einem rechtlichen Besitz gemacht zu werden. Zudem spricht Kant auch von der ‚Gunst des Gesetzes (lex permissiva)’ die das provisorisch Erworbene mit sich führt.[11]
Gleichwohl weist Kant aber auch darauf hin, dass die Gunst des Gesetzes, gemeint ist der Gebrauch des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft, nach dem ‚Axiom der äußeren Freiheit’ zeitlich nur bis zur Errichtung eines rechtlichen Zustandes einer allgemein vereinigten Gesetzgebung währt. Die provisorische Erwerbung durch das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft ist eine einseitige und es fehlt ihr an der Zustimmung aller anderen. Zudem ist die einseitige Erwerbung in ihrer Qualität wie in ihrer Quantität gänzlich unbestimmt ist. Die ‚gänzlich schwere’ Aufgabe der Zuweisung von ‚Qualität’ und ‚Quantität’ des Erworbenen weist Kant dem ‚ursprünglichen Vertrag’ zu. Erst wenn dieser eingelöst wird, ist der von Kant so genannte Vorgang der ‚ursprünglichen Erwerbung’ möglich, bei dem erstmals Eigentumsrechte erworben werden.[12]

3.2 Der ursprüngliche Vertrag

Bevor wir die Prinzipien des ursprünglichen Vertrages eingehender untersuchen, sei die Argumentation Kants bezüglich der provisorischen Erwerbung, die im Begriff des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft mündet, noch einmal kurz zusammengefasst. Aus dem Freiheitsbegriff kann Kant problemlos deduzieren, dass Eigentumsrechte im Wesentlichen legitimierte Regeln für einen quantifizierten und qualifizierten Freiheitsgebrauch sind, die durch einen vereinten Gesamtwillen verabschiedet wurden. Wieso aber andere vom Freiheitsgebrauch ausgeschlossen werden dürfen, für die Beantwortung dieser Frage, führt Kant durch eine apagogische Beweisführung den Begriff des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft ein. Das rechtliche Postulat erlaubt die einseitige Besitznahme von bisher herrenlosem Boden, um die Möglichkeit des Freiheitsgebrauches zu erweitern. Gleichwohl ist dieses Postulat rechtlich nur wirksam, bis der Naturzustand verlassen und ein rechtlicher Zustand erreicht wird, der den ursprünglichen Vertrag einlöst. Das rechtliche Postulat entwickelt quasi eine Eigendynamik, die auf die Überwindung seines Geltungsbereiches hindrängt.[13]
Der ursprüngliche Vertrag ist eine Vernunftidee, in der alle Mitglieder eines Volkes, ihre wilde, gesetzlose Freiheit aufgeben und sich der Gesetzgebung eines Staates unterwerfen, um im unmittelbaren Gegenzug ihre gesetzliche Freiheit zu erhalten. Die Unterwerfung des Einzelnen unter die staatliche Gesetzgebung ist mit keinem Verlust der angeborenen Freiheit verbunden, weil die staatliche Gesetzgebung nach dem vereinigten Willen der Staatsbürger erfolgt und auf den Erhalt der natürlichen Freiheit verpflichtet ist. Der Staat wird als Gesetzgeber anerkannt und legitimiert, weil seine oberste Aufgabe die Sicherung der rechtlichen Freiheit aller Bürger ist. Der Staat erhält seine Autonomie, indem er durch den Souverän, die Staatsbürger, auf Verfassungsprinzipien verpflichtet wird, die ihm durch ‚einen kategorischen Imperativ verbindlich’ vorgegeben werden.[14]
Ein Staat, der durch den ursprünglichen Vertrag legitimiert ist, unterliegt dem Prinzip der Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative. Den Staatsbürgern weist Kant die Attribute der gesetzlichen Freiheit, der bürgerlichen Gleichheit und der bürgerlichen Selbständigkeit zu. Die gesetzliche Freiheit verbürgt dem Staatsbürger, nur den Gesetzen gehorchen zu müssen, an denen er im demokratischen Prozess selbst mitgewirkt hat und die bürgerliche Gleichheit, dass er allen politischen Funktions- und Würdenträgern rechtlich gleichgestellt ist und er gleichfalls in eines dieser Ämter berufen werden kann. Die bürgerliche Selbständigkeit ist das Charakteristikum der Freiheit, im ökonomischen Bereich nicht weisungsabhängig zu sein, sondern vielmehr eigenverantwortlich als sein eigener Herr handeln zu könne Bei allen drei Attributen handelt es sich um eine Anwendung der in der angeborenen Freiheit enthaltenen Prinzipien auf die gesellschaftliche Situation des Menschen.[15]
Die vorgestellten staatsbürgerlichen Attribute erfüllen das Kriterium, das auch für die Autonomie der moralischen Persönlichkeit gilt, nur den Gesetzen folgen zu müssen, die man sich selbst oder zusammen mit anderen gegeben hat. Zum Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit sei noch angemerkt, dass Kant im Gemeinspruch bereits eine Formel für soziale Durchlässigkeit entwickelt, die einfordert, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben muss, sich gemäß seines eigenen Talentes in jede beliebige soziale Stellung emporarbeiten zu können. Des Weiteren führt Kant in seiner Friedensschrift das Prinzip der Publizität ein, im heutigen Sprachgebrauch der Transparenz, um Freiheit und Gleichheit für alle Menschen abzusichern.[16]
Im Kontext einer allseitigen Freiheitssicherung kann auch der ursprüngliche Vertrag interpretiert werden. Beim ursprünglichen Vertrag handelt es sich um eine Vernunftidee, die sowohl den Grund für die Konstituierung eines Staats enthält als auch das oberste Prinzip auf das ein Staat verpflichtet ist. Der vorstaatliche Zustand negiert das Recht und überlässt alles der ‚wilden Gewalt’. Erst durch die Einlösung des ursprünglichen Vertrages wird das Recht der Menschheit anerkannt, indem alle Bürger in einem transzendentalen Tausch auf ihre wilde Freiheit verzichten und die gesetzliche Freiheit umgehend durch den Staat erhalten. Der Staat ist durch den ursprünglichen Vertrag auf die Erhaltung der distributiven Gerechtigkeit durch das Recht verpflichtet. Durch die distributive Gerechtigkeit ist es möglich das allgemeine Rechtsprinzip zu wahren, die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller anderen durch eine allgemeine Gesetzgebung in Übereinstimmung zu bringen.[17]
Das Prinzip der distributiven Gerechtigkeit enthält sowohl den Anspruch der Bürger, vor Übergriffen auf die angeborene Freiheit geschützt zu werden, als auch die Pflicht des Staates, allen Bürgern die notwendigen Mittel zur Erhaltung ihres Daseins zur Verfügung zu stellen, falls es ihnen daran mangeln sollte. Zudem ist der Staat in der Pflicht, allen Bürgern soziale Durchlässigkeit zu ermöglichen, so dass es ihnen bei eigener Anstrengung möglich sein muss, in jeden beliebigen Stand aufzusteigen. Die Voraussetzungen für die eingeforderten Aufstiegsmöglichkeiten sind nur gegeben, wenn die Bürger zuvor die Möglichkeit hatten, eine ihren Talentengenügende Ausbildung zu erhalten. Kant selbst betont, dass der Staat die Pflicht hat, für die Eltern die nicht willens oder nicht in der Lage sind, die Erziehung der Kinder bis zu Ihrer Mündigkeit zu übernehmen. Der Staat hat durch den ursprünglichen Vertrag das Recht, die Kosten für die Ausführung der staatlichen Aufgaben bei den Vermögenden in Form von Steuern einzuziehen. Kant spricht sich gegen eine Verlagerung staatlicher Aufgaben auf Stiftungen aus, weil nicht mehr der Souverän, das Volk, über die Art und Weise der Umsetzung staatlicher Aufgaben entscheidet, sondern das subjektive Belieben einzelner Bürger. Versucht man alle genannten Aspekte staatlichen Handelns in einem Prinzip zusammenzufassen, so ist das Prinzip der Chancengleichheit wohl das angemessene.[18]
Die Eigentumslehre Kants vom bloß-rechtlichen Besitz kann ebenfalls unter das Prinzip der distributiven Gerechtigkeit subsumiert werden. Denn der bloß-rechtliche Besitz wird von Kant durch den Umweg seiner apagogischen Beweisführung als berechtigte Erweiterung der intersubjektiven Freiheitsmöglichkeiten eingeführt. Die Regeln zum Erwerb von bloß-rechtlichem Besitz entwickelt die allgemein vereinigte Gesetzgebung der Staatsbürger. Bei der Gesetzgebung ist aber darauf zu achten, dass das Prinzip der distributiven Gerechtigkeit gewahrt wird. Der Rechtsanspruch einzelner Personen auf zu gewährende Handlungsspielräume bedingt gleichzeitig die Einschränkung von Rechtsbefugnissen für andere Personen, wendet man Kants Metapher vom Recht als ‚dem Gesetze der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung’ an. Den intersubjektiven Freiheitsrechten ist Kants Argumentation zufolge auch der bloß-rechtliche Besitz zuzuordnen. Somit ist der bloß-rechtliche Besitz ebenfalls dem allgemeinen Rechtsprinzip proportionaler Freiheitsrechte verpflichtet.[19]
Kant weist im Anhang zum Staatsrecht darauf hin, dass eine Eigentumsordnung, die einem Teil der Bevölkerung die Möglichkeit nimmt, selbst Eigentum erwerben zu können, so ungerecht ist, dass der Staat gegen eine angemessene Entschädigung zu Enteignungen berechtigt ist. Der Staat ist durch den ursprünglichen Vertrag zum Obereigentümer des ursprünglichen Gesamtbesitzes geworden und zur Distribution von Eigentum legitimiert, er darf aber nicht selbst Eigentümer werden, weil sonst der Bürger seine Freiheit wieder verlieren könnte und wieder zum abhängigen Untertan würde. Berücksichtigt man außerdem, dass Kant die soziale Durchlässigkeit für alle Bürger einfordert, ist es nur folgerichtig, anzunehmen, dass der enteignete Boden von den Bürgern erworben werden kann, die zwar zu ökonomisch selbständigem handeln befähigt sind, aber wegen mangelnder Chancengleichheit noch kein Eigentum erwerben konnten.[20]
Kants Eigentumstheorie kann durch die Trias ursprünglicher Gesamtbesitz – ursprüngliche Erwerbung und ursprünglicher Vertrag umrissen werden. Zunächst befindet sich die gesamte Erdoberfläche im Gesamtbesitz der Menschheit. Um die Zugriffsrechte auf alle äußeren Gegenstände durch eine allgemein-synthetische Gesetzgebung regeln zu können, ist die Einlösung des ursprünglichen Vertrages zwingend erforderlich, der die Vereinigung aller Staatsbürger zu einem allgemein vereinigten Gesamtwillen einfordert. Das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft hat somit für die rechtsstaatlichen Verhältnisse nur den Modus eines Übergangsrechts, das auf seine eigene Überwindung angelegt ist.

3.3
Die Eigentumslehre in weltbürgerlicher Absicht

Mit der Errichtung eines Staates auf einem abgegrenzten Territorium ist die von Kant erhoffte zivilisatorische Entwicklung der Menschheit noch nicht abgeschlossen. Die Begrenztheit der Erdoberfläche erzeugt in der Argumentation Kants die praktische Notwendigkeit, rechtliche Verhältnisse auf der gesamten Erdoberfläche zu verwirklichen. Insbesondere das im Naturzustand provisorisch Erworbene kann nur dann in peremtorisches Eigentum übergehen, wenn der ursprüngliche Vertrag für die ganze Menschheit eingelöst wird. Der ursprüngliche Vertrag ist Kant zufolge erst eingelöst, wenn er sich auf die gesamte Menschheit erstreckt. Da Kant einem Staatenbund gegenüber einem Weltstaat den Vorzug gibt, ist der ursprüngliche Vertrag erst eingelöst, wenn auch ein zukünftiges Völkerrecht umgesetzt wurde.[21]
Eine allgemein vereinigte Gesetzgebung kann die Eigentumsverhältnisse im Binnenverhältnis des Staates nur dann auf legitime Weise regeln, wenn das Staatsterritorium durch zwischenstaatliche Abkommen gegenseitig anerkannt wurde. Die Staaten wiederum sind nur dann zu dauerhaften Abkommen legitimiert, wenn sie im Binnenverhältnis den ursprünglichen Vertrag eingelöst haben. Denn erst wenn die Erdoberfläche von Staatenbedeckt ist, deren Staatsbürger zu einem allgemein vereinigten Willen verbunden sind, erstreckt sich der ursprüngliche Vertrag auf die gesamte Menschheit und überführt den ursprünglichen Gesamtbesitz in einen bloß-rechtlichen Gesamtbesitz.[22]
Das Diktum Kants, das Weltbürgerrecht erstrecke sich nur auf ein Gastrecht bei fremden Völkern ist allerdings zu überdenken. So wäre es bei Kant theoretisch möglich, dass ein Staat sich autonom auf ein geschlossenes Handelssystem beschränkt. Angesicht einer Globalisierung, bei der beispielsweise die einen Staaten den anderen Staaten ohne deren Zustimmung notwendige Lebensressourcen entziehen können, wäre zu prüfen, ob es nicht fremdstaatlich verschuldete Notlagen gibt, die den geschädigtenStaatsbürgern das Recht gewähren, mehr als ein Gastrecht zu beanspruchen. Als Beispiel sei auf das Abzweigen von lebenotwendigen Wasserreserven durch fremde Staaten verwiesen oder auf fremd verschuldete Klimaänderungen, die zur Folge haben können, dass ganze Staatsgebiete durch Überschwemmungen in Wasserwüsten verwandelt werden können. Sollten Drittstaaten die Existenzgrundlage anderer Staaten zerstören, ginge die Verpflichtung des ursprünglichen Vertrages zur Daseinssicherung der eigenen Staatsbürger auf die verursachenden Drittstaaten über und das Gastrecht wäre in ein Recht auf Migration verwandelt.[23]

[1] KrV, AA 03, 847B, 869f.B, KpV, AA 05, 43:4-26, GMS, AA 04, 388: 4-14
[2] RL, AA 06, 221f.: 5-36 KpV, AA 05, 19:5-12, 21:6-11, 30:37-39
[3] RL, AA 06, 218: 24-25, 219: 1-16
[4] RL, AA 06, 239: 14-34
[5] RL, AA 06, 230: 29-31, 231: 29-34
[6] RL, AA 06, 236: 24-30
[7] RL, AA 06, 236.: 31-33, 237: 1-8
[8] RL, AA 06: 238:21-25, 249:30-33, Kühnemund, Burkhard: Eigentum und Freiheit – Ein kritischer Abgleich von Kants Eigentumslehre mit den Prinzipien der Rechtslehre, Kassel, 2008, 59f.
[9]RL, AA 06, 262, 26:34
[10] RL, AA 06, 267, 24-37
[11] RL, AA 06, 257: 14-19, 267:24-26, beispielhaft: Ludwig, Bernd: Kants Rechtslehre, Hamburg, 1988, 158, Brandt, Reinhardt: Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart 1974, 198,
[12] RL, AA 06, 266:28-37, 267:24-32
[13] RL, AA 06, 246: 5-19, 252: 24-30, 257: 14-19
[14] RL, AA 06, 315:30-31, 316: 1-5, 318: 4-14
[15] RL, AA 06, 313: 11- 27, 314: 4-16, 316: 8-22
[16] RL, AA 06, 223: 24-31, TP, AA 08, 292: 19-26
[17] RL, AA 06, 230: 29-31, 306: 17-22
[18] RL, AA 06, 280:18-22, 312:34-36, 313:1-5, 313: 29-34, 314: 1-3, 326: 4-32, 327: 1-6
[19] RL, AA 06, 232: 34, 246: 9-35, 247: 1-8, 253: 22-36, 267: 11-16, 305: 34-35, 306: 1-16
[20] RL, AA 06: 323: 21-36, 324: 1-7
[21] RL, AA 06: 266: 28-37, 344: 5-23, 350: 6-12
[22] RL, AA 06, 342:5-13, 343:16-29, 344:1-4, 352:6-9
[23] RL, AA 06, 353:4-9

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