Südtiroler Freiheitskämpfers Sepp Innerhofer war ein Patriot

Mikrofon, Foto: Stefan Groß

Er war einer der Letzten. Sepp Innerhofers  hochaufragende Gestalt und  markanter, entschlossener Gesichtsausdruck zeugten bis ins hohe Alter äußerlich von jener Willensstärke, welche die Männer auszeichnete, die sich mit dem Frangarter Greißler und Kleinbauern Sepp Kerschbaumer zusammentaten, um im Herbst 1956   den Befreiungsauschuß Südtirol (BAS) zu gründen.  Gleichgesinnte scharten sich um den strenggläubigen Charismatiker  Kerschbaumer und wirkten in konspirativen Klein- und Kleinstgruppen daran mit, die Welt(öffentlichkeit) auf die vom „demokratischen“ Nachkriegsitalien in nach wie vor  totalitärer Gebärde sowie partiell fortgeltender faschistischer  (Un-)Gesetzlichkeit betriebene Unterjochung ihrer Heimat sowie Kujonierung jenes deutschösterreichischen und ladinischen Bevölkerungsteils aufmerksam zu machen, dessen Italianisierung seit  dem (Unrechts-)Vertrag von Saint-Germain-en-Laye und der daraus folgenden Annexion des Landes unterm Brenner durch Italien 1919 weder mittels Entnationalisierung noch durch Umsiedlung gelungen war. Und dem die Siegermächte sowohl nach dem unglückseligen Ersten Weltkrieg, in den die damaligen Staatenlenker nach Ansicht des renommierten australischen Historikers Christopher Clark Schlafwandlern gleich zogen, als auch nach dem verhängnisvollen zweiten Weltenbrand, den der gebürtige Österreicher Adolf Hitler unter aktiver Mithilfe seines italienischen  Achsenpartners Benito Mussolini entfachte, die Selbstbestimmung verweigerte.

Die Aktivisten des BAS verlangten, worauf kein Geringerer als der unlängst im 92. Lebensjahr verstorbene  und unter Beteiligung politischer Prominenz sowie unzähliger Trauergäste aus allen Bevölkerungsschichten in Schenna bei Meran zur letzten Ruhe gebettete Sepp Innerhofer in vielen seiner öffentlichen Mahnrufe stets hinwies, nämlich  die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch den in einen wesensfremden Staat gezwungenen Tiroler Volksteil zwischen Brenner und Salurner Klause bzw. zwischen Reschen und  Dolomiten. Und sie wandten sich in Wort und  ersichtlicher wie vernehmbarer  Tat – woran es den meisten ihrer Volksvertreter  aufgrund realpolitischer, von Rom bestimmter Fakten zwangsläufig, zum Teil aber auch aus einer gewissen Selbstfesselung mangelte  – gegen die römische Verfälschung eines 1946  (aufgrund Drucks der Alliierten) zwischen dem österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide DeGasperi in Paris zustande gekommenen vertraglichen Übereinkommens.  Darin war den Südtirolern die  Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten in Form einer statuarisch festgelegten Landesautonomie zugestanden worden.

Hatten die BAS-Akteure zunächst noch die Hoffnung, dass sich nach der machtvollen Demonstration von 30 000 Südtirolern auf Schloß Sigmundskron und mehrmaligen Vorstößen Wiens – so der Intervention des damaligen Außenministers Bruno Kreisky vor den Vereinten Nationen zugunsten der Südtiroler – die starre Haltung Roms ändern könnte, so sahen sie sich alsbald getäuscht. Die Geduld sei daher zugunsten der Tat gewichen, wie es Innerhofer einmal ausdrückte, weshalb man im BAS beschlossen habe: „Wir müssen lauter werden, sonst hören die uns da unten nicht.“ Sie wurden dann sehr laut, die idealistischen Kämpfer des BAS. So laut, dass ihr „großer Schlag“, das Sprengen von annähernd  40 Strommasten in der sogenannten „Feuernacht“ (11. auf 12. Juni 1961) nicht nur im weiten Rund um Bozen sowie an Eisack und Etsch, sondern weit darüber hinaus gehört wurde. Nicht zuletzt dieses Fanal gab – wider anderslautende  Auffassungen, Deutungen und geschichtspolitische Interpretationen – den Anstoß für Verhandlungen der beteiligten Konfliktparteien, woraus schließlich das zwischen 1969 und 1972 staatsrechtlich inkraftgesetzte neue Autonomie-Statut hervorging, auf dessen Grundlage die heutige (gesellschafts)politische Verfasstheit Südtirols ruht.

Bis es soweit war, begleiteten zahlreiche Rückschläge den Verhandlungsprozeß zwischen Wien sowie Bozen und Rom. Und die BAS-Aktivisten durchlitten ein von der italienischen Staatsgewalt legitimiertes  Purgatorium, das wider die Menschenrechte verstieß und eines demokratischen Rechtsstaates gänzlich unwürdig war. Südtirol  wurde in Belagerungszustand versetzt und  von zusätzlich hinbeorderten Sicherheitskräften förmlich überzogen, sodaß mehr als 20.000 Soldaten, Carabinieri und Spezialisten der Geheimdienste  den verhängten Ausnahmezustand zu gewährleisten  und jede „feindliche Regung“ zu unterdrücken hatten. 150 Freiheitskämpfer des BAS wurden als „bombardieri“ bzw. „terroristi“ inhaftiert, die meisten von Angehörigen einer Spezialeinheit gefoltert, denen Italiens Innenminister Mario Scelba die „Carta bianca“ für ihr barbarisches Tun erteilte.

Sepp Innerhofer, der Obstbauer aus Schenna, der zwei Elektromasten gesprengt hatte,  war unter den Gefolterten.  In der Carabinieri-Kaserne zu Eppan mußte er über mehrere Tage hin Faustschläge, Schläge mit Gewehrriemen und Gewehrkolben ins Gesicht sowie auf alle Teile seines nackten Körpers bis hin zur Bewußtlosigkeit ertragen.  Man schlug ihm einen Zahn aus, riß ihm Haarbüscheln an Kopf und  Geschlechtsteil aus, ließ ihn stundenlang auf Fußspitzen stehen und platzierte eine Glühlampe direkt vor seinem Kopf. Man entzog ihm Essen und Trinken und erzwang schließlich seine Unterschrift unter ein „Geständnisprotokoll“, ohne daß er dieses überhaupt lesen konnte bzw. durfte. In einem aus dem Gefängnis in Bozen, in dem er dann einsaß, herausgeschmuggelten und an Landeshauptmann Silvius Magnago gerichteten Brief vom 22. September 1961 schilderte Innerhofer  die erlittenen Qualen. Eine Reaktion blieb aus.

Wie  andere BAS-Aktivisten wurde auch Innerhofer in Mailand der Prozeß gemacht. Das Urteil lautete drei Jahre Gefängnis und – nach der Haftentlassung  – Verlust der Bürgerrechte für 35 Jahre. Jeglicher Besitz war ihm untersagt, er durfte keine öffentlichen Ämter bekleiden und mußte sich regelmäßig bei den Carabinieri  melden. Erst im Jahre 2000 konnte er wieder das Wahlrecht ausüben.

Verbittert hat ihn dies nicht. Bis ins hohe Alter hielt der Obstbauer Vorträge über das damalige politische und gesellschaftliche Geschehen  aus der Perspektive  des eigenen Erlebten und Erlittenen. Als aktiver Streiter  für die Südtiroler Sache  legte das BAS-Gründungsmitglied  aus der Mitte der Bevölkerung  Zeugnis ab vom Gebaren Italiens, das seinerzeit die Südtiroler entrechtete und gleich einem Kolonialvolk unterjochte.

Innerhofer trat  zwar stets für das Recht auf Selbstbestimmung ein, gab sich aber letztlich doch mit dem auf der Grundlage der schließlich gewährten, rechtlich einigermaßen gesicherten Autonomie erlangten Zustand zufrieden.  Regelwerk und Ausgestaltung dieser politisch-kulturellen Territorialautonomie werden  trotz ihrer immer wieder zutage tretenden, durch römischen Zentralismus verursachten administrativen  Einschränkungen  von Politik und Medien gerne als Projektionsfläche  für die Bewältigung von Problemen anderer in fremdnationaler Umgebung beheimateten Volksgruppen herangezogen  sowie als vorbildgebendes Beispiel für die friedliche Eindämmung von Konflikten in und zwischen Staaten mit ethnischen Konflikten gepriesen.

Indes setzte sich Innerhofer mit seiner immer wieder öffentlich vorgetragenen Zufriedenheitsbekundung zwangsläufig  in einen gewissen Widerspruch zur festen Auffassung  jenes beträchtlichen  Teils der BAS-Aktivisten, deren Haltung und uneigennützigem  Einsatz  sich beispielsweise die  „Kameradschaft ehemaliger Südtiroler Freiheitskämpfer“, der  Südtiroler Heimatbund (SHB) und der Südtiroler Schützenbund (SSB) nach wie vor auf das engste verbunden fühlen und für deren eigentliche  Ziele  vornehmlich die  deutschtiroler Oppositionsparteien im Bozner Landhaus (Südtiroler Landtag)  politisch einstehen. Im Gegensatz zur (heutigen Führung der) Südtiroler Volkspartei (SVP) und der seit 1945 von ihr dominierten Landesregierung, die die – auch infolge entscheidender Mithilfe des BAS errungene – Autonomie  quasi als Wert an sich verabsolutieren, erachten sie diese nämlich nicht als Endzustand, sondern lediglich als Zwischenetappe auf dem nach wie vor zu verfolgenden Weg hin zur Selbstbestimmung.

Sie geben sich daher keinesfalls mit jener im österreichischen Außenministerium ersonnenen und während der Amtszeit des damaligen Ressortchefs Sebastian Kurz  wider „die Ewiggestrigen“ propagierten diplomatischen Formel zufrieden, welche sich mit der Daseinszufriedenheit(sbekundung) des verstorbenen Sepp Innerhofer deckt, wonach es sich bei der Südtirol-Autonomie um eine „besondere Form der Selbstbestimmung“ handele.  Das Ziel der BAS-Erben entspricht vielmehr dem „Los von Rom“, mithin dem ursprünglichen Verlangen aller Südtiroler und der ihnen zugetanen politischen Kräfte in Österreich und darüber hinaus nach Ausübung des Selbstbestimmungsrechts sowie in letzter Konsequenz  nach Wiedervereinigung mit dem Bundesland Tirol und also mit dem Vaterland Österreich.

                                                                                                                            Reynke de Vos

Über Reinhardt Olt 33 Artikel
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt war seit 1. November 1985 politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 1. September 1994 bis zu seinem Ausscheiden am 31. August 2012 mit Sitz in Wien deren politischer Korrespondent für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei. In der FAZ hat er die meiste Zeit seines beruflichen Wirkens zugebracht; daneben nahm er Lehraufträge an deutschen und österreichischen Hochschulen sowie in Budapest wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen. 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der Bundespräsident verlieh ihm im gleichen Jahr den Titel Professor. 2004 wurde er als erster von diesem mit dem "Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt"; ebenfalls 2004 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 ernannte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.) sowie Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Geboren wurde Olt 1952 als Sohn eines Bauern im Odenwald. Sein Abitur bestand er 1971 in Michelstadt. Nach Ableistung des Wehrdienstes studierte er Germanistik, Volkskunde, osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Freiburg und Gießen bis zur Promotion 1980. Es folgte an der Universität Gießen eine Assistententätigkeit. Dann begann 1985 seine Zeit in der FAZ.