Seit geraumer Zeit beschäftige ich mit dem Thema Normalität. So wird im Frühjahr 2019 mein Buch zum Thema beim Kulturverlag Kadmos erscheinen (175 Seiten). In meinen Augen hat Normalität im Wesentlichen zwei Funktionen.
Erstens ist sie ein Datenverarbeitungsmechanismus: im Zeitalter von Big Data sehr wichtig. Wenn man etwas sagen kann über einen komplexen Sachverhalt, dann, was er normalerweise ist. Normalerweise schneit es im Januar in Deutschland mehr als im September. Anhand solcher Sätze kann man das ultrakomplexe Thema Wetter und Klima zusammenfassen. Es sind dies an statistischen Mittelwerten und der darum liegenden Standardabweichung orientierte Aussagen.
Der Mensch misst, bewertet, setzt zu einem ungefähren Durchschnitt in Bezug und tätigt dann eine Aussage. So funktioniert das Prinzip Normalität im Wesentlichen.
Zweitens ist Normalität in meinen Augen eine konkrete Fassung dessen, was man recht schwammig als Kultur bezeichnet. Kulturgut ist somit, was in einer Region und Epoche von einer Mehrzahl als normal angesehen wird.
Vom Normalen zum Gesetz
Normalität diffundiert von unten nach oben und hat somit einen basisdemokratischen Anschein. Was eine Zeit lang als normal angesehen wird, bekommt dann normativen Charakter, wird zum geschriebenen Gesetz. Wenn man – aus welchen Gründen auch immer – Homosexualität als nicht normal ansieht, dauert es nicht lange, bis es die ersten Gesetze in diese Richtung gibt. Umgekehrt haben wir in Deutschland eine breitere Fassung dessen, was normal ist, so dass erst die Akzeptanz und danach die rechtliche Gleichstellung der Homosexuellen seit den 1950er Jahren folgte.
Normalität ist mithin im steten Wandel und nichts in Stein Gemeißeltes.
Der Korridor
Oben hatte ich erwähnt, dass Messung und Bewertung sowie In-Bezug-Setzung zu einem Durchschnitt wesentlich für die Festlegung des Normalen sind. Hinzu kommt ein Korridor, ein Toleranzbereich.
Was ist denn greifbarer als Geld, das messbar ist? Jeder Mensch sieht auf seinen Kontoauszügen, was er verdient, setzt sich selbst zum Maßstab, seine Mühen, gemessen in Arbeitsstunden und beäugt jeden kritisch, der wesentlich mehr verdient.
Jürgen Link, der als Vorreiter der Normalitätsforschung gilt, unterschied zwischen flexiblem Normalismus und Protonormalismus. Es geht dabei im Wesentlichen darum, wie starr oder dehnbar dieser Korridor des Akzeptablen ist.
Friedrich Merz
In einer anderen Kolumne machte ich keinen Hehl daraus, dass ich Friedrich Merz für einen wesentlich besseren Kanzler hielte als Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn – und dies nicht, weil er weniger als 10 Kilometer entfernt von mir wohnt. Aber, was abzusehen war, wird jetzt thematisiert. Merz hat jenseits des als akzeptabel hingenommenen Korridors in den letzten 10 Jahren Geld verdient. Ihm wird allen Ernstes zur Last gelegt, dass er ein Flugzeug besitzt. Nun handelt es sich bei dem Modell um eines, das sich jeder zweite Zahnarzt und jeder dritte Notar in unserer Stadt ebenfalls leisten kann, ganz zu schweigen von Fußballprofis.
Die geilsten Phantasien gehen mit den Leuten durch, was Merz denn vielleicht an Vermögen haben könnte. Stets wird so argumentiert, dass er ja auch kaum mehr als 90 Stunden die Woche arbeiten könne. Wenn also eine Krankenschwester mit 2000 Euro netto pro Monat nach Hause geht nach einer 45 Stunden Arbeitswoche, darf wohl niemand mehr als 4000 verdienen.
Der tolerierte Korridor mag vielleicht etwas mehr zulassen, aber jenseits der 10000 Euro netto hört schnell das Verständnis auf.
Ein Politiker einer Volkspartei muss den Median-Wähler treffen, er muss von diesem Otto-Normal-Menschen ebenfalls als normal erkannt und akzeptiert werden. Bei Geld hört schnell die Freundschaft auf.
Jürgen Klopp
Als Jürgen Klopp vor ziemlich genau drei Jahren in der Malocher-Metropole Liverpool als Trainer anheuerte, tat er das mit den Worten „I am the normal one“. Er liegt also im Korridor des Akzeptierten, anders als vielleicht „the special one“ Jose Mourinho. Was ist denn so normal an Klopp? Seine Bezahlung nicht. Er wird mit Sicherheit das fünf- bis zehnfache von Merz verdient haben, das nicht zuletzt durch Produktwerbung für als normal geltende Waren (Autos, Biere….).
Im Gegensatz zu Merz und Merkel hängt von Klopps Taktik und Strategie nicht ab, ob in Deutschland eine Million Jobs entstehen oder verschwinden. Eigentlich sind Politiker unterbezahlt.
Merkel und AKK
Was die Kanzlerin und Kramp-Karrenbauer eint, ist ihr Gespür dafür, als normal durchzugehen. Während Merz sturz- und stotterfrei über die Weltpolitik parliert, wirken AKK und Merkel so, als hätten sie einen Volkshochschulkurs für Anfänger in Rhetorik besucht und mit mäßigem Erfolg abgeschlossen. Ihre Kleidung ist nicht gerade elegant, eben normal.
Ist das Masche? Mir sind gute Politiker lieber als solche, die besonders viel Wert darauflegen, als normal und bodenständig zu gelten. Natürlich ersehnt sich der Normalo zumindest hierzulande einen biederen Kandidaten. Aber ist das nicht bloß Fassade? Vielleicht – und das vermute ich – haben wir es bei AKK und Merkel mit solchen zu tun, die ihre zur Schau getragene Normalität nur als Mittel zum Zweck der Wahl beim Wähler einsetzen. So denke ich an das Ende des Films „die üblichen Verdächtigen“ mit Kevin Spacey in der Rolle des scheinbaren Trottels, der sich eine Geschichte überlegt und mit seiner bräsigen Biederkeit die Polizisten um den Finger zu wickeln vermag.
In Wirklichkeit war die gespielte Harmlosigkeit nur ein Täuschungsmanöver, um den Verdacht von sich abzulenken. In einem Land wie unserem, da ein nicht als normal wahrgenommener Kandidat abgestraft wird, eine kluge Taktik. Bringt es gute Ergebnisse hervor? Eher nein. 1993 durfte die SPD-Basis abstimmen. Gerhard Schröder galt als abgehoben, ließ er sich vor dem Hannoveraner Schloss ablichten. Er verlor gegen Normalo Rudi Scharping. Rudi Scharping?
Solch ein Kandidat kommt heraus, wenn man den Normalo will.