Mehr europäische Handlungsfähigkeit kostet nationale Souveränität meint Ingo Friedrich

Europäisches Parlament in Brüssel, Foto: Dr. Dr. Stefan Groß

Im Vorfeld der Europawahl am 26. Mai wird von vielen Bürgern immer wieder verlangt, dass Europa endlich »handlungsfähiger« werden müsse, um auf Krisen schneller und entschlossener zu reagieren. Insbesondere müsse doch die »leidige« Steuerfrage, wonach amerikanische Großkonzerne wie Google, Starbucks, Amazon u.a. in Europa praktisch keine Steuern zahlen, schnell gelöst werden. Eine solche Ungerechtigkeit »schreie doch geradezu zum Himmel« und sei ein typisches Beispiel für die Unfähigkeit Europas, wichtige Fragen zu
lösen.
Als europäischer Politiker möchte man da laut schreien und sagen »Ja, Frau oder Herr Bürger, Sie haben ja so recht, aber wissen Sie, dass gerade in Steuerfragen laut EU-Vertrag immer noch ein striktes Einstimmigkeitserfordernis gilt?« Und: wenn aus diesem Grunde die Steuern nicht europäisch sondern immer noch national geregelt werden, entsteht nicht nur ein »gesunder« Steuerwettbewerb unter den Staaten. Wenn es um derartig hohe Einnahmen
geht, dann unterbieten sich einzelne Staaten in geradezu ruinöser Form nur um so einen Superkonzern mit niedrigsten Steuersätzen ins eigene Land zu locken.

Die Abschaffung des Einstimmigkeitserfordernisses wäre für diesen Fallsicher eine Lösung, aber sind wir wirklich schon bereit, die so sensiblen Steuerfragen nicht mehr national, sondern europäisch entscheiden zu lassen? Immerhin gehören Steuerfragen zum Kernbestand der
nationalen Souveränität. Eine Europäisierung dieses Bereiches würde also eine erhebliche Reduzierung nationalstaatlicher Souveränität bedeuten.

Eine ähnliche Problematik stellt sich bei der Forderung nach mehr europäischer Handlungsfähigkeit im Sicherheitsbereich: Wo bleibt der Bundestagsvorbehalt, wenn sicherheitspolitische und evtl. auch militärische Einsätze der Handlungsfähigkeit wegen europäisch statt national entschieden werden? Viele der derzeit so aggressiv auftretenden Rechtsaußenparteien nutzen ebenfalls diese Sorge vor der Abgabe nationaler Souveränität,
um Stimmung gegen Europa zu verbreiten, während sie gleichzeitig die Unfähigkeit Europas bemängeln, schnell und zügig wichtige Entscheidungen zu treffen. Auch beim Brexit hat diese Thematik eine entscheidende Rolle gespielt: Die Brexiteers wollten wieder die »volle Kontrolle«, also die Souveränität über ihr Land zurückbekommen.

Dass der Wunsch »Wasch mich aber mach mich nicht nass« nicht funktioniert, ist eine uralte Weisheit, die auch für die europäische Realität gilt: Wer mehr europäische Handlungsfähigkeit fordert muss auch bereit sein, dafür ein Stück eigener Souveränität zu »opfern«. Dafür wäre eine bessere gemeinsame europäische Öffentlichkeit sicher hilfreich und umgekehrt schaden Internet-Plattformen wie Cambridge Analytica immens, wenn sie Hass, Fakenews und Misstrauen verbreiten.

Fazit: Je mehr Handlungsfähigkeit wir von Europa verlangen, desto mehr müssen wir Deutsche (wir Franzosen, wir Polen, wir Italiener) bereit sein, gewisse Souveränitäts-
bereiche gemeinsam statt allein auszuüben.

Über Ingo Friedrich 62 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Er war Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP) und Präsident der Europäischen Bewegung Bayern. Seit 2009 ist er Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und war Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.