Kurt Barthel, der Dichter des Thälmann-Liedes, ist heute nahezu vergessen, obwohl er in den 1960er Jahren zu den meistgehassten Vertretern des deutschen Kulturbetriebs gehörte. Der sächsische Sozialdemokrat, der über Prag nach England ins Exil gegangen war und sich dort der Freien Deutschen Jugend angeschlossen hatte, wird von der Literaturgeschichte eigentlich nur noch als Stichwortgeber für Bertolt Brechts berühmtes bonmot aus dem Jahre 1953 erwähnt. („Nach dem Aufstand des 17. Juni ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands in der Stalinallee Flugblätter verteilen auf denen zu lesen war, daß das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe und es nur durch verdoppelte Arbeit zurückerobern könne. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“) Unter den auf der Wikipedia aufgelisteten Invektiven gegen Barthel (Hans Mayer: „eine ungemein widerwärtige Figur“) sticht jedoch das Verdikt von Alfred Kantorowicz heraus, der in „KuBa“ – so sein Pseudonym – einen „neuen Horst Wessel“ sehen wollte.
Horst Wessel war bekanntlich kurz vor seinem Tod von Albrecht Höhler angeschossen worden, einem Mitglied des Roten Frontkämpferbundes. Dessen langjähriger Leiter war Ernst Thälmann. Kantorowicz stellt hier also bewusst die in den 1920er Jahren scheinbar so unüberbrückbare Trennlinie zwischen „Rechts“ und „Links“ in Frage. Tatsächlich war Thälmann der Führer, den Adolf Hitler immer nur gespielt hat – folgerichtig wurde er sofort nach der Einsetzung Hitlers zum Reichskanzler als Staatsfeind Nummer eins behandelt und inhaftiert.
Der Prozess gegen ihn markiert den Zusammenbruch der Deutschen Rechtstradition: basierte die Anklage zunächst auf dem Brand des Reichstags, den der (fast blinde) Kommunist van der Lubbe allein verursacht haben sollte, so wurde dieser ohnehin unglaubhafte Vorwand zwei Jahre später fallengelassen, Thälmann aber trotzdem nicht auf freien Fuß gesetzt. Als sein Pflichtverteidiger Dr. Friedrich Roetter selbst auch inhaftiert worden war und alle Unterlagen des Prozesses zur Verschlusssache erklärt wurden, regte sich kurzzeitig ein – leider vergeblicher – Widerstand im gesamten Anwalts- und Juristenstand bis hin zu NSDAP-Mitgliedern (siehe Jakob Taube: „Hans Kahle. Der vergessene Kommandeur der Thälmann-Brigade“, Leipziger Universitätsverlag 2017).
Mit Hitler teilte Thälmann die Erfahrungen der Schützengräben des Weltkriegs, ohne die keinem Vertreter der damaligen Generation politische Glaubwürdigkeit zugestanden wurde. Doch im Gegensatz zu Hitler war Thälmann kein Propaganda-Konstrukt, sondern ein Mensch, mit einer richtigen Lebensgeschichte jenseits der Rednerpulte und Straßenschlachten. Er hatte nicht nur Genossen sondern auch Freunde, die ihn bei seinem Spitznamen „Teddy“ nannten. Als Jugendlicher hatte er sich mit seinen Eltern überworfen (die später wegen Hehlerei verurteilt wurden) und war von zu Hause weggelaufen, zu den Hamburger Hafenarbeitern. Er heuerte als Schiffsheizer an und fuhr nach Amerika. Von dort dürfte er auch, nach einiger Zeit als Landarbeiter in der Nähe von New York, seinen Spitznamen mitgebracht haben: „Teddy“ Roosevelt, der die ersten Nationalparks gründete, war damals Präsident und das Idol der naturbewegten, an Lagerfeuern zur Gitarre singenden Wandervogel-Jugend in ganz Europa. Während Hitler vor dem Spiegel Gesten einübte, als fleißiger Adept von Stanislawskis „method acting“ der er eigentlich war, verwickelte sich Thälmann in Liebschaften. Er hinterließ eine Frau, eine Tochter und wohl auch einige illegitime Kinder.
Die komplementären Machtpole – Hitler in der Reichskanzlei, Thälmann in Buchenwald – bestanden während des gesamten Dritten Reiches und erinnern an Michel Foucaults historische Analyse der gleichzeitigen Entstehung der absoluten Monarchie und des modernen Gefängnisses im Frankreich des 17. Jahrhunderts (siehe „Strafen und Überwachen. Die Geburt des Gefängnisses“). Während der gesamten 1930er Jahre rissen die internationalen Bemühungen, Ernst Thälmanns Freilassung zu erwirken, nicht ab. Eine von Henri Barbusse geschriebene Broschüre „Do you know Thaelmann?“ wurde in New York veröffentlicht. Die Stalinanhänger unter den Kommunisten hielten sich jedoch zurück und als im August 1939 der Pakt zwischen Hitler und Stalin unterzeichnet, er selbst aber weiterhin nicht freigelassen wurde, dürfte Thälmann von seinen eigenen stalinistischen Irrungen weitgehend geheilt gewesen sein.
Damit war jedoch auch sein Todesurteil besiegelt, denn nur ein toter Thälmann konnte zum Objekt gleichzeitigen Hasses und kultähnlicher Verehrung gemacht werden, wie es sofort nach Kriegsende geschah. Thälmann ereilte das gleiche Schicksal wie die entschiedene Lenin-Kritikerin Rosa Luxemburg, die 1919 ermordet und auch 2019 wieder durch einen Gedenkmarsch der Partei Die Linke „geehrt“ wurde.
Man könnte Barthels „Thälmann-Lied“ unter der Rubrik dieser Pseudoverehrung abhaken, doch besonders die zweite Strophe offenbart eine Christus-Nähe, die aus den gängigen SED-Texten jener Zeit auffallend herausragt:
Maßlos gequält und gepeinigt,
Blieb er uns treu und hielt stand.
In seinem Namen vereinigt,
Kämpf um dein Leben, mein Land!
Thälmann und Thälmann vor allen,
Deutschlands unsterblicher Sohn –
Thälmann ist niemals gefallen,
Stimme und Faust der Nation.
In seiner Eigenschaft als Rostocker Chefdramaturg reiste der damals 53jährige Kurt Barthel Anfang November 1967 mit seinem Ensemble nach Frankfurt am Main. Der Polizeibericht vermerkt, bei der Aufführung seien „maoistische Studenten“ zur Bühne gestürmt und hätten „das Singen von Arbeiterkampfliedern“ gefordert, Barthel sei in der ersten Reihe sitzengeblieben, dann aber vom Stuhl gerutscht und auf dem Weg ins Krankenhaus an Herzversagen gestorben – ein in der erhitzten Atmosphäre wenige Monate nach dem Mord an Benno Ohnesorg von niemandem hinterfragtes Szenario. War der „neue Horst Wessel“ angeschossen worden, mit einer der „Heart Attack Guns“ deren Existenz sieben Jahre später im CIA-Untersuchungsausschuss vom US-Senator Frank Church enthüllt wurde?
Wie auch die genaueren Umstände der Ermordung Ernst Thälmanns nach elf Jahren Haft im KZ Buchenwald vor 75 Jahren, dürfte das wohl bis auf weiteres im Dunkeln bleiben.