Die Bombe des Grafen Stauffenberg hat bis heute enormen Widerhall. Vor 75 Jahren, am 20. Juli 1944, zündete sie der Generalstabsoffizier in der Wolfsschanze, dem Hauptquartier Hitlers in Ostpreußen. Die Explosion verfehlte ihre geplante Wirkung. Hitler überlebte.
Was wäre geschehen, wenn? Unzählige Male haben Zeitzeugen und Historiker diese Frage gestellt. Doch der 20. Juli 1944 ist nicht der Tag der Befreiung von Hitlers Diktatur geworden – ganz im Gegenteil wurde das misslungene Attentat zur Iintialzündung bislang ungekannten Terrors gegen Andersdenkende im NS-Staat. Dies wurde im Laufe der Jahre in einer Fülle von Einzeldarstellungen, Konferenzen und Kompendien erörtert. Was fehlte, war eine Darstellung dessen, was die Gestapo und die Ermittler des Reichssicherheitshauptamtes an Informationen zum Widerstand gegen Hitler zusammentragen konnten. Das ist jetzt anders. Linda v. Keyserlingk-Rehbein hat nicht nur die NS-Ermittlungen zu den Verschwörern um Stauffenberg, Beck und Goerdeler gründlich untersucht – nein, sie hat die gesamte Forschung zum Widerstand im Dritten Reich mit ihrem Buch „Nur eine ganz kleine Clique? Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk des 20. Juli 1944“ verändert und auf eine neue Grundlage gestellt.
Geradezu überschwenglich lobt zum Beispiel der „Perlentaucher“ das Werk von Linda v. Keyserlingk-Rehbein: „Der schiere Detailreichtum der Studie, der Umfang des Anhangs, die souverän angewandte Methode der kommentierten Netzwerkanalyse, die die Beziehungen der Akteure untereinander und deren Funktionen differenziert in den Blick nimmt und so die Struktur des Widerstands aufzeigt, sowie die Kernthese und ihr auch mit Grafiken geführter Beleg, wonach es sich bei den Attentätern keineswegs nur um eine kleine Gruppe handelte, machen das Buch (…) zum großen Wurf.“ Warum aber gelingt dieser Beleg? Weil die Autorin in ihrer Arbeitshypothese von der Existenz arkaner Netzwerke ausging, gezielt danach forschte – und fündig wurde. So gelang ihr der erste Überblick über das Netzwerk des Widerstands gegen Hitler, das dem Anspruch der Vollständigkeit genügen kann.
Eine größere Wahrheit, als er vielleicht ahnte, dokumentierte der Rezensent der Süddeutschen Zeitung am 24. Dezember 2018, Knud v. Harbou, als er seine Rezension des Keyserlingk-Bandes mit „Verbindung der Verschwörer“ übertitelt. Denn es stimmt: Wer den Widerstand in den Kategorien dessen fasst, was landläufig als „Verbindung“ bezeichnet wird, der kommt ein gutes Stück weiter als viele derjenigen, die sich bisher an dem Phänomen abarbeiteten, dass Menschen aus gesellschaftlich scheinbar völlig unzusammenhängenden sozialen Gruppen und Schichten gemeinsam gegen die NS-Diktatur arbeiteten, ihre unterschiedlichen Ansichten hintanstellten und allesamt ihr Leben aufs Spiel setzten. Viele der Verschwörer waren zu Studentenzeiten in akademischen Corps aktiv gewesen, die gemeinhin unter „Verbindungen“ subsummiert werden, sich aber unter diesen durch strikte Politik-Abstinenz hervorheben.
Die Corps, deren Netzwerk den Nationalsozialisten nicht durchdringen konnten, sind ein Beispiel, bündische Jugendgruppen wie die „Weiße rose“ ein anderes. Bisher so nicht gekannte Kontakte kann v. Keyserlingk-Rehbein zwischen den Widerstandsgruppen nachweisen, denn sie bezieht die sozialen Netzwerke der damaligen zeit mit ein. Das so gewonnene Bild gleicht sie mit dem in den NS-Quellen dokumentierten Wissensstand ab. Daraus ergibt sich, dass die NS-Ermittler über die wirklichen Zentren des Widerstands nicht informiert waren und bis zum Schluss keine Klarheit gewinnen konnten. Diese Zentren lokalisiert die Autorin in der Abwehr bei Oster, Canaris, Dohnanyi, in der Heeresgruppe Mitte bei Tresckow, Schlabrendorff sowie in Paris, wo Stülpnagel und Hofacker die Fäden zogen. Neu ist, dass Kontaktleute an mit militärischen wie zivilen Kontakten – Brücklmeier, Wirmer, v. Hassell, Kaiser, Popitz – in ihrer großen Bedeutung nun deutlicher als vorher erkennbar sind. Speziell die Vermittler zwischen den arkan arbeitenden Widerstandsgruppen, die Nachrichtenoffiziere sozusagen, treten bei v. Keyserlingk-Rehbein deutlicher und klarer konturiert hervor als bisher.
Ein weiterer Vorzug dieser Arbeit: v. Keyserlingk-Rehbein hat die Nachlässe der Widerstandskämpfer hinsichtlich des Kontaktnetzes untereinander ausgewertet. Dies war den Ermittlern im NS-Staat trotz größtem Aufwand längst nicht immer möglich. So offenbart sich, dass unser Bild vom Widerstand gegen Hitler bislang in Teilen von den „Kaltenbrunner-Berichten“ geprägt war, die von den NS-Ermittlern selbst im RSHA zusammengetragen wurden. Die Autorin dieser wegweisenden Monographie kann hier viele Details zur den Kontakten, die die Männer und Frauen des Widerstands untereinander pflegten, beitragen. Auf diese Weise lässt sich die These von einem höchst dezentralen, aber gleichwohl funktionierenden Netzwerk bestärken, das bislang in dieser Größe niemandem bekannt war – nicht der Nachkriegsforschung und schon gar nicht den NS-Ermittlern. War schon 1944 die laut posaunte These von einer „ganz kleinen Clique“ so offenkundig falsch, dass ihr halbwegs orientierte Zeitgenossen keinen Glauben schenkten, so wird nun, mit diesem Buch, die Sachlage nochmals um ein erstaunlich großes Stück klarer. Knud v. Harbou findet in seiner Rezension des Buches, die in einer großen süddeutschen Tageszeitung erschien, die wohl passendsten Worte: „Zukünftig wird man in der Einschätzung des Attentats vom 20. Juli 1944 ohne Bezug auf diese Monografie nicht auskommen.“
Dem Berliner Lukas-Verlag ist zu gratulieren, dass er dieses opus magnum für sein Programm gewinnen konnte. Der fadengeheftete Band bei dem weder ein schlicht-elegan gestalteter Schutzumschlag noch ein Lesefaden fehlen, liegt trotz seiner Größe gut in der Hand. Das mattgestrichene Papier eignet sich bestens für die Darstellung der 20 Graphiken, die die Essenz des Werkes darstellen. Die Bildauswahl erfolgte klug und bedacht – sie gibt den Hauptakteuren ein Gesicht und unterstützt dezent den Duktus. Der äußerst umfangreiche Anhang bietet eine Fülle von Anregungen. Der bereits genannte süddeutsche Rezensent gerät darob gar ins Schwärmen: „Schon im Kapitel über die Quellenlage wird man mit einer neuen Dimension von Anmerkungen konfrontiert, Fußnoten und 180seitiger Anhang lesen sich gewissermaßen wie ein Buch im Buch über den Widerstand und geben als Fundgrube unendliche Anstöße für weitere Forschung.“
So ist nicht nur dem Verlag, sondern auch der Autorin zu gratulieren. Ihr ist ein Meilenstein gelungen. Mit unendlicher Sorgfalt hat sie den biographischen Verästelungen der Biographien des Widerstands gegen Hitler nachgespürt. Das ist nicht nur ein enorme wissenschaftliche Leistung, sondern damit wird – und das ist die vielleicht größte Leistung – den Widerstandskämpfern gegen Hitler auf neue und noch würdigere Weise die Ehre wiedergegeben, die ihnen Freisler und seine Schergen abzusprechen versuchten. Damit hat dieses Werkes über die historische Netzwerkanalyse hinaus auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung.
Gratulieren können sich selbst schließlich all jene, die das Werk schon kennen. Die 34,90 Euro sind bestens angelegtes Geld. Für dieses Referenzwerk können viele Folgeauflagen schon jetzt prognostiziert werden, denn nicht nur Historiker werden es begeistert lesen und in ihre Bibliothek aufnehmen.
Linda von Keyserlingk-Rehbein:
Nur eine „ganz kleine Clique“? Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944.
Lukas Verlag, Berlin 2018. 707 Seiten, 34,90 Euro.