Der 1990 in Neuchâtel verstorbene schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (geboren 1921) hinterließ ein breit gefächertes Werk: Theaterstücke, Hörspiele, Romane, Erzählungen und Essays. Vor allem einer seiner Texte ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben: die Erzählung Der Tunnel. Sie erschien erstmals 1952, in der bearbeiteten Fassung 1978.
Steigen wir in einen Eisenbahnzug nach Zürich, wie es der vierundzwanzigjährige Student der Geschichte an einem Sonntagnachmittag tut. Lassen wir nun etwa zwanzig Minuten Fahrtzeit vergehen, wobei wir uns dessen erfreuen, was zwischen Alpen und Jura vom Fenster aus zu betrachten ist. Nach Verstreichen dieser Frist fährt unser voll besetzter Zug gleich nach Burgdorf im Kanton Bern in einen Tunnel. Bis jetzt verläuft alles ohne Besonderheiten.
Doch rasch bildet sich ein merkwürdiger Eindruck: Die Durchfahrt, normalerweise so kurz, dass nicht einmal Licht eingeschaltet wird, dauert und dauert. Eben leuchtete noch die Sonne, nun herrscht ungewöhnlich lange währende Finsternis. Das Auftauchen der natürlichen Helle am Tunnelende bleibt aus, Glühbirnen leuchten mittlerweile. Wir – und der junge Mann − werden unruhig. Die Mitreisenden hingegen zeigen keinerlei Anzeichen von Irritation, was zu unserer Überraschung auch von dem Schaffner gilt. Besorgt kämpfen wir uns durch die Menschenmenge, um den Zugführer zu sprechen. Dieser gibt allerdings lediglich zu, dass der Tunnel nicht aufhört; ansonsten bringt er wenig Verständnis für unser Missbehagen auf und heißt uns, mit in den Maschinenraum zu gehen. Dort angelangt, erklärt er, er wisse nicht, warum er uns habe mitgehen lassen, er habe sich nur ein wenig Zeit für Überlegungen schaffen wollen. Die Zeiger auf unserer Uhr rücken immer weiter. Längst hätten wir in Olten sein müssen. Stattdessen rasen wir noch immer mit Getöse durch den dunklen Tunnel. Da bemerken wir zusammen mit dem Zugführer, dass der Führerstand leer ist. Die Betätigung an sich geeigneter Hebel bringt die Maschine nicht zum Stehen. Im Gegenteil: Die Geschwindigkeit des Zuges nimmt immer weiter zu. Und als wäre alles noch nicht schlimm genug, erfahren wir, dass der Lokomotivführer und ebenso der Mann vom Packraum schon vor geraumer Zeit abgesprungen seien. Er selbst, sagt der Zugführer, sei geblieben, da er Hoffnung nie gekannt habe.
Ab hier variieren die beiden Fassungen der Erzählung. Ich folge zunächst der Version von 1952. (1)
Es gibt keinen Zweifel mehr: Wir stürzen „in unseren Abgrund“, rasen „in fürchterlichem Sturz dem Innern der Erde“ zu, „diesem Ziel aller Dinge“. Es mag uns nicht anders ergehen als dem Vierundzwanzigjährigen, den nur noch wenig von der unermesslichen Tiefe trennt und der „den Abgrund gierig in seine nun zum erstenmal weit geöffneten Augen sog“. Auf die wiederholte verzweifelte Frage des Zugführers, was man tun könne, antwortet er, nun seltsam gefasst: „Nichts“. Und „ohne sein Gesicht vom tödlichen Schauspiel abzuwenden, doch nicht ohne eine gespensterhafte Heiterkeit“ spricht er den letzten Satz: „Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.“
Eine höchst sonderbare, eine surreale Geschichte. Wie hat Dürrenmatt den Text verändert, der 1978 veröffentlicht wurde? Es fehlen die oben zitierten Worte: „in unseren Abgrund“, „diesem Ziel aller Dinge“, „gierig“, „tödlichen“ (Schauspiel) und der gesamte letzte Satz; die zweite Version endet mit der Antwort: „Nichts.“ (2)
Diese Abweichungen sind meines Erachtens höchst interessant; denn der Vergleich der beiden Fassungen ruft die theologische Tradition auf den Plan, genauer: das Denkmodell der apophatischen Theologie. (3) Diese problematisiert das Sprechen über das Göttliche und sucht nach einer angemessenen Ausdrucksweise für das, was sowohl der sinnlichen Anschauung als auch der Verstandestätigkeit als das ganz Andere, Transzendente, gegenübersteht. Als Hauptvertreter des apophatischen Modells gilt Dionysius Areopagita, ein unbekannter christlicher Autor aus der Zeit um 500 n. Chr. Er unterschied die Methode der Bejahung, der Kataphasis, von der der Verneinung, Apophasis. Von Gott lassen sich demnach alle Merkmale aussagen, bejahen, die auch dem Seienden zukommen, weil er dessen Schöpfer sei, also in einem wesensmäßigen Bezug zur Schöpfungsordnung stehe. Zutreffender sei es freilich, sämtliche positiven Kennzeichen zu verneinen, da Gott als Schöpfer zugleich alles von ihm Geschaffene grundsätzlich überbiete. Man spricht deshalb in diesem Zusammenhang auch von negativer Theologie.
Die geistigen Wurzeln des apophatischen Denkmodells reichen hinter Dionysius Areopagita zurück bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert. Der neuplatonische Philosoph Plotin (203−270) sah „das Eine“ als Größe jenseits des Denkens, so dass es nicht erkennbar sei und von ihm nicht zutreffend geredet werden könne. An diesen Gedanken knüpfte der Areopagit an.
Aufschlussreich ist nun, dass in der frühen Variante der Erzählung Dürrenmatts Kerngedanken der apophatischen oder negativen Theologie anklingen. So identifiziert der Verfasser den Abgrund, auf den die Reisenden zurasen, ausdrücklich mit Gott, der zugleich als Ziel menschlichen Lebens erscheint. Die Adjektive fürchterlich und tödlich verdeutlichen die fundamentale Differenz zwischen Endlichem und Unendlichem, Irdischem und Göttlichem. Die Worte sind hier nicht negativ konnotiert, wie das bewusste, ja gierige Annehmen der Tiefe bezeugt, dem zudem mit den zum erstenmal weit geöffneten Augen Erkenntnisrang zukommt. Die Sinnhaftigkeit der zunächst chaotisch anmutenden Tunnelfahrt, die sich unschwer als Metapher des Lebensweges deuten lässt, erhellt das eigentliche Anliegen des Modells der Apophasis oder Negation. Denn es geht bei der zentralen Unterscheidung von Menschlichem und Göttlichem letztendlich um die Abkehr vom Weltlichen und ein mystisches Sich-Erheben zur ekstatischen Verschmelzung des Menschen mit dem Einen, mit Gott als Urgrund allen Seins.
In der späten Fassung tilgt Dürrenmatt die theologischen Bezüge, anders formuliert: er kleidet sie in ein säkulares Gewand. Das erzählerische Element der Heiterkeit behält er zwar bei, aber es atmet nicht mehr den Geist des Einverständnisses mit dem Sturz in die göttliche Tiefe, gar dessen Herbeisehnens. Es ist vielmehr eine illusions- und grundlose Stimmung angesichts des keinen erkennbaren Sinn aufweisenden Nichts, dem der Mensch ausgeliefert ist. In dem neuen Kleid erscheint das Dasein als unverständliches, absurdes Geschehen, und das Ende ist ein fürchterlicher Sturz bar jeder Hoffnung.
QUELLENANGABEN:
(1) Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel, in: Konturen I. Erzählende Prosa der
Gegenwart aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, hrsg. v.
Ivo Braak, Kiel 1963, Seiten 185-192
(2) Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel, in: Gesammelte Werke, Band 5,
Erzählungen, Zürich 1996, Seiten 215-230
(3) vgl. Douglas B. Farrow, Apophatische Theologie, in: Religion in
Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Band 1, hrsg. v. Hans Dieter Betz
u.a., Tübingen 1998, Spalten 633/634