Am 6. Juli 2018 ist der Frankfurter Schriftsteller Bodo Kirchhoff 70 Jahre alt geworden. Er zählt mittlerweile zu den erfolgreichen deutschsprachigen Autoren des 21. Jahrhunderts. Sein literarisches Oeuvre umfasst mehr als zwanzig Romane, Novellen und Erzählbände. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat er sieben ansehnliche Literaturpreise erhalten. Für den „Deutschen Buchpreis“ der jeweils bei der Frankfurter Buchmesse für den besten deutschsprachigen Roman verliehen wird, wurde er im Jahr 2012 nominiert. Diese Auszeichnung erhielt er für seinen Roman „Die Liebe in groben Zügen“. Vier Jahre später erhielt er schließlich den „Deutschen Buchpreis“ für seinen Roman „Widerfahrnis“.
Einige Wochen vor seinem siebzigsten Geburtstag erschienen nun seine Memoiren bzw. seine Autobiographie. Sie trägt den Titel „Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre.“ In diesem autobiographischen Roman geht es sehr umfassend um sexuelle Grenzüberschreitungen. Betrachtet man das Werk von Bodo Kirchhoff rückwärts von heute zu den Anfängen unter dem Blickwinkel dieser neuen Offenbarungen, so entsteht der Eindruck, Kirchhoff habe Jahrzehntelang „drumherumgeschrieben“. Der Kenner seines Werkes wird jetzt verblüfft feststellen, dass viele Szenen schon vor Jahrzehnten angedeutet und oft mit ähnlichen Bildern von ihm beschrieben wurden. Dass er sexuell missbraucht wurde, erfuhr die Öffentlichkeit explizit durch einen von ihm verfassten Essay im Spiegel im Jahre 2010 mit dem Titel „Das sprachlose Kind“.
„Verwischte Erinnerungen“ und Spurensuche
Fast alle Menschen, die ein schweres psychisches Trauma erlitten haben, entwickeln Gedächtnisstörungen, die sich sogar in der Bildgebung des Gehirns nachweisen lassen. Das Wiedererleben des Traumas und spezifische Veränderungen der Erinnerungen gehören deshalb auch zu den zentralen Diagnosekriterien einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“. In dem Internationalen Klassifikationsschema ICD-10 ist zu lesen, dass „anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks, Träumen oder Alpträumen) oder eine innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit im Zusammenhang stehen, vorhanden sein müssen“. Bodo Kirchhoff selbst spricht von „verwischten Erinnerungen“. Der Gründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, erkannte bereits vor mehr als einhundert Jahren, dass Menschen besonders belastende Erlebnisse verdrängen oder verleugnen. Verdrängung und Verleugnung wurden später als typische Abwehrmechanismen formuliert, die Angst reduzieren sollen und somit der Angstabwehr dienen. Verkehrung ins Gegenteil, Projektionen und Ungeschehen-machen sind weitere Mechanismen, die bei der Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen eine große Rolle spielen können. Die Erinnerungen, die Schriftsteller in ihren Memoiren oder ihren autobiographischen Romanen wiedergeben, sind also in besonderer Weise über die Zeit verändert und verwandelt worden. Sie liegen zwischen Dichtung und Wahrheit.
Bereits vor fast vierzig Jahren veröffentlichte Kirchhoff im Suhrkamp-Verlag die Erzählung „Die Einsamkeit der Haut“. Der Literaturkritiker Hellmuth Karasek beschrieb den Protagonisten dieser Erzählung mit dem Titel „Narziss im Bahnhofsviertel“. Es geht in diesem frühen Werk von Bodo Kirchhoff um erotische Erkundungen des damals 33-jährigen im Frankfurter Bahnhofsviertel. Es folgten im Jahre 1994/95 die von ihm gehaltenen berühmten Frankfurter Poetikvorlesungen, in denen Kirchhoff ebenfalls sein „sexuelles Trauma“ und sein „Körperschicksal“ andeutete. Seiner Vorlesungsreihe gab er den Titel „Legenden um den eigenen Körper“. Der Roman „Parlando“ aus dem Jahre 2001 ist ebenfalls stark autobiographisch geprägt. Es geht dabei zentral um den Vater-Sohn-Konflikt und um die „rastlose Suche nach Liebe und Sex“. Bodo Kirchhoff wurde in dieser Zeit vor allem vom weiblichen Publikum als „Narzisst, Provokateur und Selbstentblößer“ bezeichnet.
Das öffentliche Missbrauchs-Bekenntnis in einem Spiegel-Essay des Jahres 2010
Im Jahr 2010 wurden in Deutschland zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch aufgedeckt. Eine wahre „Enthüllungswelle“ beschäftigte fast täglich die Medien. Die bevorzugten Tatorte waren katholische Internate und die Odenwald-Schule. Bodo Kirchhoff selbst erwähnte in mehreren Interviews, dass die forcierte Medienberichterstattung zum sexuellen Missbrauch ihn zu diesem Essay angeregt habe. Dieser wurde am 15. März 2010 im Spiegel unter dem Titel „Sprachloses Kind“ veröffentlicht. Der Essay beginnt mit dem Satz „Ich bin missbraucht worden“. Es folgt eine detaillierte Schilderung des sexuellen Missbrauchs, den er als zwölfjähriges Kind in einem Internat erlebt hat:
„Ich war zwölf, ein hübsches Internatskind, und der Heimleiter und Schulkantor, ein Mann wie Winnetou (der meiner Phantasie, bevor es die Filme gab), Anfang dreißig, langes Haar (1960!), Roth-Händle-Raucher, Cabrio-Fahrer, führte mich, weil ich über Kopfweh geklagt hatte, am späten Abend auf sein Zimmer. Dort zog er mir einen gepunkteten Schlafanzug aus – man merkt sich auch das kleinste Detail -, nahm meinen Kopf in die Hände und küsste mich, seine Zunge schmeckte nach Rauch und Odol, unvergesslich. Ich war noch nie so geküsst worden und erwiderte den Kuss, um nicht unhöflich zu sein, aber es war auch ein Bedürfnis, frisch geweckt; und ich dachte, es sei seine Art, Kopfweh zu heilen. Dann streichelte er mein kindliches Ding, es wurde groß und hart, glühend gegen meinen Willen, also schämte ich mich auch glühend, und Winnetou flüsterte mir in den Mund „Dem Schwein ist alles Schwein, dem Reinen ist alles rein.“ Das waren seine einzigen Worte in dieser ersten Nacht von vielen.
Aber mit Streicheln war es nicht getan, er wollte mehr, ich sollte das Stigma der Lust tragen, von ihm empfangen. Er küsste das Harte, er streichelte es, er machte immer weiter, gnadenlos zärtlich, und ich hatte den ersten Orgasmus – von diesem Wort noch viele Jahre entfernt. Ich wusste nicht, was da unten los war, es war der Wahnsinn, wie man heute sagt, damals ein loderndes Rätsel zwischen den Beinen. Aus dem kindlichen Ding war innerhalb einer Nacht ein Schwanz geworden – ich war ein sprachloses Kind mit Schwanz. Und mein Stigmatisierer war ein großartiger Kantor und verdammter Päderast, ein so verdammter Knabenlutscher wie all die Patres, die jetzt auffliegen.“ (Bodo Kirchhoff, Spiegel-Essay von 15.3.2010).
Im weiteren Verlauf des Essays deutet Bodo Kirchhof sein „sexuelles Schicksal“ als ein „viel zu frühes Begehrtwerden, eine Körpererweckung, ohne die Sprache mitzuziehen.“ Den Missbrauchstäter, den Heimleiter und Schulkantor zählt er zu der Gruppe der „Päderasten“. Diese seien unbelehrbar und würden mit ihrem Begehren junge Knaben in den Abgrund reißen:
„Was mir widerfahren ist, waren Doktorspiele, Ferkeleien, unausgegorener Sex, aber gepaart mit stummer Liebe, einem echten Begehren. Und wer begehrt, begehrt, ob Knabenlippen, die Hüften einer Frau oder das Leid des Gekreuzigten wie der Heilige Franziskus. … Die Winnetous oder falschen Pädagogen sind, wie sie sind, sexuelle Freaks im Kleinen, und genau das reichen sie weiter. Keinem der Betroffenen sieht man an, wieviel in ihm kaputt ist, welchen Umfang das Sprachloch hat; jeder hat seine Scheinsprache entwickelt, um mit sich und der Welt klarzukommen.“ (Bodo Kirchhoff, Spiegel-Essay vom 15.3.2010).
„Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre.“ (2018)
Bodo Kirchhoff hatte eine sehr außergewöhnliche Beziehung zu seiner Mutter. Diese war von frühen Kinderjahren an sehr erotisch geprägt, inzestuös und ödipal verstrickt. Seine Mutter war erfolgreiche Schriftstellerin und schrieb selbst 26 Romane, 2 Hörspiele und 30 Erzählungen. Die Mutter ist fast 90 Jahre alt geworden und ist im Jahr 2014 gestorben. Es ist sicherlich kein Zufall, dass ihr Sohn Bodo Kirchhoff seine Memoiren oder seinen autobiographischen Roman erst nach dem Tod der Mutter schreiben konnte. Es sind darin doch sehr viele erotische Szenen mit der Mutter. Im vierten Lebensjahr verbrachte er alleine mit der Mutter einen Sommerurlaub. Dort kam es regelmäßig zu „Schäferstündchen“, in denen der neugierige Sohn als „Ersatz-Partner“ herhalten musste. Die Mutter zeigte ihm ihr Geschlecht und ermunterte ihn zu manuellen sexuellen Stimulationen. Im 10. Lebensjahr erlebte er einen gemeinsamen Urlaub mit seinen Eltern im ligurischen Alassio. Die Kleinfamilie wohnte gemeinsam in einem Hotelzimmer und der junge Bodo wurde Zeuge eines Geschlechtsaktes der Eltern, den er in seinen Memoiren ausführlich beschreibt. Etwa ein Jahr später ließen sich die Eltern scheiden. Der Sohn Bodo hatte bis ins hohe Alter der Mutter eine sehr innige Beziehung zu ihr.
Literatur als Therapie
Der namhafte Schweizer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Adolf Muschg hat im Jahr 1981 ein Buch mit dem Titel „Literatur als Therapie“ veröffentlicht. Hier geht es um die Frage, inwieweit sich schwer geschädigte oder traumatisierte Menschen durch kreatives Schreiben selbst heilen können. Schriftsteller sein erscheint hier als Selbstheilungs-Versuch. Bodo Kirchhoff hat in zahlreichen Interviews diese positive Möglichkeit für sich in Anspruch genommen. Er sagte: „Schreiben ist ein nachgeholter Menschwerdungs-Prozess“. Für ihn sei Schreiben ein „Akt der Reinigung“. Er wusste sehr wohl um sein sexuelles Trauma, aber viele Erinnerungen seien „verwischt“ gewesen. Die vierzig Jahre dauernde Spurensuche wurde zu einer Erinnerungsarbeit – ein Kampf um die Erinnerung. Für Bodo Kirchhoff hat sich dieser Kampf offensichtlich gelohnt.
Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. H. Csef
Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Zentrum für Innere Medizin
Medizinische Klinik und Poliklinik II
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