10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention. Ein Grund zum Feiern?

Inklusion könnte einfach sein – bei Berücksichtigung der Bedürfnisse von Schwerbehinderten

Fotocopyright: Reinhold Roppert

Derzeit finden in Deutschland überall Feiern zu 10 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention statt. Auch in München gab es nun am 5.4.2019 eine Party. Veranstalter waren der Behindertenbeirat und der Behindertenbeauf­tragte der Landeshauptstadt München mit Unterstützung des Koordinierungsbüros zur Umsetzung der UN-BRK. Veranstaltungsort war die Freiheizhalle, die für Rollstuhlfahrer barrierefrei zugänglich ist. Beginn 17 Uhr.

Am Eingang gab es wahlweise Prosecco oder Orangensaft als Begrüßungsgetränk. Im Vorraum vermischten sich Fußgänger und Rollstuhlfahrer, wurden aber in der Halle wieder aufgeteilt, so daß die Fußgänger links und rechts  auf den Stühlen saßen und die Rollstuhlfahrer hintereinander aufgereiht an den Innenrändern des markierten Durchgangs, auf dem sich später nur noch Fotografen und Kameraleute aufhielten.

Eine Gebärdendolmetscherin, Schrift­dolmetschung und eine Induktionsanlage standen für die gesamte Veranstal­tung zur Verfügung. Auch eine Behindertentoilette ist in der Freiheizhalle vorhanden. 

Die Party wurde liebevoll organisiert und die Laune der Gäste war dementsprechend gut.

Es gab allerdings beim Schriftdolmetschen (d.h. Mitschreiben der Gespräche, damit Gehörlose sie auch verfolgen können) wiederholt Probleme, da die Interviewpartner von Christoph Süß zu schnell sprachen, um alles zeitgleich mitschreiben zu können. So schlich sich dann auch der ein und andere Fehler in den live mitlesbaren Text auf der Projektionsfläche ein.

Die Liste der prominenten Gäste auf der Einladung für die  angekündigte Podiumsdiskussion machte neugierig: 

Verena Bentele, Raul Krauthausen, Constantin Grosch, Marc Nellen, Josef Mederer, Horst Frehe

Christoph Süß, den wir von der BR-Sendung „quer“ kennen, moderierte den Abend und das tat er großartig in seiner gewohnt lässigen Art, mit der er auch regelmäßig die Söder-Puppe auf den Arm nimmt. 

Die Namen Raul Krauthausen und Constantin Grosch ließen ahnen, daß es auch kritische Töne geben würde, weil die beiden Aktivisten als kämpferisch bekannt sind. Beide verstehen es meisterlich, den Finger in die Wunden zu legen, geschickt nachzufragen und auf die Missstände aufmerksam zu machen.

Die Bürgermeisterin Christine Strobl begrüßte die Gäste. Raul Krauthausen hielt im Anschluß eine flammende Rede über Inklusion und vergaß dabei auch die Schwerbehinderten in den Werkstätten nicht, die nicht einmal Mindestlohn bekommen.

Einige Zitate aus der Rede von Raul :

„Wir diskutieren viel zu oft das OB  und viel zu wenig das WIE.“

„Menschen mit Behinderungen von Vornherein einzureden, daß sie etwas nicht können, oder ihnen die Möglichkeiten zu nehmen, etwas auszuprobieren, ist die eigentlich kriminelle Handlung.“

„Es gibt im Übrigen keine Barrierefreiheit die Menschen ohne Behinderung je geschadet hat. Wir profitieren alle…“

„Wir betrachten Menschen mit Behinderungen immer als Kostenfaktor. Wir sehen aber nie ihre Potentiale.“

„Seit 20 / 30 Jahren gibt es die Konzepte. Reden Sie nicht mehr von „Leuchtturmprojekten!“

„Was uns fehlt ist die Verpflichtung!“

„Stellen Sie sich mal vor, wenn Brandschutz freiwillig wäre. Mit Freiwilligkeit kommen wir hier nicht weiter.“

Verena Bentele, neue Präsidentin des VdK und ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesrepublik,  erzählte, nach ihren Erfolgen befragt, von ihrer Zeit als Behindertenbeauftragte und daß sie erreicht hätte, daß sich das Bewußtsein verändert habe, da sie als selbst Behinderte (Frau Bentele ist blind) ihre eigenen Erfahrungen einbringen konnte und daß es jetzt eine Schlichtungsstelle gebe. 
Sie kritisierte die Trägheit des politischen Systems, die Barrieren in den Köpfen und meinte weiter: „Beim Thema Inklusion scheitert es oft daran, daß sich keiner traut, das System, wie es ist, in Frage zu stellen.“

Horst Frehe, Vorstand der ISL e.V., berichtete, daß in Bremen Förderschulen aus dem Gesetz gestrichen wurden und daß sie Barrierefreiheit erfolgreich vorangetrieben haben, so daß es deutlich erleichtert wurde, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. (Horst Frehe ist selbst Rollstuhlfahrer.)
In Bremen gibt es nur noch einen einzigen Sonderkindergarten, alle anderen sind inklusiv.

Constantin Grosch sagte im Hinblick auf die Verbesserungen in den letzten 10 Jahren, daß die Ergebnisse recht ernüchternd sind, weil er den Systemwechsel, der von der Politik groß angekündigt wurde, nicht feststellen kann. 

Marc Nellen vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales betonte, daß er ihn verstehen kann. Dann folgte das übliche Kostenargument. Es sei auch nicht der Auftrag des Bundesteilhabegesetzes oder der gesellschaftliche Auftrag gewesen, die UN-Behindertenrechtskonvention eins zu eins umzusetzen. Der politische Auftrag sei gewesen, bestimmte Verbesserungen herbeizuführen und das sei geschehen.

Constantin fragte im Zusammenhang mit Strukturierung, Teilhabeplänen und fehlender Autonomiemöglichkeiten provokant nach, wie oft Herr Nellen seine Teilhabe plane. Die Frage machte wohl auch den Nichtbehinderten im Publikum deutlich, wie schwierig die Situation für Betroffene oft ist, die mit unterschiedlichen Sachbearbeitern über ihre Lebensbedingungen verhandeln müssen. 
Herr Nellen argumentierte damit, daß manche Gesetze erst noch in Kraft treten werden und daß man diese dann auch erst mal unter dem Fokus, wie weit sich die Situation der Menschen verbessern werde, erforschen und beobachten müsse. Er sei überzeugt, daß Verbesserungen erzielt wurden und auch noch werden. 

Constantin Grosch wies darauf hin, daß alles recht kompliziert sei und nicht recht funktioniere, daß Schwerbehinderte oft nicht einmal selbst bestimmen können, wo und wie sie wohnen wollen und erwähnte dabei auch den Fall von Markus Igel. Die Autonomie sollte bei den Betroffenen liegen, damit sie eben nicht mehr zu jedem Scheißamt laufen müssen. Ein weiteres Problem sei die Regionalisierung, wegen der es in manchen Bundesländern sehr schlecht laufe und in manchen ganz gut.

Constantin Grosch machte auch noch deutlich, wie schwierig es ist, alles ehrenamtlich zu leisten, nachdem Herr Nellen die Schwerbehinderten aufforderte, sich zu organisieren, eine Lobby zu bilden und als Selbstvertretungsorganisationen auf die Politik zuzukommen. Natürlich kann man ohne Geld schlecht zum Protestieren vor Ort sein, da man nicht einmal die Hilfen erhält, um den Mund aufzumachen…

Josef Mederer, CSU-Politiker und Präsident des Bezirks Oberbayern, der sich auch gerne mit „Herr Präsident“ ansprechen läßt und für sein großtuerisches Auftreten bekannt ist, konnte beim Publikum, das ihn zum Teil wohl ganz gut kennt, eher nicht punkten.

Natürlich ging es auch gleich wieder um Geld und Kosten.

Herr Mederer  behauptete, daß für ALLE Menschen Arbeit angeblich mehr als Geld verdienen ist.

Auch werde der individuelle Hilfebedarf festgestellt. (Gelächter im Publikum)

Raul Krauthausen machte darauf aufmerksam, daß die Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten und den so genannten Außenarbeitsplätzen nicht einmal Mindestlohn verdienen und betont, daß sie kein eigenes Zuhause haben, ihre Arbeit nicht selbst wählen können und das arbeiten müssen, was die Werkstatt gerade frei hat. Raul fragt dann auch noch nach:  

Woher kommt eigentlich diese wahnwitzige Idee, daß Menschen, die schwerst mehrfach behindert sind, in einer Werkstatt sind und arbeiten?

Diese Idee, auch das letzte Fünkchen der Nutzbarmachung aus jemandem herauszupressen, die ist doch pervers.“

Herr Mederer, der im Trachtenjackerl erschienen war, lobte sich mal wieder als Wohltäter:

„Wir bemühen uns redlich in Oberbayern hier eine hohe Verantwortung im Sinne von betroffenen  Menschen zu übernehmen, umzusetzen und …ähm.. das liegt uns am Herzen.“
Der Aussage folgte schallendes Gelächter aus den Reihen des Publikums. Raul Krauthausen fragte nach, warum das Publikum lacht. Josef Mederer meinte sichtlich verärgert: „Das müssen Sie es selber fragen.“

Wer die Zustände in der sogenannten Eingliederungshilfe-Abteilung dieser Behörde kennt, weiß, daß dort vieles nicht so läuft, wie es sein sollte. Da „verschwinden“ schon standardmäßig immer wieder eingereichte wichtige Unterlagen, es werden deutsche Gesetze wie das Persönliche Budget für Schwerbehinderte mit unfassbaren Methoden boykottiert und Schwerbehinderten auch schon mal Verleumdungen und FREMDE Patientenblätter untergejubelt, um ihnen Krankheiten anzudichten, die sie gar nicht haben. So versucht man wohl eben auch mal Richter vom Sozialgericht oder Betreuungsgericht zu manipulieren, um jemanden loszuwerden, der irgendwie lästig ist, weil er sich gegen die willkürliche und übergriffige Bevormundung  oder Tyrannei durch inkompetente Sachbearbeiter wehrt. Die psychiatrischen Bezirks-Kliniken, in denen Menschen „verschwinden“ können, hat der Bezirk ja selbst im Griff…
(Der Landesdatenschutzbeauftragte wurde wiederholt darüber informiert, daß der Bezirk Datenmissbrauch betreibt und sich nicht an die DSGVO hält.)

Ich möchte nochmals anmerken, daß für die Münchner Diskussion NIEMAND von den Betroffenen aus Oberbayern zu der Diskussion auf die Bühne eingeladen wurde, so daß Herr Mederer wohl überrascht war, daß es trotzdem eisigen Gegenwind gab. 
Ein Bekannter im Rollstuhl meinte, daß Raul Krauthausen Herrn Mederer zu wenig zu Wort kommen ließ, aber ich sehe das weniger kritisch als er. Eine Behörde, die hartnäckig die Beschwerden von Schwerbehinderten und psychisch Kranken ignoriert, darf auch gerne mal selbst ungehört bleiben. 

Josef Mederer hatte mehrere Bezirksrätinnen (Männer sind mitgemeint) dabei und ging wohl davon aus, daß sein Applaus somit gesichert sei.

Zur Befragung von Leuten aus dem Publikum kam es dann aber leider nicht mehr, denn Christoph Süß holte Oswald Utz, den Behindertenbeauftragten der Stadt München, auf die Bühne um sein Fazit zu dem Abend zu hören. Dieser meinte unter anderem: 

„Von Runde zu Runde ist es irgendwie … giftiger … geworden.“

„Jetzt geht es auch darum, darüber nachzudenken, ob man auch die Strukturen verändern muß.“ 
(Dazu würde ich dringend raten, denn so wie das System derzeit ist, stinkt es gewaltig.)

„Wir müssen uns sichtbar machen.“

Ja, da hat er Recht. Das klingt auch erst mal gut, wird aber vielen Betroffenen schon von den zuständigen Behörden unmöglich gemacht. Teilhabe kostet nun mal auch Geld. Wir dürfen dabei auch nicht diejenigen vergessen, die aus gesundheitlichen oder psychischen Gründen gar nicht mehr in der Lage sind, sich gegen Bevormundung und Tyrannei zu wehren. Diese leben dann isoliert in irgendwelchen unangenehmen Parallelwelten.

Auch noch neben vielen anderen in der Menge gesichtet: Jürgen Dusel, neuer Behindertenbeauftragter der Bundesrepublik und Holger Kiesel, neuer Behindertenbeauftragter des Staatsministeriums Bayern.

Der Vorraum war nach den Auftritten auf dem Podium schnell überfüllt, so daß es für die Rollstuhlfahrer kaum mehr eine Chance zum Durchkommen in Richtung Buffet gegeben hätte. Das Problem wurde von den Veranstaltern schnell erkannt und gelöst, indem freundliche Helfer und Helferinnen mit lecker bestückten Tabletts herumliefen und allen in der Halle gebliebenen Menschen Häppchen und süße Desserts anboten. Nach dem flinken Umbau der Halle gab es diverse Tische mit einigen Stühlen, an die man auch als Rollstuhlfahrer heranrollen konnte, so daß man in fröhlicher und gemischter Runde gemütlich essen und reflektierende Gespräche führen konnte. 

Getränke gab es auch, die mußte man aber holen (lassen) und extra bezahlen. Die Partyband „Felix and the Machines“ sorgte noch bis in die Nacht für gute Stimmung und auch so manche Rollifahrer begaben sich zu den Tanzenden auf das Parkett. 

Dieser Abend hat gezeigt, daß Inklusion so einfach sein könnte, wenn man die Bedürfnisse von Schwerbehinderten berücksichtigt. Jedenfalls tauschten wir uns fleißig aus, knüpften Kontakte, genossen die Leckereien, lauschten der Musik und freuten uns über die gelungene Party, obwohl die an dem Abend gefeierte Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention noch immer auf sich warten läßt…

Wir werden wohl auch in den kommenden Jahren noch oft erleben, daß sich Politiker medienwirksam mit Rollstuhlfahrern und Blinden ablichten lassen, weil es so gut für das Image ist und daß sich die Politik selbstgefällig auf die Schulter klopft, während wir draußen bleiben müssen, da man immer nur mit den ewig gleichen Gesprächspartnern über uns anstatt direkt mit uns spricht. 
Es werden gerne nur diejenigen Schwerbehindertengruppierungen vorgelassen, mit denen man schon immer spricht und selbst die dürfen nur beraten, aber bekommen kein eigenes Stimmrecht.

Das ist dann wohl das, was man unter politischer Teilhabe versteht. 


Es gibt eigentlich nichts zu feiern, aber in diesem Sinne: Prost!

Über Patricia Koller 22 Artikel
Die Autorin Patricia Koller recherchiert und schreibt zu sozialen Themen (wie z.B. Opfer von Gewaltverbrechen) und kämpft als Aktivistin für die Verbesserung der Rechte von Schwerbehinderten und psychisch Kranken. Sie ist ehrenamtliche Helferin für Schwerbehinderte und psychisch Kranke und Leiterin der Selbsthilfegruppe “Persönliches Budget für Schwerbehinderte – Behindertenrecht”.