Politik als ewige Versuchung der Kirche Fastenaktion der EKM 2019 wider die „Freie Fahrt für freie Bürger“

Kirche, Foto: Stefan Groß

„Angesichts des Klimawandels gehört die >Freie Fahrt für freie Bürger!< auf den Prüfstand.“ So ist aktuell, im Februar 2019, auf einer Homepage zu lesen. Die Argumente verdienen eine Erörterung. Sinngemäß: Tempo 130 auf Autobahnen senke die Treibhausgase, vermeide Staus und verflüssige den Verkehr, spare Kosten und vermindere die Zahl der Verkehrstoten. Zu lesen ist all dies nicht beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat, der Umwelthilfe oder auf den Seiten deutscher Parteien, sondern auf der Homepage der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Die Kirche plant danach „beim Deutschen Bundestag eine Öffentliche Petition für ein generelles Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen einzureichen. Kommen in vier Wochen 50 000 Unterschriften zusammen, erfolgt eine öffentliche Anhörung im Petitionsausschuss. Darauf zielt die Aktion“, heißt es auf der Seit wörtlich.

Branchenspezifisch soll die Aktion am Aschermittwoch, dem Beginn der Fastenzeit starten. Ich bekenne, mit dem Inhalt der Petition durchaus einverstanden zu sein. Mit der Urheberschaft meiner Kirche bin ich es nicht. Mit der moralischen Aufladung via Klimawandel und Fastenzeit schon gar nicht. Aus grundsätzlichen Erwägungen. Die rein politische Aktion erinnerte mich an ein scharfes Verdikt des evangelischen Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf, der 2011 in seinem Buch „Kirchendämmerung“ schrieb: „Zum politischen Personal der Berliner Republik gehören nicht nur Berufspolitiker aller Couleur, sondern auch eine moralisierende höhere Klerisei, die zu allem und jedem Stellung nimmt.“[1] Grafe trug in seiner Streitschrift sieben Untugenden der Kirche zusammen. Das Zitat stammt aus dem Kapitel „Demokratievergessenheit“.

Die Kirchen sind auf derartige Vorhalte vorbereitet. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat sogar eine eigene Denkschriften-Denkschrift, die unter dem Titel „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ 2008 neu gefasst worden ist. Dort heißt es etwa in Ziff. 27 „Inwiefern kirchliche Verlautbarungen zum öffentlichen Leben bindende Wirkung haben, ist im Blick auf ihre innere Richtigkeit gewissenhaft zu prüfen.“ Diese bindende Wirkung habe „keinen (kirchen-)rechtlichen sondern geistlichen Charakter, indem sie die Gewissen bindet.“[2] Dass sie gar nicht bänden, behauptet die EKD jedenfalls nicht. Und in Ziff. 50 heißte es: „Für die einzelnen Christen sind diese Orientierungen ein Angebot, das aufzeigt, welche ethischen Gesichtspunkte aus evangelischer Sicht im beschriebenen Themenfeld zu bedenken und welche Handlungsoptionen verantwortbar sind.“[3] Also auch: Welche Handlungsoptionen nicht verantwortbar sind. Das bürdet den Absender und Empfänger dieser Botschaften eine ganze Menge auf.

Der Einzelne, das geistliche und das weltliche Regiment

Was wer wie auf dem politischen Feld zu bestellen hat, ist eine Frage, die sich die Kirchen und jeder Christ für sich in seinem Verantwortungsbereich immer wieder neu stellen müssen. Die Unterscheidung zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Regiment ist so alt wie das Christentum selbst. Denken wir nur an das Gleichnis vom Zinsgroschen (Mk 12, 13-17). Was Gottes und was des Kaisers ist, ist eben zu unterscheiden. Wobei weltliche Herrschaft in der Demokratie im Grunde die Angelegenheit aller ist. „Die politische Verantwortung ist im Sinne Luthers `Beruf´ aller Bürger in der Demokratie“, heißt es dazu in der Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985.[4] Kaiser sind wir als Staatsbürger sozusagen alle gemeinsam.

Die Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment war eine der mächtigen Antriebsfedern der europäischen Entwicklung. Diese Unterscheidung hat enorme Kräfte freigesetzt, die Herausbildung der modernen, gewaltenteilenden Staaten vorangetrieben. Und sie hat geholfen Absolutheitsansprüche zurückzuweisen. Udo Di Fabio beschrieb dies vor der EKD-Synode im November 2015 zutreffend als „Koevolution von etwas kategorial Getrenntem und eng aufeinander Bezogenem“.[5]

Der Beitrag des Protestantismus zu dieser Unterscheidung ist erheblich. Er hat gleichsam die Emanzipation des weltlichen vom geistlichen Regiment vorangetrieben. In Artikel 16 der Confessio Augustana heißt es: „Denn das Evangelium lehrt nicht ein äußerliches, zeitliches, sondern ein innerliches, ewiges Wesen und die Gerechtigkeit des Herzens; und es stößt nicht das weltliche Regiment, die Polizei (=Staatsordnung) und den Ehestand um, sondern will, dass man dies alles als wahrhaftige Gottesordnung erhalte und in diesen Ständen christliche Liebe und rechte, gute Werke, jeder in seinem Beruf, erweise.“

Im vergangenen Jahrhundert war die Unterscheidung noch einmal von anderer Seite aus auszubuchstabieren. Da war es der nationalsozialistische Weltanschauungsstaat, der die Kirche vereinnahmen und das geistliche Regiment aushöhlen wollte. Eric Voegelin und Raymond Aaron sprachen mit Blick auf den Nationalsozialismus, aber auch den Kommunismus von „politischen Religionen“. Denn diese Ideologien beanspruchten, die Sinn- und Seinsfragen gleich mit zu beantworten und daraus politische Ansprüche abzuleiten.[6]

Das war der Punkt, an dem die Bekennende Kirche 1934 mit der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung ansetzte und die für unser christliches Verständnis konstitutive Unterscheidung zwischen Staat und Kirche prägnant formulierte: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“

Diese lange historische Erfahrung und die lange christliche Denktradition haben sich schließlich in der Präambel des Grundgesetzes niedergeschlagen. Das deutsche Staatsvolk, repräsentiert durch die Mütter und Väter der Verfassung, gab sich das Grundgesetz „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen….“. Der erste Satz des Grundgesetzes enthält zwei Botschaften: Die politische Ordnung ist nach dem Willen seiner Verfassung eine Ordnung unter Gott ist. Jene, die diese Ordnung tragen und verantworten müssen und wollen sich dem stellen – jedenfalls soweit sie Christen sind. Politisches Handeln ist rechenschaftspflichtig vor Gott und dem Gewissen. Und darin steckt zum anderen die Selbstbegrenzung der politischen Ordnung.

Das Gesagte betrifft die formale Seite. Es gibt auch die inhaltliche, materielle Seite. Man muss nicht die gelegentlich überstrapazierte Rede von der „Eigengesetzlichkeit“ des weltlichen Regiments bemühen, um doch folgendes zu erkennen: Die Notwendigkeiten sind in den politischen Ordnungen und im politischen Leben durchaus andere als im geistlichen Regiment. Der Staat habe die Aufgabe, so die bereits zitierte Barmer These, „in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“ Vor dem Hintergrund dieses kleinen historischen Exkurses möchte ich nun drei Überlegungen nachgehen:

  1. Welches Mandat die Kirchen zur politischen Urteilsbildung für Christen hat.
  2. Wie weit dieses Mandat reicht und welchen Geltungsanspruch es haben kann.
  3. Warum im kirchlichen Verlautbarungswesen weniger mehr ist.

Das Mandat der Kirchen zur politischen Urteilsbildung für Christen

Ich zitiere zu diesem Punkt nun auch die letzten Sätze aus der V. These von Barmen: „Sie [die Kirche] erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.“ Damit ist meines Erachtens das zu dieser Frage Entscheidende gesagt: Die Kirche hält den religiösen, christlichen Horizont gegenwärtig, wohl wissend, dass Gottes Reich nicht von dieser Welt ist (Joh. 18,36).

Sie erinnert Regierende und Regierte in diesem Zusammenhang an ihre Verantwortung, das heißt, dass sie mit unter Gottes Gebot stehen und verantwortlich sind. Bei der gedanklichen Entfaltung und Erschließung dessen, was Gottes Reich, Gottes Gebot und Gerechtigkeit sind, haben Kirche und Theologie ihre Kompetenz. Sie sind für jeden Christen wichtige Ansprechpartner, wenn es um die Entwicklung ethischer Maßstäbe geht. Und übrigens auch für den Staat, der kirchliche Vertreter gern in diverse Kommissionen beruft.

Dieses Mandat nutzen die Kirchen aktiv, wenn sie Maßstäbe aufzeigen. Etwa die vorrangige Option für die Schwachen und Armen, das Gerechtigkeitsgebot, das Friedensgebot, die Bewahrung der Schöpfung oder etwa das Gegenseitigkeitsgebot, die goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Mt. 7,12). Aus der besonderen theologischen Kompetenz lässt sich freilich kein Monopol ableiten. Das Priestertum aller Gläubigen ist elementares protestantisches Erbe.

Reichweite und Geltungsanspruch dieses Mandats

Mit weit weniger Autorität können Kirchen und kirchliche Amtsträger sprechen, wenn es darum geht, Maßstäbe in konkret gegebenen historischen oder politischen Entscheidungssituationen anzuwenden. Und das gleich aus mehreren Gründen: Ich wage zum einen die These, dass es kaum politische Fragen gibt, in denen man auch als Christ denknotwendig nur zu einer Lösung kommen kann. Diese innere Pluralität müssen Geistliche und Kirchenleitungen ernst nehmen. Ein Tempolimit auf Autobahnen ist da ein noch eher harmloses Beispiel.

Der Geltungsanspruch ist aber auch dadurch begrenzt, dass Deutschland ein religiös und weltanschaulich neutraler Staat ist. Dieser Staat ist damit im vollen Umfang autonom gegenüber allen irgendwie gearteten religiösen oder weltanschaulichen Ansprüchen. Christen mögen ihre Standpunkte und Perspektiven einbringen und den Staat als weltliches Regiment und Anordnung Gottes betrachten, doch sie befinden sich damit im gleichberechtigen Wettbewerb mit anderen Deutungsmöglichkeiten des Daseins und der öffentlichen Ordnung.

Zurückhaltung ist schließlich mit Blick auf die Balance unserer modernen Welt gefragt. Viele von uns beklagen die Ökonomisierung immer weiterer Lebensverhältnisse. Das geht uns leicht von den Lippen. Gut erinnerte Zeitgeschichte ist der vorhin erwähnte Versuch der sogenannten „politischen Religionen“, nach dem ganzen Menschen zu greifen. Heute fürchten sich viele Menschen vor dem Islam, weil er zwischen Politik und Religion nicht ausreichend trenne und also diese Religion totalitäre Züge annehmen könne.

Udo Di Fabio hat das Problem in der bereits erwähnten Rede vor der EKD-Synode im November 2015 auf den Punkt gebracht: „Die Entdifferenzierung, die Vereinfachung, die einfache Welterklärung ist immer möglich, aber sie kann in einer reflektierten Form nicht das sein, was wir wirklich wünschen. Auch die Glaubensgewissheit hat eine entdifferenzierende Stoßrichtung, genauso wie politische Herrschaft eine entdifferenzierende Stoßrichtung hat, genauso wie wirtschaftliche Rentabilität nur sich selbst kennt und nur über sich selbst hinauswächst.“[7]

Jedes moderne Funktionssystem will nach seiner je eigenen Logik tendenziell immer das Ganze. Das fürchten wir zu Recht. Das heißt für den Glauben dann aber auch, Geltungsansprüche nicht absolut zu setzen und als unumstößliche Wahrheiten im Raum des Politischen zu verwenden. Anders werden wir auch die gewaltigen Integrationsaufgaben in unserem Land nicht bewältigen können.

Warum im kirchlichen Verlautbarungswesen weniger mehr ist

Wenn ich in diesem Punkt von „weniger“ spreche, so meine ich damit weniger häufig und weniger detailverliebt. Lassen Sie mich diese Überzeugung mit einigen abschließenden Überlegungen untermauern: Zunächst behaupte ich, dass es eine merkliche Kompetenzverschiebung gibt, je mehr Fach- und Sachkunde die Beurteilung bestimmter Entscheidungssituationen erfordert. Gewiss kann eine Kirche unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung der Schöpfung auf den Klimawandel hinweisen. Zur Frage, ob ein Tempolimit ein Mittel der Wahl ist, hat sie aus eigener Kompetenz nichts beizutragen.

Helmut Thielicke verglich die Gebote Gottes einmal mit einer Magnetnadel, die „in dem reich differenzierten Gelände unseres Lebens und unserer geschichtlichen Situation – und also unter Berücksichtigung aller konkreten Gegebenheiten!“ die Richtung weist.[8] Das ist ein einleuchtendes, kräftiges Bild. Es heißt für mich: Die Kirche kann ihren Gläubigen helfen, den Kompass einzunorden. Schon bei der Marschzahl mag es jedoch zu unterschiedlichen Interpretationen kommen. Doch die möglichen Wege und Umwege im Gelände sollte sie sie auf jeden Fall selbst finden lassen. Denn für die kundige Einschätzung dieses Geländes ist kein theologischer Erkenntnisvorsprung ersichtlich.

Etwas mehr Selbstbescheidung wäre eine Referenz ans mündige Kirchenvolk. Genau dies würde auch dem eigentlichen lutherischen Ämterverständnis besser entsprechen. Der langjährige leitende Bischof der VELKD, Hans Christian Knuth, hat es so beschrieben: „Das ideale Modell für den Auftrag der Kirche in Gesellschaft und Politik wird nicht beschrieben durch institutionellen Einfluss, den die Kirche auf andere Institutionen nimmt. Das ideale Modell wäre der mündige Christ, der in seinem jeweiligen Beruf, ob als Soldat, Politiker, Wirtschaftsfachmann, Lehrender, Handwerker oder Publizist seinem Gewissen vor Gott folgt und sachlich fundierte und vor Gott verantwortbare Entscheidungen trifft, ohne dass ihm die Kirche als Institution diese erst vorgeben müsste.“[9]

Nun könnte man argumentieren, dass die diversen kirchlichen Verlautbarungen für Christen in ihren jeweiligen Wirkungskreisen eine Orientierungshilfe sind. Doch trägt es wirklich zur Mündigkeit und Urteilsbildung bei, wenn leitende kirchliche Vertreter mit zum Teil recht entschiedenen Meinungsäußerungen an die Öffentlichkeit treten? Welchen Einfluss hat das kirchenamtliche Verlautbarungswesen eigentlich auf die Partizipation von Christen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs?

Einer, der am Nutzen dieser Orientierungshilfen zweifelt, ist der Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Ethik an der LMU München, Prof. Dr. Reiner Anselm. Er beklagte die „Monopolisierung des innerprotestantischen ethischen Diskurses durch einige in den Medien sehr präsente Amts- und Funktionsträger und die durch den Rat der EKD eingesetzten Gremien“.[10] Laut Anselm „werden die protestantischen Überzeugungen gerade nicht mehr in ihrer Vielstimmigkeit über einzelne Protestantinnen und Protestanten in den politischen Diskurs eingebracht, sondern über die dazu geschaffenen Strukturen“. Diese Praxis hat nach Ansicht dieses Theologen eine durchaus fatale Folge: „Augenblicklich sieht es so aus, dass die starke institutionelle Präsenz der Kirche in öffentlichen Debatten erkauft ist durch eine immer kleinere Zahl von Protestanten, die sich politisch für ihre evangelischen Überzeugungen engagieren.“ Etwas zugespitzt könnte man Fragen: Gewöhnt die Kirche am Ende den Ihren das eigenständige ethische Gewichten und Wägen ab?

Wenn der Nutzen für die Laien schon zweischneidig ist, so fragt sich schließlich, ob denn die Kirchen selbst etwas davon haben? Man muss sich dazu die Wertigkeit dieser Stellungnahmen im politischen Diskurs noch einmal vergegenwärtigen: Wenn wir den Staat und religiös-weltanschaulich neutralen ernst nehmen und wenn wir die Gesellschaft als eine pluralistische, aus vielen Überzeugungen lebende ernst nehmen, dann sind die Kirchen am Ende nicht mehr als ein x-beliebiger zivilgesellschaftlicher Akteur. Das Institut für Demoskopie in Allensbach fragt seit Jahren das Vertrauen in diverse Institutionen in Deutschland ab. Spitzenwerte erzielten zuletzt, im Dezember 2017, mit Werten über 50 Prozent, kleine und mittlere Unternehmen, die Polizei, die Gesetze und Gerichte. Verwaltungen rangierten mit 43 Prozent knapp unter dieser Schwelle. Jedenfalls wenn man „Sehr viel Vertrauen“ und „Ziemlich viel Vertrauen“ zusammenzieht.[11] Und die Kirche? Sie landete mit acht Prozent „Sehr viel Vertrauen“ und 26 Prozent „Ziemlich viel Vertrauen“ auf den hinteren Plätzen, etwa auf dem Niveau von Zeitungen und der Bundesregierung. Wer nun denkt, dies sei eine Momentaufnahme, der irrt. Seit 1991 kreist der addierte Wert um die 35 Prozent. Er ist damit mal etwas besser und mal etwas schlechter als der Wert für die Zeitungen.

Nichts spricht dafür, dass die Kirchen ausgerechnet auf dem politischen Parkett an ihrem Image etwas ändern könnten. Herausragendes Gewicht haben ihre Verlautbarungen zumindest im politischen Diskurs nicht. Denn immer ist es eine Stellungnahme unter vielen. Sie werden möglicherweise zur Referenz, wenn sie politisch gerade passen. Und ansonsten werden sie schlicht so zur Kenntnis genommen, wie vieles andere auch. Eine weitere Stimme im täglichen Informationsstrom. Immerhin: Mit Tempo 130 wird die EKM manches treue Kirchenmitglied auf 180 bringen, wenn es sich herumspricht.

Eigenständige christliche Persönlichkeiten im öffentlichen Leben

Ist das nun ein Appell für den Rückzug in die Innerlichkeit? Ganz sicher nicht. Die Irritationen, die vom Glauben auf das öffentliche Leben ausgehen sind und bleiben wichtig. Doch dazu wünsche ich mir Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben als Christen ihre Frau oder ihren Mann stehen. Und es gibt sie ja. Mit ihren ganz unterschiedlichen Profilen. Es fallen einem ganz viele Katholiken oder Protestanten ein. In unsystematischer Reihenfolge z.B. Hermann Ehlers, Konrad Adenauer, Eugen Gerstenmaier, Gustav Heimann, Johannes Rau, Joachim Gauck, Erhard Eppler, Otto Graf Lambsdorff, Irmgard Schwaetzer, Antje Vollmer, Katrin Göring-Eckart, Heiner Geisler, Lothar de Maiziére, Rainer Eppelmann, Günther Beckstein, Angela Merkel, Volker Kauder, Gottfried Müller, Bernhard Vogel, Christine Lieberknecht, Frank-Walter Steinmeier, auch Bodo Ramelow.

Das alles sind oder waren eigenständige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, von denen jeder einigermaßen interessierte Beobachter weiß: Das sind Christen, so unterschiedlich ihre politischen Antworten ausfallen. Die Kirchenleitungen sollten deshalb darauf vertrauen, dass Christen in ihren jeweiligen Wirkungskreisen selbst um ihre ethische Verantwortung wissen. Sie sollte sich nach meiner festen Überzeugung darauf konzentrieren, Glauben zu wecken, Menschen seelsorgerlich zu begleiten, die leeren Kirchen zu füllen und lebendige Gemeinden zu organisieren. Das schafft mehr Verbindlichkeit und Orientierung als jede Verlautbarung oder politische Aktion. Wer an die Wirklichkeit Gottes glaubt, der wird sein Leben und Handeln auch daran ausrichten. Wer wenigstens einmal die Woche das Vater unser bewusst betet, der weiß sich selbst schon einzuordnen ins Weltgetriebe. Das ist der entscheidende Hebel.

Wenn Kirchen im politischen Raum reden und handeln, dann sollen sie damit einen Raum zur Gewissensbildung eröffnen, indem sie Maßstäbe benennen. Bei der Ableitung politischer Handlungsempfehlungen aus Glaubenssätzen ist Vorsicht geboten, und zwar umso mehr, je konkreter sie ausfallen. Konkreter als Tempo 130 auf Autobahnen geht kaum noch. So sehr ich das Anliegen in der Sache begrüße, unterzeichnen werde ich die Petition nicht. Freies Denken für freie Christen eben.

 

 

[1] Graf, Friedrich Wilhelm: Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München, 2., durchgesehene Auflage 2011, S. 86

[2] Rat der EKD: Das rechte Wort zur rechten Zeit. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Gütersloh 2008, S. 26.

[3] Ebenda, S. 40

[4] Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD (Hg.): Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie: der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 41990, S. 16.

[5] Di Fabio, Udo: Reformationsjubiläum 2017 – Christlicher Glaube in offener Gesellschaft. Drs. IV/5 der 2. Tagung der 12. Synode der EKD, 8.-11.11.2015 in Bremen, S. 3.

[6] Vgl. dazu: Maier, Hans: Welt unter Gott, in: FAZ 21.12.2015

[7] Di Fabio (wie Anm. 5), S. 5.

[8] Thielicke, Helmut: Einleitung zu: Ders. / Schrey, Heinz-Horst (Hg.): Glaube und Handel. Grundprobleme evangelischer Ethik. Texte aus der evangelischen Ethik der Gegenwart (Sammlung Dieterich Band 130), Bremen o.J. (1956), S. XXII f.

[9] Knuth, Hans Christian: Ziel kirchlicher Arbeit ist nicht der institutionelle Einfluss, sonder der mündige Christ, in: Hahn, Udo (Hg.): Protestantismus – wohin? 10 Jahre wiedervereinigte Evangelische Kirche in Deutschland. Bilanz und Ausblick, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 178.

[10] Zitate im gesamten Absatz: Anselm, Reiner: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Herausforderungen dreißig Jahre nach Erscheinen der Demokratiedenkschrift, in: Abmeier, Karlies / Bahr, Petra / Volk, Thomas (Hg.): Monitor Religion und Politik, Sankt Augustin/Berlin 2015, S. 77f. Im Internet: http://www.kas.de/wf/doc/kas_43802-544-1-30.pdf?151221133336

[11] Zitiert nach: Institut für Demoskopie Allensbach / Roland Rechtsschutz-Versicherungs AG: Roland Rechtsreport 2018 (Befragungszeitraum: Dezember 2017) S. 11 und 15f. Im Internet: https://www.roland-rechtsschutz.de/media/rechtsschutz/pdf/unternehmen_1/ROLAND_Rechtsreport_2018.pdf

 

Über Karl-Eckhard Hahn 24 Artikel
Karl-Eckhard Hahn, Dr. phil., Jahrgang 1960, verheiratet, vier Kinder. Historiker und Publizist; Leitender Ministerialrat a.D. Mitgliedschaften (Auswahl): Landesvorstand des Evangelischen Arbeitskreises der CDU Thüringen, Vorstand der Deutschen Gildenschaft, Historische Kommission für Thüringen, Ortsteilrat Stotternheim, Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchengemeinde St. Peter & Paul in Stotternheim. Veröffentlichungen zu politischen Grundsatzfragen, Themen der Landespolitik und Landesgeschichte Thüringens und zur Stotternheimer Lokalgeschichte. X: @KE_Hahn.